: Wilhelm II.. Bd. 3: Der Weg in den Abgrund 1901-1941. München 2008 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-57779-6 1.611 S. € 49,90

: Auguste Victoria. Die letzte deutsche Kaiserin. Erfurt 2008 : Sutton Verlag, ISBN 978-3-86680-249-0 127 S. € 14,90

: Hermine. Die zweite Gemahlin von Wilhelm II.. Greiz 2007 : Verein für Greizer Geschichte e.V., ISBN ohne 104 S. € 12,50

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lothar Machtan, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bremen

Zwei hierzulande viel zitierte Historiker haben im letzten Jahr Lebenswerke von kolossalen Ausmaßen beendet: der kategorische Imperator der historischen Sozialwissenschaft Hans-Ulrich Wehler und der nicht minder strenge Richter des letzten deutschen Kaisers (Imperator Rex!) John C.G. Röhl. Zwei opera magna, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Und doch charakteristisch für die Pole, zwischen denen sich die deutsche Geschichtsschreibung in jüngster Zeit bewegt hat. Hier reichlich 3.000 Seiten Geschichte von der strukturellen Beschaffenheit unserer Gesellschaft der letzten 200 Jahre, unbarmherzig in seiner kritischen streng-systematischen Gelehrsamkeit, missionarisch in seinem geschichtspolitischen Belehrungseifer und unterhaltsam nur durch seine medisanten Spitzen gegen Andersdenkende – dort gar 4.000 Seiten akribisch recherchierte Monarchen- und Monarchie-Geschichte, fokussiert auf letztlich nicht mehr als ein halbes Jahrhundert und biografisch so verdichtet, dass man bisweilen meint, in einer überdimensionierten Anklageschrift zu lesen, in einer personenzentrierten Quellenedition oder in einem (Un-)Bildungsroman, in allen Details immer lebendig und interessant verfasst als Erzählung über eine höchst problematische Herrscherpersönlichkeit, die aus eigenem Unvermögen an den Klippen der arcana imperii grandios scheiterte und dabei sein Volk mit in den Abgrund riss.

Wehler und Röhl sind Vertreter einer inzwischen pensionierten Historikergeneration, die sich untereinander wissenschaftlich nie haben verständigen können oder wollen. Ob ihre monumentalen Werke, die interessanterweise von ein und demselben renommierten Publikums-Verlag veröffentlicht und beworben werden, dauerhaft Bestand im Kanon der Wissenschaft von der Geschichte haben werden, hängt nicht zuletzt davon ab, wie sich die aktive Zunft dieser Hinterlassenschaft anzunehmen gewillt ist, wie gründlich-kritisch sie sich damit auseinandersetzt. Das – so scheint mir – ist bislang mit der „Gesellschaftsgeschichte“ des scharfsinnigen Synthetisierers Wehler auf weitaus produktivere Weise erfolgt als mit dem Lebenswerk des epischen Biografen Röhl, das diese reflektierte Aufmerksamkeit aber ebenso verdient hätte. Denn beide Werke sind auf ihre Weise genial – doch man kann, ja man darf sie nicht unwidersprochen im intellektuellen Raum stehen lassen. Im Folgenden geht es um einen kleinen Beitrag zu diesem Diskursgebot: die Examination von Band 3 der Röhl‘schen Kaiserbiografie.

Mit noch einmal 1611 Seiten hat dieses Werk nunmehr 15 Jahre nach Erscheinen des ersten Buches seinen Abschluss gefunden. Wohl nicht ganz im Sinne des Autors, der sein biografisches Zentralmassiv wahrscheinlich lieber in Gestalt von vier Gipfeln realisiert hätte. Das merkt man der Präsentation des wiederum gewaltigen Stoffes deutlich an. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, sind gerade einmal 14 Jahre des Kaiserlebens durchschritten – und der Leser ist bereits auf Seite 1176 angelangt. Die 150 Seiten, die sich dem fast 30-jährigen Lebensabschnitt von 1914 bis 1941 zuwenden, tragen denn auch zu deutlich die Handschrift eines Epiloges, der sich tatsächlich nicht mehr an den gewohnten Maßstäben der Röhl’schen Kunst messen lässt, (royale) Geschichte(n) so dokumentarisch exakt und breit wie möglich abzubilden. Das ist freilich insofern verschmerzbar, als für diesen Lebensabschnitt des Hohenzollernchefs inzwischen Forschungsergebnisse vorliegen, denen selbst der führende Experte auf diesem Gebiet nicht mehr viel hinzuzufügen vermöchte.1 Außerdem gelangt Röhl auch mit dieser Unwucht an das Hauptziel seiner – wie er selbst sagt – „kaiserlichen Obsession“ (S. 31), nämlich: Wilhelm II. vor der Geschichte den Prozess zu machen und ihn mit einer erdrückenden Fülle von „forensischen Beweisen“ (S. 29) ein für alle Mal schuldig zu sprechen.

