Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen

: Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft. Band 1: Tschechische Abgeordnete und Parteien des östereichischen Reichsrats 1907–1914. München 2012 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-58051-8 667 S. € 128,00

: Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft. Band 2: Tschechische Abgeordnete und Parteien des östereichischen Reichsrats 1907–1914. Biographisches Handbuch der tschechischen Mitglieder des Abgeordnetenhauses des österreichischen Reichsrats 1907 bis 1914. München 2012 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-58051-8 561 S. € 128,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lothar Höbelt, Universität Wien

Das lange erwartete magnum opus von Robert Luft bietet Grundlagenforschung im besten Sinn des Wortes, ergänzt durch eingehende politologische Analysen auf mehreren Ebenen. In Form eines dichten Nachschlagewerkes präsentiert sich das Ergebnis jahrzehntelanger Recherchen im zweiten Band seines Kompendiums, der mit mehrseitigen Kurzbiographien von 163 Abgeordneten aufwartet, die über bloße Lexikoneinträge weit hinausgehen. Neben der politischen Karriere (inklusive präziser statistischer Angaben zu ihrer parlamentarischen Tätigkeit) leuchten sie so weit als möglich auch Familienhintergrund und Ausbildung aus, erfassen ihre Schriften (inklusive der Mitarbeit an Zeitungen und Zeitschriften) und bieten eine reichhaltige Bibliographie (inklusive der relevanten Archivbestände).

Seine Analyse des dichten gesammelten Materials nimmt Luft selbst im ersten Band vor. Die einführende Abschnitte gehören mit zu dem besten, was über Verfahrensweisen und Mechanismen des altösterreichischen Parlamentarismus zu finden ist (z.B. was die Funktion der Obmännerkonferenz im Abgeordnetenhaus betrifft). Die Kollektivbiographie entgeht der Gefahr eines zu schematischen Zugangs und der Verkürzung komplexer Gemengelagen auf einen Indikator. Dies gelingt durch „weiche Beobachtung und dichte Beschreibung“ (S. 338) dessen, was die Berufs- und Klassenzugehörigkeiten von Politikern betrifft, die sich im Laufe ihrer Karrieren wandelte. So gab es zum Wahlzeitpunkt kaum mehr Arbeiter auch unter den Sozialdemokraten. Oder solche Zugehörigkeiten waren von Anfang an multivalent, vor allem was die journalistischen Tätigkeiten betraf, der ein Großteil der Parlamentarier nachging, auch wenn sie nur bei einigen zum Brotberuf wurde.

Als Ergebnisse der Luft’schen Untersuchungen kristallisiert sich heraus, dass Großbürgertum und Adel (letzterer war 1907 noch mit vier Abgeordneten vertreten, 1911 gar nicht mehr) vergleichsweise unterrepräsentiert waren. Als konstitutiv für das tschechische Parteiensystem kann trotz des hohen Industrialisierungsgrades der böhmischen Länder gelten, dass hier weniger der Klassengegensatz signifikant war, als der vom Wahlsystem begünstigte Gegensatz von Stadt und Land. Eine vom Durchschnitt abweichende Sozialstruktur wiesen in erster Linie die Agrarier auf, die tatsächlich zu über 80 % Agrarier waren. Bei den Katholisch-Nationalen waren neben Bauern – zum Unterschied von den deutschen Christlichsozialen – Priester noch sehr stark vertreten (darunter auch alle drei Führungspersönlichkeiten: Hruban, Stojan und Šrámek), und das trotz des antiklerikalen gesellschaftlichen Umfeldes oder auch wegen der teilweisen Isolation ihrer Partei.

Das zentrales Stück der Arbeit ist die Analyse des Parteiensystems von Sozialdemokraten, Katholisch-Nationalen, Bürgerlich-Nationalen, Agrariern und National-Sozialen, wie es sich später mit der sogenannten „pětka“ als System der fünf Lager in der Ersten Republik nahezu institutionalisierte. Unübersehbar ist dabei freilich auch, dass die Grenzen zwischen den drei bürgerlich-laizistischen Lagern fließend waren, was sich nicht zuletzt auch in den Wahlbündnissen des Jahres 1911 niederschlug. 1907, dem Jahr der Einführung des freien, geheimen und gleichen Wahlrechts, hatten die bis dahin unter dem Kurienwahlrecht dominanten „Jungtschechen“ ihre Konkurrenten noch erbittert bekämpft. Hier ist der Vergleich mit den deutschböhmischen Parteien instruktiv. Auch dort gab es eine Agrarpartei und eine National-Soziale (Deutsche Arbeiterpartei), waren sie Teil des „freiheitliches“ Lagers – und im Reichsrat auch eine gemeinsame Fraktion. Unterschiedlich waren die Größenverhältnisse. Die Arbeiterpartei war viel kleiner (von den Größenverhältnissen vergleichbar vielleicht mit der marginalen Rolle der tschechischen National-Sozialen in Mähren) und die Agrarier waren nicht so dominant wie im tschechischen Fall, wo sie seit 1907 die stärkste Fraktion stellten. Wenn man die Handlungsfähigkeit der dominanten Gruppen vor 1914 ins Auge fasst, könnte man zu dem Schluss kommen, Jungtschechen und Agrarier blockierten einander wechselseitig, während sich der geschlossene deutsch-bürgerliche Block zu einer Lobby entwickelte, die weit über ihre zahlenmäßige Stärke hinaus an Einfluss gewann.

Eines der vielen Verdienste der hier anzuzeigenden Arbeit ist auch die präzise Darstellung des Schicksals der Kleinparteien, die sich zwischen National-Sozialen und Bürgerlich-Nationalen bewegten, 1907 mit ersteren paktierten, nach 1911 (und vollends 1918) dann zu den Bürgerlich-Nationalen tendierten, denen sie Luft deshalb auch von vornherein zurechnet. Folgt man dieser durchaus plausiblen Annahme, dann stellt sich auch der viel beschworene Niedergang der Jungtschechen als weitaus weniger dramatisch dar, als oft angenommen. Bloße Stimmenzahlen waren in einem Mehrheitswahlrecht kein unbedingt aussagekräftiges Indiz. Durch einen Rückzug vom Land und neu entstandene Wahlkartelle, bei denen es sich nicht bloß um Stichwahlbündnisse handelte, sondern um Absprachen bereits im ersten Wahlgang, verringerte sich die Gesamtsumme der Stimmen, aber nicht das politische Gewicht des Lagers.

Bedeutsam war der Unterschied zwischen Böhmen und Mähren. Im Markgraftum waren die Katholisch-Nationalen doppelt so stark, weshalb ihre Gegner gegen sie 1911 eine „Großblockpolitik“ praktizierten und vor 1914 auch im Reichsrat eine stärker oppositionelle Linie einschlugen, wo mährische Abgeordnete – von Masaryk bis Staněk – eine „häufig nicht wahrgenommene einflussreiche Position“ (S. 514) einnahmen. En passant erwähnenswert ist auch eine Beobachtung, die sich bei der Betrachtung des Spektrums der antiklerikal-freisinnigen Kleinparteien aufdrängt, das von den Fortschrittlichen über die Realisten und Staatsrechtler bis zu Stránskýs mährischer Volkspartei als regionale Variante der Jungtschechen reichte. Es gab Antisemiten und Gegner des Antisemitismus, greifbar im Gegensatzpaar Baxa und Masaryk, das einander schon im berühmt-berüchtigten Ritualmord-Prozess gegen Leopold Hilsner um die Jahrhundertwende gegenüber gestanden hatte. Während im deutschen Fall eine Kooperation zwischen den beiden ebenfalls auf Kleinparteien reduzierten Alldeutschen und „Judenliberalen“ trotz vieler gemeinsamer Feindbilder als ausgeschlossen galt, verhielt sich die tschechische Politik hier undogmatischer: Baxa und Masaryk saßen nie in einer Fraktion zusammensaßen, doch kannten ihre Anhänger keine solchen Berührungsängste.

In Summe bietet Robert Luft nicht nur eine Unmenge an neuen Informationen, sondern auch eine Fülle von Anregungen und Denkanstößen. Alle, die sich mit Politik der späten Habsburgermonarchie beschäftigen, sind ihm ob dieses Nachschlagewerks zu Dank verpflichtet. Allenfalls hätte man sich gewünscht, vom immensen Wissen des Autors noch ein wenig mehr zu profitieren, indem z.B. neben dem Dokumentationsteil und der darauf fußenden Analyse das narrative Element in den einführenden Abschnitten zur Geschichte der Parteien etwas mehr zur Geltung gelangt wäre. Über diverse der quasi nur im Vorbeigehen erwähnten Skandale oder persönlichen Konflikte innerhalb der Fraktionen hätte man gerne näheres erfahren (neben der Šviha-Affäre z.B., über die Bergmann-Zázvorka Kontroverse bei den Agrariern, oder auch das Duo Kramář-Fiedler bei den Jungtschechen). Aber vielleicht ist dieser Wunsch schon zu unbescheiden...

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