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Titel
Rauch und Macht. Das Unternehmen Reemtsma 1920 bis 1961


Autor(en)
Jacobs, Tino
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 44
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Gehlen, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn

Tino Jacobs untersucht in seiner Hamburger Dissertation mit dem Unternehmen Reemtsma den lange Zeit bedeutendsten Akteur auf dem deutschen Tabak- und Zigarettenmarkt. Er wurde maßgeblich von Philipp Reemtsma (1893-1959) geprägt, der die strategischen Entscheidungen vorbereitete und traf. Die übrigen Vorstandsmitglieder, vor allem seine Brüder Alwin (1895-1970) und Hermann (1892-1961) fungierten hingegen vielmehr als Manager. Der Aufstieg des Unternehmens begann im Zuge der Währungsstabilisierung nach dem Ersten Weltkrieg. Es konnte sich unter anderem deswegen im kritischen Marktumfeld der 1920er-Jahre günstig entwickeln, weil die Goldmarkeröffnungsbilanz das Grundkapital niedrig angesetzt hatte und so den Liquiditätsspielraum des Unternehmens erhöhte. Hinzu kam eine frühe Markenorientierung, die der langjährige Werbeberater Reemtsmas, Hans Domizlaff, sachlich (und etwas eigenwillig) fundierte. Dabei handelte es sich freilich nicht um ein kohärentes Marketingkonzept, sondern eher um ein „Trial-and-Error-Verfahren, dessen Resultate durchwachsen ausfielen.“ (S. 61) Allerdings misst Jacobs der Erkenntnis, dass Markenbildung notwendig war, einige Bedeutung für die Entwicklung des Selbstverständnisses des Unternehmens zu. Ursächlich für den wirtschaftlichen Erfolg in den 1920er-Jahren waren ferner grenzwertige bis illegale Geschäftspraktiken (z.B. Schmuggel oder Steuerumgehung). Publizistische Kritik und juristische Verfahren überstand das Unternehmern aber überwiegend glimpflich – weil die Praktiken, die Philipp Reemtsmas Gegner auf guter Grundlage anprangerten, auch hier funktionierten, etwa wenn er den Anwalt der gegnerischen Partei bestach oder allzu lästige Kritiker durch gut dotierte Posten ruhig stellen wollte. Die Geschäftspraktiken Reemtsmas entsprachen fraglos nicht immer der „kaufmännischen Ehrbarkeit“, die gerade in der Hamburger Wirtschaftselite gepflegt wurde, so dass diese ihn nicht eben mit offenen Armen empfing.

Philipp Reemtsma gelang es dennoch, über den gesamten Zeitraum seines Wirkens hilfreiche Geschäftsbeziehungen, so vor allem zur Deutschen Bank, aufzubauen und die Leitungsgremien der Gemeinschaftsorganisationen der Tabakindustrie fast durchgängig mit eigenen Mitarbeiten oder Vertrauenspersonen zu besetzen. Seine guten Kontakte ins Reichsfinanzministerium waren aufgrund der für die Tabak- und Zigarettenherstellung essentiellen Steuerfragen wichtig (und im Unternehmenssinne hilfreich). Für den Aufbau des Konzerns in den 1920er-Jahren waren die Kontakte zum Alleininhaber der Deutschen Treuhandgesellschaft für Handel und Industrie mbh, Hans Schulte, entscheidend. Dieser überprüfte im Auftrag des Finanzministeriums alle Betriebe der deutschen Zigarettenindustrie und konnte derart ein Informationsmonopol aufbauen. Reemtsma sicherte sich durch monetäre Zuwendungen an Schulte einen Informationsvorsprung vor allen Wettbewerbern: Er wusste somit über die Ertragslage seiner Konkurrenz bestens Bescheid und konnte exakt an die Betriebe herantreten, die in existenziellen Schwierigkeiten steckten – und sie übernehmen. Die Konzernbildung fand ihren vorläufigen Abschluss 1929, als Reemtsma gemeinsam mit dem Kölner Produzenten Haus Neuerburg weitere Konkurrenten übernahm; Reemtsma wandelte sein Unternehmen anschließend von einer AG in eine GmbH, 1935 in eine KG um – besonders wegen der geringeren Publikationsverpflichtungen.

Reemtsmas Geschäftspraktiken änderten sich auch im Nationalsozialismus wenig: Nachdem er drei Millionen Reichsmark (RM) an Hermann Göring – später ließ er jährlich eine Millionen RM folgen – „gespendet“ hatte, stellte der nationalsozialistische Staat alle Untersuchungen wegen Steuervergehen gegen ihn ein. Freilich war Reemtsma, der in der Weimarer Zeit gute Kontakte zu den bürgerlichen Parteien und vor allem zur DDP gepflegt hatte, kein überzeugter Nationalsozialist, jedoch arrangierte auch er sich in weiten Teilen mit dem Regime – und profitierte ökonomisch. Nach dem Krieg musste er sich wegen der Zahlungen an Göring verantworten; das Verfahren wurde aber 1950 eingestellt. Bereits 1948 hatte der zuständige Entnazifizierungsausschuss Philipp und Hermann Reemtsma als politisch unbelastet eingestuft.