Das Vorwort stellt ausdrücklich klar, dass sich an dem Koordinatensystem seiner Inspektion nichts geändert hat: der letzte deutsche Reichsmonarch bleibt für ihn der zentrale politische Motor auch der spätwilhelminischen Epoche. Zwar hätten sich seine innenpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten nach der Jahrhundertwende deutlich verringert, doch im außen- und militärpolitischen Bereich sei der Kaiser „ganz ohne Frage bis zum Kriegsausbruch 1914 die entscheidende Kraft“ (S. 24) gewesen. Dem Urquell dieser Überzeugung entspringt folgerichtig Röhls Masterplan, Deutschlands Weg in den Weltkrieg vor allem anderen „auf die Gedankenwelt, die Motive und die Machenschaften Kaiser Wilhelms II., seiner Hofclique und seiner Getreuen in Heer und Flotte“ zurückzuführen, die schon in der Vorkriegszeit den „fatalen Kurs“ gewählt und gesteuert hätten, das Reich durch eine militärische Niederwerfung Frankreichs zu einer „globalen Supermacht“ zu befördern – koste es, was es wolle (S. 24f.). Es war mithin der Kaiser persönlich, der Deutschland an den ‚point of no return‘ geführt habe, von dem die Katastrophe von 1914 ihren Anfang nahm. Soweit Röhls Ariadnefaden, mit dem er versucht hat, sich im Labyrinth einer geradezu überbordenden Überlieferung zu seinem Thema zurechtzufinden.

Und auch darin ist der Kaiser-Biograf sich treu geblieben: „Der Leser wird in diesem Buch kaum einen Satz finden, der nicht ein damals geschriebenes Zitat enthält oder durch ein solches belegt werden kann.“ Von dieser Darstellungsform verspricht er sich „einen enormen Gewinn an Unmittelbarkeit“; man könne dadurch die historische Entwicklung mit den Augen der Zeitgenossen sehen, „ihre Welt in ihren Worten“ erfahren (alles S. 24). Vom Standpunkt der analytischen und kontextualisierenden Quellenkritik ist dies vielleicht etwas naiv gedacht, da man ja die historischen Zitate (und ihre Subtexte) erst einmal angemessen zum Sprechen bringen muss, um sie dem heutigen Leserpublikum überhaupt verstehbar zu machen; sie sprechen ja eben keineswegs für sich selbst. Aber wenn man sie mit Röhl wie „Fingerabdrücke oder DNA-Proben in einem Kriminalfall“ nimmt, dann macht ihre exzessive Verwendung durchaus Sinn; nämlich den, „die eigentlichen Motive und Handlungen“ des kaiserlichen Probanden und seiner Komplizen zu bezeugen (S. 29).

Man muss diesem Ansatz nicht selbst huldigen, um dem Werk dennoch mit großem Respekt vor einer immensen Forscherleistung gegenüber zu treten. Und wenn man das dicke Buch zu Ende gelesen hat, wird man sich noch tiefer verneigen vor einem Historiker, der mit seinem Lebenswerk dafür gesorgt hat, dass wir jetzt (fast) alles über Deutschlands letzten Kaiser wissen. Ob wir das alles auch wissen müssen, um unsere Geschichte besser zu verstehen, sei einmal dahingestellt. Bisweilen erhält man den Eindruck einer quellenübersättigten Darstellung, da einfach zu viel Stoff präsentiert wird; vor allem zu viel Rohstoff. Doch womöglich werden dereinst von Historikern gerade die Details und Aperçus gebraucht, die dem heutigen Leser überflüssig erscheinen. Deshalb sollten wir – mit Goethe alles nur in allem nehmend – nicht undankbar sein für die immense Fülle an (vielfach unerhörtem) Quellenmaterial, das Röhl uns rezitierend aufbereitet und annotiert hat. Handelt es sich doch um einen historischen Wissensschatz mit veritablem Erkenntnispotenzial – ein Erkenntnispotenzial, das von Röhl freilich auf sehr eigenwillige Weise ausgedeutet wird.

