Vergangenheitspolitik in der Medizin nach 1945

Oehler-Klein, Sigrid; Roelcke, Volker (Hrsg.): Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus. Stuttgart 2007 : Franz Steiner Verlag, ISBN 978-3-515-09015-5 419 S. € 69,00

Böhm, Boris; Haase, Norbert (Hrsg.): Täterschaft - Strafverfolgung - Schuldentlastung. Ärztebiografien zwischen nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und deutscher Nachkriegsgeschichte. Leipzig 2008 : Leipziger Universitätsverlag, ISBN 978-3-86583-166-8 155 S. € 24,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Kaminsky, Ruhr-Universität Bochum

Die Debatte über die Kontinuität von NS-Eliten in Deutschland und die „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei) hat in den letzten Jahren immer mehr wissenschaftliche Disziplinen erfasst. Kooperationen von Wissenschaft und Politik wurden insbesondere in einem Projekt über die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus erforscht, und universitäre Forschungsprojekte wandten sich verstärkt der Geschichte der eigenen Fakultäten und Kliniken sowie der dort Beschäftigten zu. Auch Gedenkstätten befassen sich nicht mehr nur mit den Opfern oder den Tätern, sondern ebenso mit Prozessen der Schuldentlastung und der Strafverfolgung der bei Menschenversuchen und Krankenmorden tätigen Mediziner. Als Ergebnis wissenschaftlicher Tagungen über die Biographien von Wissenschaftlern und Ärzten sind zwei Sammelbände erschienen, die hier vorgestellt werden sollen.

Mit dem von Boris Böhm und Norbert Haase herausgegebenen Buch über Ärztebiographien zwischen NS-Zeit und Nachkriegsgeschichte eröffnet die Stiftung Sächsische Gedenkstätten ihre neue Schriftenreihe „Zeitfenster“, die sowohl biographische Dokumentationen wie gedenkstättenpädagogische Praxisberichte zum Inhalt haben soll. Der erste Band dokumentiert eine Tagung vom November 2005 in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein und stellt Karrieren ausgewählter, überwiegend in Sachsen tätiger Ärzte vor, die in die Gesundheitspolitik des Nationalsozialismus involviert waren. Fast alle setzten in der Bundesrepublik oder der DDR ihre Karrieren fort, wobei es nur in manchen Fällen zu standesspezifischen oder juristischen Auseinandersetzungen kam. Die von Susanne Zimmermann vorgestellte Biographie Hermann Stieves (1886–1952), der als Ordinarius für Anatomie und Direktor des Anatomischen Instituts in Berlin zum Einfluss von Angst und Erregung auf die Keimdrüsen anhand der hingerichteten Widerstandskämpfer der Richtstätte Plötzensee geforscht hatte, stellt hier ein Beispiel für die Fortsetzung einer Karriere in der einem politischen Antifaschismus verpflichteten DDR dar. Ähnlich verhielt es sich beim Psychiater Johannes Suckow (1896–1994), dem später hochgeehrten Direktor der Dresdner Neurologisch-Psychiatrischen Klinik (seit 1955), der 1942/43 in der Forschungsabteilung Wiesloch an Forschungsprogrammen mit Menschenversuchen an potentiellen „Euthanasie“-Opfern beteiligt gewesen war. Wie Marina Lienert erläutert, war es der Kriegslage und keineswegs Suckows Engagement geschuldet gewesen, dass die Opfer im Rahmen seiner Verantwortung nicht den Tod fanden.

