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Titel
Wandel ohne Annäherung. Die SPD und Frankreich in der Phase der neuen Ostpolitik 1969-1974


Autor(en)
Bernath, Markus
Reihe
Nomos Universitätsschriften Geschichte 14
Erschienen
Baden-Baden 2001: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
390 S.
Preis
€ 51,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Hiepel, Universität Essen FB 1 - Geschichte

Die „neue Ostpolitik“ der sozialliberalen Koalition kann als ein ebenso gut erforschter wie kontrovers diskutierter Aspekt der deutschen Nachkriegsgeschichte gelten. Die Debatte wird nun um eine weitere, nicht unwesentliche Facette ergänzt. Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit dem Verhältnis von deutscher Sozialdemokratie und Frankreich in den entscheidenden Jahren von 1969 bis 1974.

Aus einer politikwissenschaftlichen Dissertation an der Berliner FU hervorgegangen, versteht sie sich zugleich als geschichtswissenschaftliche Untersuchung. Ihr alles in allem negatives Ergebnis wird im Titel im Grunde genommen vorweggenommen. In Anlehnung an das berühmte entspannungspolitische Diktum Egon Bahrs vom „Wandel durch Annäherung“ wird ein „Wandel ohne Annäherung“ in den deutsch-französischen Beziehungen konstatiert oder besser gesagt in den Beziehungen zwischen der deutschen Sozialdemokratie und der französischen „politischen Klasse“.
Dieser auf den ersten Blick unpassend anmutende Vergleich macht durchaus Sinn, sind doch Rolle und Einfluss von Parteien im französischen Präsidialsystem kaum mit der deutschen Parteiendemokratie zu vergleichen.

In Deutschland änderten sich mit dem Regierungswechsel 1969 außenpolitischer Stil und Zielrichtung. Die Westpolitik und die Politik der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland waren in besonderem Maße christdemokratisch geprägt und häufig gegen heftigsten Widerstand der SPD durchgesetzt worden. Die Hauptthese Bernaths lautet daher: Die Außenpolitik der Regierung Brandt – Scheel unterschied sich grundlegend von der Außenpolitik der Vorgängerregierungen, weil sie von einem genuin sozialdemokratischen Konzept und Verständnis geprägt war.

Die SPD als innenpolitisch orientierte Reformpartei wies demnach einen Mangel an außenpolitischer Klarheit auf. Sie dachte in Kategorien einer Weltordnungspolitik: systemorientiert und über Nationalstaaten hinausgreifend sowie tendenziell utopisch. Sie unterschied sich damit von einer christdemokratischen Realpolitik, die wiederum dem traditionellen französischen Verständnis von Außenpolitik näher stand, wie es auch in der nachgaullistischen Ära unter Georges Pompidou gepflegt wurde. Außenpolitik wurde als Geopolitik begriffen, als Machtpolitik, die in erster Linie nationalen französischen Interessen diente. Daraus resultierte ein tiefgreifendes grundlegendes Missverständnis, das vor allem in den Gesprächen auf höherer Ebene subkutan blieb, aber um so wirksamer war.

Zum Beleg dieser These holt Bernath weit aus: Der erste Teil der Darstellung behandelt die Vorgeschichte der Beziehungen zwischen SPD und Frankreich, die Erfahrungen des Exils und die „Hypothek“ der antifranzösischen Politik Schumachers. Zudem wird die Perzeption des jeweiligen Nachbarn durch die Hauptakteure Brandt und Egon Bahr auf der einen Seite sowie Pompidou und seinem langjährigen Berater und kurzzeitigen Außenminister Michel Jobert auf der anderen Seite herausgearbeitet. Im zweiten und dritten Teil widmet sich die Darstellung dem eigentlichen Thema, der neuen Ostpolitik in den deutsch-französischen Beziehungen und dem geopolitischen Diskurs darüber. Hier werden die unterschiedlichen Traditionen in der Bewertung des Kalten Krieges und der Entspannung analysiert sowie die Europapolitik dieser Jahre, die Bernath lediglich als einen „Ersatzschauplatz“ für die Austragung der unterschwelligen Konflikte betrachtet.

Im weiteren Verlauf werden in einem theorieorientierten Teil Betrachtungen über die „liberale Fundierung“ der neuen Ostpolitik angestellt, und es wird das Verhältnis SPD – Frankreich vor dem Hintergrund der Vereinigung der beiden deutschen Staaten beleuchtet. Insgesamt durchzieht die Darstellung ein leicht polemischer Ton, der vor allem in diesem Teil den „Sozialarbeitern“ der SPD gilt, den vermeintlich missionarisch eifernden Gesinnungslinken und ihrem Mangel an Denken in nationalstaatlichen Kategorien. Ein schwacher Trost kann hier nur sein, dass Bernath eine polemische Äquidistanz auch zu den „Historiendarstellern“ in Frankreich einnimmt. Insgesamt stehen solche Urteile jedoch symptomatisch für die Mängel dieser Untersuchung.