So bleibt seine Darstellung der Außenpolitik ausschließlich auf die gedankliche Vorgabe fixiert, dass Wilhelm mit seiner „großangelegten Weltmachtstrategie“ das „Endziel“ verfolgt habe, „das Deutsche Reich anstelle von England als vorrangige deutsche Weltmacht zu etablieren“ (S. 48). Nun war der deutsche Kaiser aber alles andere als ein kühler Stratege, der in prospektiven Kategorien und Zielvorgaben dachte oder gar programmatisch machtpolitisch zu handeln vermochte, so dass man die stringente Logik seiner Weltmachtphantasien vielleicht doch nicht so ernst nehmen kann, wie Röhl dies durchgängig tut. Schon wahr: auf welches außenpolitische Parkett sich Wilhelm II. zu Beginn des letzten Jahrhunderts auch begab, überall richtete er mit seiner präpotenten Weltmachtrhetorik ein diplomatisches Fiasko an, das sich für Deutschlands Stellung im internationalen Mächtekonzert schädlich auswirkte. Aber war er wirklich der primäre Verursacher alles dessen, was das deutsche Kaiserreich immer mehr in die Isolation trieb? War es wirklich so, dass bei Wilhelm II. „die anti-englische, kriegsbereite Haltung“ (S. 887) unaufhörlich zunahm? War es tatsächlich seine Hoffnung in die Achse Deutschland-Österreich-Türkei, die jene unverbrüchliche „Nibelungentreue zum untergehenden Habsburgerreich“ (S. 772) hervorbrachte, welche dann den Konflikt mit Russland um die Vorherrschaft auf dem Balkan so gefährlich eskalieren ließ? Sah der deutsche Kaiser schon Ende 1912 einem eventuellen Weltkrieg mit den drei Entente-Mächten fest ins Gesicht? Und vor allem: Vergrößerte sich die Abhängigkeit der Wilhelmstraße vom Träger der Kaiserkrone schon am Vorabend des Ersten Weltkriegs derartig, dass der Reichsmonarch zum zentralen Entscheidungsträger über Krieg oder Frieden wurde? Es gibt Historiker, die dies anders sehen, und zwar mit durchaus plausiblen Gründen.2 Doch Röhl ist da ganz sicher. Und er muss es sein, weil er diese Annahmen zur Herleitung seiner Kernthese braucht, wonach es eben Kaiser Wilhelm II. war, dem die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zufalle. Er habe in der Julikrise „gravierende Entscheidungen gefällt, ohne welche die Weltgeschichte zweifellos anders verlaufen wäre“ (S. 1068). Konkret: Mit seiner prinzipiellen Bereitschaft zum Krieg, seinem militaristischen Denken und seinen ungebrochenen Weltmachtambitionen habe sich der Kaiser gleich nach dem Attentat von Sarajewo auf die Seite der Befürworter auch eines womöglich ‚großen Krieges’ geschlagen, wobei er „im vollem Bewusstsein der schwerwiegenden möglichen Folgen seiner Entschließungen handelte“ (S. 1082). Theoretisch, meint Röhl, hätte ein Einlenken der deutschen Reichsleitung auch Ende Juli 1914 noch die „unermessliche Katastrophe“ verhindern können, weil die Verantwortlichen doch eigentlich erkennen mussten, dass sie ihre kriegstreiberischen „Machinationen“ auf illusionären Voraussetzungen vor allem bündnispolitischer Art aufgebaut hatten. Aber der Glaube an die Unbesiegbarkeit der deutschen Truppen sowie die Unfähigkeit, über die Konsequenzen des nicht zu verhindernden Kriegseintritts der Briten nachzudenken, ließen sie ihr „Hasardspiel“ bis zum bitteren Ende fortführen. Und auch Wilhelm zeigte sich allen momentanen Zögerlichkeiten zum Trotz weder willens noch in der Lage, „in dieser fortgeschrittenen Stunde der Eskalation“ noch einen Kurswechsel durchzusetzen (S. 1147f.). Seine Rolle an der Schwelle zum Weltkrieg steht vielmehr „für panische Verwirrung und für einen an Wahnsinn grenzenden Realitätsverlust“ (S. 1148).

