A. Wirsching (Hrsg.): Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie

Cover
Titel
Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich


Herausgeber
Wirsching, Andreas
Erschienen
München 2007: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Max Bloch, Berlin

In seinem „biographischen Roman“ über Kurt von Hammerstein-Equord hat Hans Magnus Enzensberger der alten These von der Weimarer Republik als einer „Fehlgeburt“, als eines nicht lebensfähigen politischen Gebildes einmal mehr Ausdruck verliehen.1 Eine solch deterministische Sichtweise – da ist sich die Forschung weitgehend einig – vermag die komplexen Herausforderungen, denen die parlamentarische Demokratie nicht nur in Deutschland, sondern europaweit ausgesetzt war, nicht zu fassen. Die Weimarer Republik, so fasst Werner Müller (Rostock) den Forschungsstand zusammen, sei eben durchaus mehr gewesen als ein „Transitorium zwischen Kaiserreich und Diktatur“ (S. 233). Der vorliegende Sammelband, in dem die Ergebnisse eines von der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte organisierten Symposiums zusammengeführt werden, versucht durch eine vergleichende Betrachtung allzu einfachen Antworten vorzubeugen und Chancen wie Gefährdungen der parlamentarischen Demokratie im Europa der Zwischenkriegszeit auszuloten. Dabei ist der Blick vor allem auf die Entwicklungen in den großen Flächenstaaten Westeuropas, Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Großbritanniens, gerichtet. Nur Hans Mommsen (Bochum) geht in seinem Eröffnungsbeitrag auch auf die Probleme in den durch die Pariser Vorortverträge geschaffenen ostmitteleuropäischen Staaten ein, deren Instabilität er auf die „starre Ausrichtung der Großmächte am Nationalstaatsprinzip“ zurückführt (S. 25) und damit die zeitgenössische, etwa von Hans Rothfels formulierte Kritik an der europäischen Nachkriegsordnung aufgreift.2

Als die Republik in Weimar feierlich proklamiert wurde, konnte sie im Grunde nur auf zwei Beispiele einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie in Europa verweisen – beide auf der Seite der Kriegsgegner und -sieger. Während sich in England das politische System, wie Stefan Grüner (Augsburg) konstatiert, als „erstaunlich resistent und stabil“ erwiesen hatte (S. 113), war zwar auch Frankreich innenpolitisch unbeschadet aus den Kriegswirren hervorgegangen. Aber der französische „Parlamentsabsolutismus“, die traditionelle Schwäche der Parteien und ein stark personalisiertes Politikverständnis schreckte die deutschen Verfassungsväter, deren Ordnungsvorstellungen sich eher am „– wie wir heute wissen – missverstandenen britischen Vorbild“ orientierten (S. 118). Dass das parlamentarische Regierungssystem in Frankreich die 1920er-Jahre trotz inhärenter Schwächen überstand, war, wie Thomas Raithel (München) herausarbeitet, zum einen die Folge eines starken französischen Staatsbewusstseins, das die Regierung mit der jeweiligen Opposition teilte, zum anderen aber auch Ausfluss der persönlichen Autorität charismatischer Staatsmänner wie Clemenceau, Briand und – vor allem – Poincaré, die dem System in nachgerade „bonapartistischer“ Manier Gesicht und Gepräge gaben.

In Italien, das in Sachen Demokratie dem übrigen Westeuropa weit hinterherhinkte (1909 verfügten immerhin 8,3 Prozent der Bevölkerung über das aktive Wahlrecht), kapitulierte die traditionelle bürgerlich-liberale Honoratiorenpolitik, wie Sven Reichardt (Konstanz) konstatiert, vor dem durch den Krieg evozierten Demokratisierungsschub. In den „roten Jahren“ 1920/21 sah sich ein zunehmend hilfloses politisches Establishment einer radikalsozialistischen Massenbewegung gegenüber, der es mit faschistischer Hilfe beizukommen suchte. Wenn Reichardt in diesem Zusammenhang schreibt, dass die „rechtsliberalen Kräfte hofften, den Faschismus entweder benutzen, transformieren oder konstitutionalisieren zu können“ (S. 80), so klingt das wie eine Vorwegnahme deutscher Illusionen.

Thomas Mergel (Basel, jetzt Berlin) geht in seinem Beitrag auf die mentalen und kulturellen Folgelasten des Ersten Weltkriegs ein, auf jene Mischung aus apokalyptischen Ängsten und überschießenden Hoffnungen, die an der Wiege der Weimarer Republik standen und die den jungen Staat einem Erwartungsdruck aussetzten, dem er nie entsprechen konnte. Gerade um jene Erwartungen nicht zu enttäuschen, um dem Unmut der Wähler vorzubeugen und die Maximalismen der eigenen Klientel zu befriedigen, hätten sich die Parteien in eine eigentümliche „Verantwortungsscheu“ zurückgezogen, die dem Reichspräsidenten den schwarzen Peter unpopulärer Entscheidungen zuschob und die staatliche Verantwortung geradezu wie der Teufel das Weihwasser mied. Der – zum guten Ton gehörende – Rekurs auf das gemeinsame Kriegserlebnis, die Ablehnung des Versailler Friedensvertrages, die alle politischen Lager umspannte, die immer wieder aufflackernden Volksgemeinschaftsdiskussionen, mithin die Sehnsucht nach nationaler Eintracht und politischer Harmonie vermochten diese strukturelle Schwäche nie dauerhaft zu überdecken. Tatsächliche Momente des Zusammenstehens, etwa im „Ruhrkampf“ und in der durch ihn entfesselten Hyperinflation, blieben die Ausnahmen. Eine parlamentarische Demokratie ohne verantwortungsbereite, starke und – auch dem Wähler gegenüber – selbstbewusste Parteien, so Mergels Fazit, „konnte all das nicht leisten, was sie versprochen hatte“ (S. 52).