Der grundlegende Befund kann nun wirklich nicht als neu bezeichnet werden: Dass die französische Regierung offiziell die Ostpolitik der Regierung Brandt – Scheel unterstützte, während hinter den Kulissen Vorbehalte virulent blieben gegenüber dem wirtschaftlichen Riesen Deutschland, der sich nun von seiner Rolle eines politischen Zwerges zu emanzipieren trachtete, ist in der einschlägigen Literatur nachzulesen. Dass Willy Brandt den Rückhalt der Alliierten für seine Ostpolitik benötigte und er überdies um die besondere Bedeutung der deutsch-französischen Entente wusste, ist beinahe schon ein Allgemeinplatz.

Die von Bernath unterstellte Funktionalität der West- und Europapolitik im Hinblick auf die „neue Ostpolitik“ ist damit jedoch noch lange nicht bewiesen. Dass Brandt und Pompidou kein herzliches Verhältnis verband, dass ein tieferes Verständnis des jeweiligen Nachbarn nicht vorhanden war, mag so gewesen sein. Dennoch weist die „Ära Brandt-Pompidou“ eine Erfolgsbilanz auf, die sich durchaus sehen lassen kann: eine Verständigung mit dem Osten ohne den westlichen Nachbarn zu vergrätzen sowie eine Europapolitik, die erstmals nach den Jahren der Blockade unter de Gaulle und der Intransigenz der Regierungen Erhard und Kiesinger wieder den Namen verdiente.

Überhaupt ist die oberflächliche Behandlung der Europapolitik besonders ärgerlich. Alte Vorurteile und Mythen werden neu belebt, ohne sich den Mühen eigener Quellenrecherchen zu unterziehen. So diente die 1969 angestrebte Wirtschafts- und Währungsunion beileibe nicht allein dem Ziel, Frankreich von der Einbindung in Westeuropa zu überzeugen, ebenso wenig wie Kohl den Vertrag von Maastricht aus diesem Grund unterschrieb. Der Verfasser berücksichtigt in keiner Weise, dass die europäische Integration keine deutsch-französische Veranstaltung war. Sicherlich trägt ein bilateraler Ansatz, zumal wenn er sich auf die Hauptakteure beschränkt, zu solch verengten Blickwinkeln bei. Zumindest vorsichtigere Urteile wären in diesem Fall aber angebracht.

Dem Verfasser sei zugute zu halten, dass die Quellenmasse auch für den behandelten Zeitraum enorm ist. Er versucht sie in den Griff zu bekommen, indem er sich bewusst mit einer nicht systematischen Auswahl begnügt. Nicht Repräsentativität, sondern Zuspitzung und schlaglichtartige Beleuchtung interessieren Bernath. Schriftliche Quellenbestände der Parteigremien der SPD sowie einiger ihrer Vertreter in europäischen Institutionen werden herangezogen. Hinzu kommen – vor allem auf französischer Seite – Äußerungen der „politischen Klasse“. Zur Deutung des Verhältnisses Pompidou-Brandt werden die Gesprächsprotokolle der Gipfeltreffen herangezogen.

Ein bermäßig breiter Raum aber wird den Erinnerungen von Zeitzeugen eingeräumt. 18 an der Zahl hat Bernath für seine Untersuchung interviewt, darunter so prominente wie Michel Jobert oder Hans Apel, den damaligen Staatsekretär im Auswärtigen Amt, aber auch weniger bekannte Mitarbeiter der SPD wie Hans-Eberhard Dingels und Veronika Isenberg – außen- bzw. europapolitische Experten der Partei. So ungemein interessant ihre Beobachtungen, Erinnerungen und Interpretationen ja sein mögen, sie wären auf jeden Fall in methodischer Hinsicht mit größerer Sorgfalt zu behandeln als es in dieser Untersuchung geschieht. Historisches Erinnern ist subjektiv, vielleicht beschönigend, vielleicht ungenau. Es gleichsam für bare Münze zu nehmen und daher auf eine Verifizierung durch schriftliche Zeugnisse zu verzichten, ist sicherlich ein schweres Versäumnis.

Grundlegende Thesen und Urteile der Darstellung beruhen aber auf den Äußerungen der Interviewpartner, ganze Passagen leben allein von den Erinnerungen der Beteiligten. Das gilt z. B. für die sicherlich hochinteressanten Beziehungen zwischen SPD und gaullistischer UDR, die hier erstmals näher beleuchtet werden. Mitunter kommen gar nicht näher bezeichnete ominöse Beobachter der Ost-West-Gespräche aus der SPD zu Wort. Man mag in dieser eher an journalistische Recherche erinnernden Vorgehensweise durchaus Vorteile erkennen, so liest sich die Arbeit zumindest in der ersten Hälfte sehr flott. Die Untersuchung besticht durchaus durch interessante Beobachtungen und Wertungen, so bspw. zum historischen Sendungsbewusstsein der SPD, das sich – wie ein überraschender und bedenkenswerter Befund der Studie lautet – strukturell nicht vom Sendungsbewusstsein der französischen Kulturnation unterschied. Bernath ist gut mit der politischen und intellektuellen Szene beider Länder vertraut – eine Kombination, die man nicht häufig antrifft – verspielt jedoch den Eindruck einer wirklich profunden und überzeugenden Studie durch methodische Mängel und überspitzte Polemik.

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