Der Psychiater und Leiter der Klinik Brandenburg-Görden, Hans Heinze (1895–1983), war an der Planung wie der Durchführung der „Kindereuthanasie“ maßgeblich beteiligt. Er wurde 1945 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet, 1946 von einem sowjetischen Militärtribunal verurteilt und 1952 aus der Haft entlassen. Er ging in den Westen und wurde 1954 Leiter des Landeskrankenhauses Wunsdorf. Seine Geschichte wird von Klaus-Dieter Müller intensiv beschrieben, dem es besonders um die 1998 ausgesprochene und 2005 wieder aufgehobene Rehabilitierung Heinzes durch ein russisches Militärgericht geht. Auch wenn Müller auf die Verwerfungen des Falles durch die unterschiedlichen Informationsstände in diesen Jahren hindeutet und die „Überprüfung des Falles Heinze als deutsch-russisches Gemeinschaftsunternehmen“ betont (S. 74ff.), so kontextualisiert er die Geschichte nicht in ihren gedenkpolitischen Zusammenhängen. Müller selbst hatte 1997 die Rehabilitierung Heinzes vor dem Militärgericht beantragt, um auf diesem Wege Einsicht in sonst nicht zugängliche Akten über Heinze zu erhalten. Dies führte zu erbitterten Auseinandersetzungen zwischen NS-Opferverbänden, die darin die Freisprechung eines NS-Kriegsverbrechers sahen, und dem Verband der Opfer des Stalinismus, welche Heinze durch eine Kranzniederlegung ehrten.1

Der Leiter der „Euthanasie“-Anstalten Grafeneck und Pirna-Sonnenstein, Horst Schumann (1906–1983), ist genauso wie der österreichische Psychiater Heinrich Gross (1915–2005), der sich in der Wiener Anstalt „Am Spiegelgrund“ an der „Kindereuthanasie“ beteiligt hatte, relativ ungeschoren davongekommen. Die erst spät einsetzenden bzw. bei Schumann auch durch die Flucht ins Ausland verschleppten Ermittlungen führten nicht zu gerichtlichen Schuldsprüchen, wie Boris Böhm und Pia Schölnberger dokumentieren.

Der Tagungsband stellt einen Fortschritt hinsichtlich der Annäherung an Ärztebiographien dar, indem er über die Zäsur von 1945 hinausgeht. Manche Beiträge halten sich sehr eng an die biographischen Quellen, ohne dass Forschungsliteratur herangezogen wurde, die das gesamte Feld der NS-Gesundheitspolitik bzw. der NS-„Euthanasie“ umschreiben würde. Dafür sind die Beiträge reichlich mit Abbildungen und faksimilierten Dokumenten versehen, welche die Anschaulichkeit wie auch die didaktische Absicht unterstreichen.

Sehr viel stärker systematisch, wenn auch ebenfalls (kollektiv)biographisch, ist der von Sigrid Oehler-Klein und Volker Roelcke herausgegebene Sammelband auf die institutionellen wie individuellen Strategien des Umgangs mit der NS-Zeit in der Universitätsmedizin nach 1945 orientiert. Er ist das Ergebnis einer Tagung an der Justus-Liebig-Universität Gießen vom Oktober 2005 und gliedert sich in drei Hauptteile: Im ersten Teil geht es um „institutionelle und personelle Brüche und Kontinuitäten“. Der zweite Teil wendet sich der Vergangenheitspolitik der medizinischen Fakultäten in den vier Besatzungszonen Deutschlands zu. Der dritte Teil schließlich befasst sich mit dem Umgang der universitären Medizin mit den NS-Krankentötungen nach 1945. Eine Einleitung der Herausgeber fasst Forschungsstand, Forschungsziele und die Ergebnisse der Tagung prägnant zusammen; ein Personenregister ermöglicht konkrete Zugriffe.

In den Beiträgen wird für jede Besatzungszone – so von Udo Schagen und Andreas Malycha für Berlin/SBZ, von Kornelia Grundmann für Marburg/Amerikanische Zone, von Hans-Georg Hofer für Freiburg/Französische Zone und von Frank Sparing für Düsseldorf/Britische Zone – beispielhaft belegt, dass die gesundheitliche Versorgungslage, besonders die Seuchengefährdung, den ursprünglich von den Alliierten geplanten Austausch des hochschulmedizinischen Personals nicht im angestrebten Umfang erlaubte. Allerdings gab es Ansätze einer Kritik und Aufarbeitung wissenschaftlicher Praktiken im Nationalsozialismus, nicht zuletzt durch die alliierten Kriegsverbrecherprozesse und die Folgeverfahren vor deutschen Gerichten. Dies schuf „im Diskurs der wissenschaftlichen Netzwerke“ nicht nur ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Aufklärung, sondern komplementär auch für die Vertuschung, worauf sich wiederum institutionelle wie individuelle Strategien richteten (S. 15). Auch die nicht direkt belasteten Hochschullehrer hatten den Wunsch nach einem unbelasteten Neuanfang und die Furcht vor einem Vertrauensverlust der Medizin.

