P. Marx: Bürgerliche Selbstinszenierungen

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Titel
Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen von 1870 bis 1933


Autor(en)
Marx, Peter W.
Erschienen
Tübingen 2008: A. Francke Verlag
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hansjakob Ziemer, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin

In der neueren Forschung haben Historiker das Theater und das Theatralische als Themen für die neue Kultur- und Politikgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in unterschiedlicher Weise entdeckt.1 Vor diesem Hintergrund hat der Theaterwissenschaftler und -historiker Peter W. Marx ein reichhaltiges Buch über die Beziehung von Theater und Gesellschaft um 1900 geschrieben, in dem er die „Identitätspolitik“ in Theatern und in theatralen Praktiken untersucht und mit kulturwissenschaftlichen Fragen verbindet. Mit Hilfe von Performanz-, Waren- und Bildtheorien geht Marx davon aus, dass das „Theatralische“ nicht nur metaphorische Bedeutung im politischen Diskurs besaß; vielmehr sieht er darin eine „Denkfigur mit weitreichenden Implikationen“ (S. 45). Das Theater und das Theatralische, verstanden als verfügbare soziale Zeichen, wurden aus seiner Sicht zum „zentralen Ort und konstitutiven Medium [der] dynamischen Gesellschaft“ (S. 43). Damit folgt er einem aktuellen historiographischen Trend, Vermittlungsinstitutionen der Kultur wie Theater, Oper, Museum oder Konzert in den kulturellen, sozialen und politischen Kontext einzuordnen.

In fünf Kapiteln geht Marx über die Definition des Theaters als moralische Anstalt und als Nationaltheater hinaus und schildert die unterschiedlichen sozialen Funktionen, die das Theatralische um 1900 ausfüllte. Im Sinne einer langen Jahrhundertwende beschränkt er sich nicht auf die Jahre um 1900, sondern verfolgt die „genealogischen Linien“ (S. 48) der Bühnengeschichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Marx geht von der Theaterwelt mit ihren Texten, Inszenierungen, populären und professionellen Aufführungsformen und Schauspielerkarrieren aus und untersucht, mit welchen Bildern und Vorstellungen man sich Theaterstücke aneignete. In den ersten beiden Kapiteln zeigt Marx anhand von Beispielen von Aneignungen im professionellen Theater, in der Literatur, in populären Masseninszenierungen oder im Film, wie sich kanonische Texte wie „Wilhelm Tell“, „Nathan der Weise“ oder „Der Kaufmann von Venedig“ zur affirmativen Identifikation oder zur Feindbildprojektion eigneten. In den beiden folgenden Kapiteln wendet sich Marx der Populärkultur zu und untersucht, wie die Bauern- und Volkstheater zu Orten sinnlicher Erfahrung wurden, in denen das Physische im Mittelpunkt stand und zu einer Alternative der Moderne der Metropolen wurde, auch unter Bezugnahme auf das Autochthone. In dem Kapitel „Parvenupolis“ widmet sich Marx der Großstadtkultur und schildert am Beispiel des Berliner Lessingtheaters, wie Theater zu kommerziellen Räumen und wie umgekehrt Warenhäuser zu Orten der Unterhaltung und der Kunst wurden. Im letzten Kapitel zeigt Marx schließlich anhand von Theaterinszenierungen, Zirkuspantomime, Ausstellungen und Herrschaftsinszenierungen Wilhelms II., wie das Spektakel durch politische Absichten und kommerzielle Verwertung zu einem „Motor gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe“ (S. 350) wurde.