Obwohl einige zentrale Personen aus der Unternehmensführung in den 1940er-Jahren gestorben waren und die britischen Besatzungsbehörden eine Entflechtung des Konzerns durchsetzten, gelang es Reemtsma, unter anderem durch Reaktivierung der alten Netzwerke, den Konzern auch in der jungen Bundesrepublik zu etablieren. Die Märkte waren inzwischen stärker umkämpft, weil amerikanische Produzenten auch nach Deutschland expandierten, doch Reemtsmas Marktanteil lag in 1950er-Jahren noch bei etwa 40 Prozent. Das Unternehmen hatte aber teilweise Probleme, Informationen des Marktes zu einer kohärenten Strategie auszubilden; jedenfalls zögerte Reemtsma, „American Blend“ als Tabak zu nutzen und Filterzigaretten in bestimmten Segmenten anzubieten. Ferner entzog die Kartellpolitik der Bundesrepublik der von Reemtsma favorisierten privaten Marktregulierung den Boden; gleichwohl ging er mit Erhards Wirtschaftspolitik generell konform. Der Tod von Philipp (1959) und Herrmann Reemtsma (1961) geriet schließlich auch zur unternehmenshistorischen Zäsur.

Jacobs’ Arbeit informiert zuverlässig und gut verständlich über Zwänge und Handlungsspielräume des Unternehmens Reemtsma und schärft den Blick im Detail – z.B. für die Steuerungswirkung von Steuern oder den Umgang der Tabakindustrie mit den gesundheitlichen Gefahren des Rauchens. Freilich hätten Vergleiche mit anderen Unternehmen bzw. eine stärkere Rezeption neuerer unternehmenshistorischer Forschungen die Ergebnisse abrunden können. Möglicherweise liegt dies aber auch daran, dass Jacobs’ für die Unternehmensgeschichte Reemtsmas keinen dezidiert unternehmenshistorischen Ansatz wählt und die neueren Ansätze wie Informationsasymmetrien, Marketingaspekte bzw. Netzwerke eher implizit in die Darstellung einbezieht. Stattdessen orientiert er sich an Foucaults Konzept der Machtbeziehungen, die dieser als Instrument definiert, um das Handeln anderer Akteure zu steuern. Unbestritten ist Macht eine soziale Grundtatsache, und gesellschaftliche sowie ökonomische Strukturen sind immer auch Ergebnisse von Machtbeziehungen. Insofern ist es legitim zu fragen, welche Techniken der Machtausübung ein Unternehmen bzw. seine Leitung wählten, um dem Unternehmensziel zuzuarbeiten.

Doch aus unternehmenshistorischer Perspektive ist der Ansatz zu hinterfragen. Der Blick ins Unternehmen fällt recht knapp aus; stattdessen konzentriert Jacobs sich auf strategische Weichenstellungen sowie vor allem auf die Pflege der Außenbeziehungen – beides fiel in den Aufgabenbereich Philipp Reemtsmas. Insofern ist die vorliegende Arbeit eher Unternehmer- als Unternehmensgeschichte. Daher hätte sie sich durchaus und ohne Substanzverlust z.B. an den Überlegungen Fritz Redlichs 1 oder Mark Cassons 2 orientieren können, wodurch möglicherweise der ökonomische Kern unternehmerischen Handelns stärker in den Fokus gerückt wäre: Denn die Konzentrationsbewegung in der Zigarettenindustrie der 1920er-Jahre ließe sich beispielsweise mit Skaleneffekten eher erklären als mit Reemtsmas „paternalistischer“ Branchenpolitik. Das Unternehmen verfügte über größenbedingte Kostenvorteile und als Produzent mit dem höchsten Marktanteil bei polypolen Marktstrukturen über eine vergleichsweise hohe Preisfestsetzungsmacht. Wenn Reemtsma daher eine Politik verfolgte, die die Überlebensfähigkeit eines Teils der kleineren und mittleren Betriebe garantierte, sicherte er sich seine Wettbewerbsposition als Marktführer. Das Unternehmen wäre in einem Oligopol, wie es später in der Bundesrepublik existierte, unter größeren Wettbewerbsdruck geraten, wenn sich z.B. eine signifikante Anzahl der kleineren Konkurrenten zu einem (oder mehreren) größeren Unternehmen zusammengeschlossen hätte. Dass Reemtsma selbst seine Politik darauf zurückführte, ihm habe insbesondere das Wohl der Tabakindustrie und hier vor allem der kleinen und mittleren Hersteller am Herzen gelegen, ist wohl eher biographische Selbstkonstruktion als Erklärung seines Handelns.

Trotz dieses methodischen Einwands ist Jacobs’ Arbeit fraglos ein willkommener Beitrag zum Unternehmertum, seinen ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Grundlagen sowie zur Frage der Elitenkontinuität zwischen Weimarer Zeit, Nationalsozialismus und Bundesrepublik. Das Beispiel Reemtsma bestätigt, wenn auch implizit, überdies die Erkenntnisse über unternehmerisches Handeln in den drei politischen Systemen wie sie zuletzt exemplarisch am Beispiel Friedrich Flicks, der Reemtsma in Vielem durchaus ähnlich war, überzeugend herausgearbeitet wurden.3 Insofern – dies aber bleibt weiteren, synthetisierenden Studien vorbehalten – präjudizieren offenbar besonders die institutionellen Arrangements einer Volkswirtschaft unternehmerisches Verhalten, während Unternehmer vor allem eins sind: Opportunisten qua Profession.

Anmerkungen:
1 Fritz Redlich, Ein Programm für die Unternehmerforschung, in: Ders.: Der Unternehmer. Wirtschafts- und Sozialgeschichtliche Studien, Göttingen 1964, S. 132-152.
2 Mark Casson, The Entrepeneur. An Economic Theory, 2. (überarbeitete) Auflage, Cheltenham/Northampton 2003.
3 Johannes Bähr u.a., Der Flick-Konzern im Dritten Reich, hrsg. v. Institut für Zeitgeschichte München–Berlin im Auftrag der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, München 2008; Kim C. Priemel, Flick. Eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Göttingen 2007.

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