Doch nicht nur politisch, auch ökonomisch – das legen die Beiträge von Gabriele Metzler (Köln, jetzt Berlin) und Werner Plumpe (Frankfurt am Main) nahe – ist die Weimarer Republik nicht nur, aber auch an sich selbst gescheitert. Ihr Selbstanspruch als „sozialer Volksstaat“, als ein „Reich des Rechts und der Wahrhaftigkeit“ (Friedrich Ebert) hätte unerfüllbare Erwartungen geweckt, die die Republik mit einem beständigen Ausbau ihres ökonomischen Engagements zu befriedigen suchte. Vor allem in Tarifverhandlungen mischte der Staat kräftig mit, um die soziale Frage quasi monetär zu entschärfen – mit verheerenden wirtschaftspolitischen Folgen: „Während die Arbeitsproduktivität kontinuierlich zurückging“, so rechnet Plumpe vor, „hielten sich die Löhne der gewerblichen Arbeitnehmer lange Zeit de facto auf Vorkriegsniveau.“ Das aber führte zu einer – politisch gewollten – „Verzerrung von Kosten und Leistungen“, die nur zeitweise, durch die Inflation, überdeckt werden konnte und spätestens in der Wirtschaftskrise endgültig aufbrach (S. 142). Der Reichsverband der Deutschen Industrie, dem Plumpes Studie gewidmet ist, erscheint in dieser Beleuchtung nicht als düsterer Strippenzieher und nachgerade dämonische Macht, als die er vor allem in älteren Studien oftmals gezeichnet worden ist, sondern als nüchterner Interessenvertreter und Anwalt des Marktes gegenüber einem überbordenden Staat. Klaus Schönhoven (Mannheim) vermag dieser Interpretation jedoch nicht vorbehaltlos zu folgen.

Auch Gabriele Metzler wertet die „systematische Expansion von Sozialstaatlichkeit“ (S. 220), die freilich auf alte Bismarcksche Traditionen zurückgreifen konnte, als schwere Hypothek für die Leistungs- und Lebensfähigkeit der Weimarer Republik. Während in Großbritannien die Sozialausgaben in erster Linie der Linderung der Armut galten und in Frankreich pronatalistische Erwägungen im Vordergrund standen, ging es in Deutschland um die gezielte Pazifizierung einer anspruchsvollen und mir ihrer Radikalisierung drohenden Arbeiterschaft. Diese Aufgabe war mit den zu Gebote stehenden Mitteln kaum dauerhaft zu lösen. Anders als Matthias Reiß (Exeter) kommt Metzler zu dem Schluss, dass die Weimarer Republik – neben anderen Gründen – auch als überforderter Sozialstaat gescheitert sei, dessen Erwartungspotential, so bliebe zu ergänzen, von der nationalsozialistischen Verheißungsideologie, von „Hitlers Volksstaat“ geschickt ausgeschöpft werden konnte.3 Reiß' Befund, dass die Weimarer Republik nicht zu viel, sondern im Gegenteil zu wenig in die Sozialsysteme investiert habe, dass insbesondere die Arbeitslosenunterstützung im Vergleich zu Großbritannien sträflich inadäquat gewesen sei und der Radikalisierung damit Tür und Tor geöffnet wurde, bleibt, wie Werner Müller in seinem Kommentar anmahnt, „vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und fiskalischen Möglichkeiten“ zu überprüfen. Zusammenfassend hält Müller fest, dass es in Deutschland nicht gelungen sei, „Demokratie und Sozialstaat miteinander zu versöhnen“ (S. 236f.).

Diese lange Zeit tabuisierte Analyse, die nicht als monokausale Erklärung missverstanden werden will, gehört zu den wichtigsten Erträgen des vorliegenden Sammelbandes. Dass die Bindungskräfte an einen Staat, der seine Rolle als Versorger nicht mehr in vollem Umfang auszufüllen vermag, sukzessive nachlassen, ist schließlich eine Beobachtung, die auch heute noch gemacht werden kann. Von einem zwangsläufigen Scheitern der Weimarer Republik, von einem zielgerichteten „deutschen Sonderweg“ kann – das machen die Beiträge deutlich – aber auch weiterhin nicht gesprochen werden. Herausforderungen und Reaktionsmöglichkeiten der parlamentarischen Demokratie im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) herausgearbeitet, dabei den Blick über die Grenzen der Weimarer Republik auf die komplementären Entwicklungen in den anderen Staaten gehoben und hervorragende Spezialisten als Beiträger gewonnen zu haben, ist ein großes Verdienst dieses Tagungsbandes, des Herausgebers Andreas Wirsching und der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte.

Anmerkungen:
1 Enzensberger, Hans Magnus, Hammerstein oder Der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte, Frankfurt am Main 2008, S. 31.
2 Eckel, Jan, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 153-159.
3 Aly, Götz, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Bonn 2005.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension