Titel
Berlin & Tokyo - Theater und Hauptstadt.


Autor(en)
Itoda, Soichiro
Erschienen
München 2008: Iudicium-Verlag
Anzahl Seiten
305 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Becker, Friedrich Meinecke Institut, Freie Universität Berlin

Während in Berlin die Theaterbauten der Jahrhundertwende auch heute noch das Stadtbild prägen, haben sich in Tokyo nur wenige der zu gleicher Zeit noch immer aus Holz gebauten Theater erhalten. Für die Geschichte urbaner Vergnügungskultur sind sie aber nicht weniger wichtig, wie die Aufnahme einer lebensgroßen Replik des Nakamuraza Theaters (eines typischen Kabuki-Theaters) ins Edo-Tokyo-Museum belegt. Dennoch mutet eine vergleichende Geschichte der Theaterlandschaften von Berlin und Tokyo von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den 1930er-Jahren aufgrund der zahlreichen Unterschiede zunächst tatsächlich wie der „kühne Versuch“ an, als den der Verlag das Buch anpreist. Dieser Versuch ist – soviel vorab – im Fall von „Berlin & Tokyo – Theater und Hauptstadt“ allerdings vollständig gelungen.

Soichiro Itoda, Professor für Germanistik an der Meiji-Universität Tokyo, nähert sich seinem Gegenstand buchstäblich aus der Vogelperspektive, indem er anhand verschiedener Stadtpläne – einer zentralen Quelle der Studie – die Ausgangsbedingungen der Theaterentwicklung beschreibt. Im daran anschließenden Kapitel geht er auf die Folgen der Liberalisierung der Theatergesetzgebung ein, die sich im Norddeutschen Bund und in Japan nahezu zeitgleich (1869, respektive 1872) vollzog. Sie beendete zwar nicht die Zensur, brachte aber die Monopolstellung der Berliner Hofbühnen zu Fall, denen mit den überall aus dem Boden sprießenden Theaterbauten erstmals eine wirkliche Konkurrenz erwuchs. Diese quantitativ dominierenden, von der Wissenschaft aber oft vernachlässigten „Geschäftstheater“ sind der eigentliche Untersuchungsgegenstand der Studie. Waren in Tokio vor der Liberalisierung Theater auf ein bestimmtes Stadtviertel und die erblichen Konzessionen auf lediglich drei Familien beschränkt gewesen, setzte nun auch hier ein Theaterboom ein. An beiden Orten aber wurde durch die Unterstellung der Theater unter die Gewerbeordnungen dessen Kommerzialisierung eingeläutet. Dieser theatrale Freihandel sah sich allerdings bald schon wieder durch neue Reglementierungen gehemmt, wie Itoda im folgenden Kapitel anhand der Gesetzgebung und den oft im internationalen Austausch geführten Debatten von Stadtplanern, Architekten und Hygienikern über die Sicherheit der Gebäude aufzeigt.

Herzstück des Buches bilden dann das vierte und fünfte Kapitel, in denen Itoda die Entwicklung der Theaterlandschaften mit Hilfe von jeweils acht chronologisch aufeinander folgenden Karten nachzeichnet. Aus diesen geht nicht nur die rasant steigende Zahl der Spielstätten, sondern auch ihre Verteilung über die Bezirke sowie deren Konzentration in bestimmten Gebieten (dem Berliner Westen bzw. dem Asakusa Viertel) hervor. Immerhin belegt Itodas Statistik für Berlin einen Niedergang des Geschäftstheaters in den 1920er- und 1930er-Jahren, dem er in den beiden abschließenden Kapiteln auf den Grund geht.

Wie die Ausstellung „Berlin Tokyo, Tokyo Berlin – Die Kunst zweier Städte“ im vergangenen Jahr in der Berliner Nationalgalerie, so konfrontiert auch Itoda den Leser mit einer Fülle verblüffender Gemeinsamkeiten und wechselseitiger Einflüsse. Gerade die vergleichende Perspektive erweist sich als einer der großen Vorzüge der Studie. Während Tokyo schon im 18. Jahrhundert mit über einer Million Einwohner eines der am stärksten entwickelten urbanen Zentren der Welt war, übersprang Berlin die Millionengrenze erst nach der Reichsgründung. Wie aus der Studie deutlich wird, waren sich Berlin und Tokyo aber vielleicht nie ähnlicher als um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als beide Städte tief greifende Umwälzungen und die Herausbildung einer modernen Metropolenkultur erlebten. Der Vergleich gelingt aber auch deshalb, weil Itoda die beiden Teile erzählerisch geschickt verbindet. Während Vertreter der historischen Komparatistik oft zwei Studien in einer schreiben und nur im Schlusskapitel wirklich vergleichen, beleuchtet er in jedem Kapitel immer beide Städte und stellt Unterschiede und Gemeinsamkeiten unmittelbar gegenüber, wodurch oft neue Fragen aufgeworfen werden.