Nur auf einzelne Beiträge kann hier eingegangen werden. In ihrem Eröffnungsbeitrag über die universitäre Medizin nach 1945 verweist Sabine Schleiermacher auf zuerst von Mitchell Ash präsentierte zeitgenössische Zahlen des Stifterverbandes der Deutschen Wissenschaft: Von 4.289 im Zuge der Entnazifizierungsverfahren aus dem Hochschulbereich entlassenen Akademikern waren bis Mai 1950 rund ein Drittel wieder rehabilitiert. Die an den Universitäten als Ordinarien verbliebenen oder wieder eingestellten Professoren erlebten mit dem Umbruch 1945 eine Stärkung ihrer Position. Der Wegfall der NS-Dozenten- und Studentenbünde im Zuge der institutionellen Entnazifizierung beseitigte auch organisierte Gruppen jenseits der Ordinarien und begünstigte „die konsequente Rekonstruktion autoritärer Strukturen, die mit den Begriffen Autonomie und Selbstverwaltung präsentiert wurden“ (S. 39).

Carola Sachse beschreibt am Beispiel der Wissenschaftselite der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max-Planck-Gesellschaft) die Abwehrstrategien der an NS-Verbrechen beteiligten Wissenschaftler wie Ernst Telschow, Otmar Freiherr von Verschuer oder Adolf Butenandt (etwa deren „Täterkreisverengung“, S. 56) sowie die „Persilscheinkultur“ (so Sachse an anderer Stelle 2). Die Einzelbeispiele für die Wiedereinbindung von einschlägig belasteten Wissenschaftlern in den Kollegenkreis nach 1945 sind zahlreich. So gibt Brigitte Leyendecker in ihrem Beitrag über den Hepatitisforscher Hans Voegt (1910–1974) genauso einen Einblick in die kollegiale Immunisierung im Wissenschaftsnetzwerk wie Sigrid Oehler-Klein am Beispiel der Biographie des Gießener Professors für Erb- und Rassenpflege und späteren Humangenetikers Prof. Hermann Alois Boehm (1884–1962). Udo Schagen untersucht das Selbstbild Berliner Hochschulmediziner in der SBZ und kommt zu dem Ergebnis, dass diese mit ihren beschönigenden Erinnerungen wohl nicht unbedingt ihre Nachwelt bewusst täuschen, sondern vielmehr ihr Selbstbild als „stets dem Individuum verpflichtete, verantwortungsvoll handelnde, unpolitische Ärzte und kritische Wissenschaftler“ ungebrochen aufrecht erhalten wollten (S. 141). Die Bestätigung ihrer Positionen in der SBZ – für einen Elitenaustausch stand anders als etwa 1933 kein qualifizierter Ersatz bereit – war nicht dazu angetan, kritisches Nachdenken über die Vergangenheit zu fördern. In einigen Beiträgen wird zudem deutlich, wie die Wiedereinsetzung emigrierter, meist jüdischer Kollegen verhindert wurde.

Das Hauptverbrechen der deutschen Medizin im Nationalsozialismus war der Kranken- und Behindertenmord, dem direkt oder indirekt rund 200.000 Menschen zum Opfer fielen. Der Umgang der universitären Psychiatrie mit dem Krankenmord wird in vier abschließenden Beiträgen thematisiert. Der Aufsatz des leider bereits verstorbenen Jürgen Peiffer (1922–2006) versucht fünf Phasen der Auseinandersetzung mit der NS-„Euthanasie“ zu unterscheiden. Der Neuropathologe Peiffer, der selbst in der Nachkriegszeit an Präparaten geforscht hatte, die aus dem Kontext der Kranken- und Behindertenmorde stammten, hat sich im Ruhestand intensiv und kritisch mit der Geschichte des eigenen Faches und den Krankentötungen auseinandergesetzt. Die Phasen der Auseinandersetzung verkoppelt er mit den Interessen unterschiedlicher „Alterskollektive“ (S. 358) sowie dem Wandel des politischen Umfeldes. Obwohl sein Überblicksartikel hin und wieder einer Aufzählung gleicht, verweist er doch auf eine Fülle von historiographischer Literatur.