Marx beschreibt den Aufstieg einer neuen Form von Öffentlichkeit, die nicht als exklusiv für die höher gestellten Schichten galt. So verbindet er nicht nur die scheinbar getrennten Sphären von Populär- und Hochkultur; er verweist auch auf den integrativen Charakter von Bühnenerlebnissen, die Formen sozialen Zusammenhalts in Zeiten rasanten Wandels schufen. Marx führt beispielsweise vor, wie die Figur des Shylock aus dem „Kaufmann von Venedig“ für Identitätspolitik genutzt werden konnte. Das Theatralische konnte mit Vorstellungen „ethnischer Prädisposition“ verbunden werden und eignete sich, um Grenzen von Minoritäts- und Majoritätskultur neu zu definieren. Jüdische Figuren wurden in den kulturellen Mainstream aufgenommen, indem die kulturellen und sozialen Unterschiede zur Mehrheitsgesellschaft metaphorisiert wurden. Das Marginale der jüdischen Existenz konnte mit dem Theatralischen dargestellt werden und antisemitische Stereotypen entstanden daher nicht nur als eine Reaktion auf die Auswirkungen der Moderne, sondern als Teil einer sozialen und kulturellen Vorstellungswelt. Eine solche theatralische Beschäftigung mit dem Jüdischen deutet Marx als ein Symptom der modernen Gesellschaft, in der symbolische Aushandlungsprozesse über die eigene kulturelle Pluralität und damit über Minoritäten angesichts der wachsenden sozialen Mobilität zu einer immer größeren Herausforderung wurden.

Marx entwirft ein facettenreiches Bild, das aus einer Fülle von Einzelbeispielen besteht, ohne dass sich allerdings immer ein klarer Zusammenhang zwischen diesen „Miniaturporträts exemplarischer Protagonisten“ (S. 50) herstellen lässt. Trotz des Materialreichtums bleiben Zweifel, wie weit Marx´ These eines „theatralischen Zeitalters“ für die Zeit um 1900 reicht. Marx sucht die Verbindung zwischen Theater und Gesellschaft vor allem in der diskursiven Rekonstruktion zirkulierender Waren und Bilder, aber weniger in den dramatischen Akten gesellschaftlicher Akteure außerhalb des Theaters. Zwar geht Marx auf Phänomene außerhalb der Theaterbühne ein und interpretiert etwa Herrschaftsinszenierungen des deutschen Kaisers; aber worin bestand hier das historisch Besondere? Dass die Gesellschaft um 1900 eine Sensibilität für performative Kultur hatte, war keineswegs einzigartig. Formen der Präsentation, verstanden als ein Merkmal performativer Kulturen, spielten eine zentrale Rolle genauso in griechischen Stadtstaaten wie in der barocken Hofkultur, in der Geschichte der Diplomatie genauso wie in der Französischen Revolution. Dabei hätte gerade der Blick auf die politische Kultur im Kaiserreich die Befunde von Marx historisieren können: öffentliche Demonstrationen und Kampagnen, die Zunahme von Gewalt in den politischen Auseinandersetzungen, der neue Populismus unter Politikern, der Aufstieg der Presse oder die wachsende öffentliche Anteilnahme an Gerichtsprozessen und Kriminalität sind nur einige Beispiele für eine Kultur, in der öffentliche performative Akte, wie Charles Maier schreibt, kollektive Themen regulierten.2 Selbst in dem anregenden Kapitel über Warenhäuser bleiben die Akteure im Hintergrund. Ob das Theatralische wirklich konstitutiv für die Gesellschaft war und gar ein Zeitalter maßgeblich bestimmte, wie Marx behauptet, hätte ein Blick auf die Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Modi der politischen Auseinandersetzungen zeigen können, die über das Ökonomische des Schauwerts hinausgingen. Es bleibt weiteren kulturhistorischen Studien vorbehalten, die Dramatisierung zu untersuchen, mit der sich die soziale Interaktion in den Metropolen organisierte, und festzustellen, wo die Grenzen des Theatralischen lagen. Peter Marx hat für eine solche Geschichte wertvolle Ansatzpunkte geliefert.

Anmerkungen:
1 Siehe beispielsweise: Martin Baumeister, Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914-1918, Essen 2005; David Blackbourn, Politics as Theatre: Metaphors of the Stage in German History, 1848-1933, in: Ders. (Hrsg.), Populists and Patricians. Essays in Modern German History, London 1987, S. 246-264.
2 Vgl. Charles Maier, Mahler’s Theater: The Performative and the Political in Central Europe, 1890-1910, in: Karen Painter (Hrsg.), Mahler and His World, Princeton 2002, S. 55-87, hier S. 58.