Was den Vergleich schließlich abrundet, sind die zahlreichen Kulturtransfers, die Itoda aufdeckt ohne sie jedoch als solche zu bezeichnen. Bei diesen Transfers handelt es sich in erster Linie um Anleihen von japanischen Beobachtern wie z.B. den Mitgliedern der Iwakura-Mission, die im offiziellen Auftrag nach Europa reisten, um sich nach Rezepten für die Modernisierung Japans umzusehen. Preußen und Berlin spielten dabei bekanntlich eine wichtige Rolle. Neben dem bürgerlichen Gesetzbuch wurden die für die Theatergeschichte so wichtige Gewerbeordnung und die Polizeibestimmungen in Japan übernommen. Umgekehrt wurden Berliner Stadtbauräte wie James Hobrecht nach Tokyo geschickt, wo sie bleibende Spuren hinterließen. Den wirtschaftlichen und politischen Interessen der deutschen Seite an diesem Austausch verfolgt Itoda allerdings nicht weiter. Auch im Fall der Operette „Der Mikado“, die in Japan von Seiten der Intellektuellen und der Regierung heftig kritisiert wurde, da sie ihre Kultur verspottet sahen, fehlt der Hinweis darauf, dass es Gilbert und Sullivan keineswegs um eine Karikatur Japans ging, sondern um Kritik an der britischen Gesellschaft im Gewand eines exotischen Landes. War für die europäischen Zuschauer Japan die Verkörperung alles Fremdländischen, so war für die japanischen Reisenden Berlin eine exotische Stadt, was Itoda anhand von zahlreichen Zitaten aus Reiseberichten illustriert, die hier zum ersten Mal auf Deutsch erscheinen.

Während frühere Ansätze zu einer Geschichte der Berliner Theater wie diejenigen von Ruth Freydank 1 nicht selten bereits konzeptionell ungenügend sind und angesichts der Materialfülle und einer sich ständig wandelnden Theaterlandschaft kapitulieren, ist Soichiro Itoda mit „Berlin & Tokyo“ eine systematisch vorgehende Geschichte der Theaterlandschaft Berlins gelungen. Seine Studie steht auf einer breiten Materialbasis, da er – als einer der ersten – auf die ganze Fülle der theaterpolizeilichen Akten im Berliner Landesarchiv zurückgreift.2 Dennoch bleibt auch Itoda bisweilen recht deskriptiv und anekdotisch. Vor allem ökonomische Faktoren, deren Bedeutung für die Entwicklung des Theaters Tracy Davis im Fall Großbritanniens eindrücklich belegt hat3, kommen zu kurz. Ebenso hätte man sich von der Berücksichtigung der jüngeren Urbanisierungsforschung noch weitere Ergebnisse erhofft. Gerade aus den mit sicher sehr viel Mühe kompilierten Statistiken und Karten ließe sich in diesem Kontext noch mehr herauslesen. Bedauerlich ist schließlich, dass nur wörtliche Zitate in den Anmerkungen nachgewiesen sind und auf Bibliographie und Index verzichtet wurde. Alle diese Mängel sind jedoch vergleichsweise gering angesichts der Leistungen und Vorzüge der auf Deutsch verfassten Studie, die für das japanische Publikum eine gekürzte Version jedes Kapitels bereithält.

Kurz: Itoda bietet dem Leser eine in flottem Duktus verfasste und sinnvoll illustrierte Einführung in die Geschichte der Theaterlandschaften von Berlin und Tokyo von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den 1930er-Jahren. Seinem Plädoyer für weitere komparative Untersuchungen im Rahmen der Theatergeschichte pflichtet man angesichts dieses Beispiels gerne bei.

Anmerkungen:
1 Freydank, Ruth, Theater in Berlin. Von den Anfängen bis 1945, Berlin 1988; Freydank, Ruth (Hrsg.), Theater als Geschäft: Berlin und seine Privattheater um die Jahrhundertwende, Berlin 1995.
2 Wie Itoda im Nachwort schreibt, standen ihm für Tokyo weit weniger Originalquellen zur Verfügung, da in Japan Akten nach wenigen Dekaden vernichtet werden.
3 Davis,Tracy, The Economics of the British Stage, 1800-1914, Cambridge 2000.