Am Beispiel der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg beschreiben Maike Rotzoll und Gerrit Hohendorf den langen Weg, den die Klinik bis in die 1980er-Jahre zurücklegen musste, um sich einer kritischen historischen Bearbeitung zu öffnen. Dies bedeutete trotz der Klinikleitung durch den persönlich unbescholtenen Kurt Schneider oder den für sozialpsychiatrische Ansätze offenen Walter von Baeyer eine Rücksichtnahme auf die an Menschheitsverbrechen beteiligten und an der Klinik tätigen Carl-Friedrich Wendt und Hans-Joachim Rauch, die beide Assistenten des seinerzeit die Forschungsabteilung Wiesloch leitenden Psychiaters Carl Schneider gewesen waren. Unter Schneiders Verantwortung waren 21 Kinder im Rahmen von „Forschungen“ getötet worden, an die erst seit 1998 ein Mahnmal erinnert. Rauchs Vergangenheit war 1983 skandalisiert worden, als er gutachterlich über die vermeintliche Drogenabhängigkeit des RAF-Mitglieds Peter-Jürgen Boock urteilen sollte.

Der lange Schatten des Krankenmords wurde aber auch zu einem Antrieb für die Psychiatriereform – wie unter anderem am Beispiel Walter von Baeyers zu sehen ist, auf das Franz Werner Kersting in seinem die „Vergangenheitsbewältigung“ in der Psychiatrie thematisierenden Beitrag hinweist. Die Spätfolgen der NS-Verbrechen führten eben auch zu Reformimpulsen in der deutschen Psychiatrie, die im Rahmen der Politisierung des ‚Antifaschismus‘ übersehen wurden. Für die Dialektik des Vorganges spricht, dass die Arbeit an der Psychiatrie-Enquete mit einem Verlust der konkreten historischen Bezüge auf die NS-Zeit einherging. Selbst die Impulsgeber betrachteten eine vertiefte Diskussion als Gefährdung des eigenen Vorhabens. Roland Müller betont abschließend die Kontinuitätsbehauptung der deutschen Psychiatrie am Beispiel der Umdeutungen und Integrationskonstruktionen des Psychiaters Ernst Kretschmer (1888–1964), der in der NS-„Euthanasie“ nur eine „Gruppe entschlossener Parteifanatiker“ (S. 401) wirken sah. Wissenschaftler waren in Kretschmers Perspektive schuldlos, und Opfer kamen gar nicht erst vor.

Die Beiträge in beiden Sammelbänden stellen insofern Fortschritte dar, als sie neben den Verbrechensbeteiligungen aus der NS-Zeit auch die Selbstbilder und Strategien deutscher Ärzte und Hochschulmediziner in West wie Ost nach 1945 erhellen. Eine wachsende Zahl akribisch aufbereiteter biographischer Zugänge stellt dabei nicht nur Anschaulichkeit her, sondern lässt zugleich die Muster deutlich werden, welche gesamtgesellschaftlich Wirkung entfalteten. Beide Sammelbände regen durch die konkreten biographischen Beispiele zur Weiterbeschäftigung an, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung.

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu die Darstellung bei Annette Weinke, Nachkriegsbiographien brandenburgischer „Euthanasie“-Ärzte und Sterilisationsexperten. Kontinuitäten und Brüche, in: Wolfgang Rose (Hrsg.), Anstaltspsychiatrie in der DDR. Die Brandenburgischen Kliniken zwischen 1945 und 1990, Berlin 2005, S. 179-244, bes. S. 225-232.
2 Carola Sachse, „Persilscheinkultur“. Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Kaiser-Wilhelm/Max-Planck-Gesellschaft, in: Bernd Weisbrod (Hrsg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002, S. 223-252.

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