Die Kriegsschuldthese Röhls steht und fällt natürlich damit, wie der Autor das sogenannte persönliche Regiment des letzten deutschen Kaisers im politischen System des Kaiserreichs graviert. Konsequenterweise bietet die Darstellung auch zu diesem Komplex – wie schon im Vorgängerband – sehr viel Quellenstoff, mit dem Röhl gewissermaßen gegen Wolfgang J. Mommsen anschreibt. Der hat bekanntlich vor wenigen Jahren reklamiert, dass der Kaiser eben nicht an allem schuld war, sondern vor allem in der Ära Bülow (1901-1909) er eher durch den Reichskanzler und die hohe Staatsbürokratie mit berechnender Unterwürfigkeit instrumentalisiert worden sei.3 Demgegenüber beharrt Röhl bei seiner Vermessung der tatsächlichen Machtfülle des preußisch-deutschen Imperators darauf, dass die Vorherrschaft des kaiserlichen Willens in der großen Politik ungebrochen blieb. Eigensinnige politische Vorstellung habe auch Wilhelms „Bismarck“, Reichskanzler Bernhard von Bülow, keine gehabt, geschweige denn gegen konträre Auffassungen seines Allerhöchsten Herrn durchzusetzen gewagt, der ihn denn auch folgerichtig sein „Bülowchen“ nannte. Dieser Kanzler habe an nichts mehr gearbeitet als daran, sich das Wohlwollen und Vertrauen seines Kaisers zu erhalten; er war nur allzu bereit, dessen autokratisches Verhalten „bis zur Selbstverleugnung mitzutragen“ (S. 140). Und mit seinen „Zauberkünsten des Byzantinismus“ (S. 144) forderte er Wilhelms maßlose Selbstüberschätzung nur noch weiter heraus. Auch gegenüber seinen Ministerkollegen in Preußen und im Reich habe Bülow nichts unternommen, um die unter seinen beiden Vorgängern verlorene politische Autorität des Reichskanzlers seit dem erzwungenen Abgang des Reichsgründers wiederherzustellen. So blieb das anachronistische Herrschaftssystem auch unter Bülow in schönster Blüte – mit „verheerenden“, ja „unheilbringenden“ Auswirkungen auf die politische Kultur: „Verwirrung und Unterwürfigkeit in der Regierungsspitze, die Dominanz der drei kaiserlichen Kabinettschefs und anderer Hofbeamter und –militärs über die verantwortlichen Instanzen, und ein wachsender Einfluss unberufener Ratgeber auf den Kaiser“ (S. 153).

Das alles ist unbestreitbar, nur übersieht Röhl, dass die Verfassung des deutschen Reiches (und übrigens auch der bundesfürstlichen Einzelstaaten) nun einmal so konstruiert war – nach dem sogenannten monarchischen Prinzip nämlich, das für weit mehr als nur Ideologie stand. Wesentlich war darin, dass der Monarch in sich alle Rechte der Staatsgewalt vereinigte. Das heißt: Souverän war einzig und allein die Person des Fürsten, und zwar in seiner Funktion als Staat. Ein Staatssubjekt jenseits des fürstlichen Souveräns existierte in Deutschland bis 1918 leider nicht. Auch das kaiserliche Kabinett und der Hofstaat waren nicht Bestandteil des Staatsorganismus, sondern unterstanden ausschließlich dem Monarchen ganz persönlich. Dieser Charakter seines privat-politischen Machtapparates spiegelt am deutlichsten den Anspruch des/der Monarchen wider, in seiner/ihrer Person zugleich den Staat darzustellen – in Preußen ebenso wie in Sachsen, in Bayern und im Reich. Die „byzantinische Rückgratlosigkeit“ (S. 159), die sich Röhl zufolge in den politischen Funktionseliten ausbreitete, war insofern weit mehr dem anti-demokratischen Wesen des politischen Systems geschuldet als den spezifischen Allüren seiner reichsmonarchischen Inkarnation von Gottes Gnaden. Seine faktische Machtfülle verdankte sich dem Konstruktionsprinzip der Bismarck’schen Reichsverfassung, die bekanntlich erst im Oktober 1918 reformiert wurde – zu spät, um die Monarchie in Deutschland noch retten zu können. Unter dieser Perspektive wird man zwangsläufig auch die Akzeptanzbereitschaft weiter Teile des parteipolitischen Establishments gegenüber eben diesem monarchischen Prinzip für die Verwerfungen der politischen Kultur im Kaiserreich in Mithaftung nehmen müssen; dessen Nichterwärmung für die Idee der Volkssouveränität – Volkssouveränität so verstanden, dass die Staatsgewalt nicht nur vom Volk auszugehen habe, sondern das Volk auch Träger der Staatsgewalt sein müsse. Doch für ein solches politisches Ziel, den radikalen Gegenentwurf zur Fürstensouveränität, gab es weder im deutschen Reichstag noch in den Länderparlamenten vor 1914 eine Mehrheit. Insofern sollte man auch die von Röhl reklamierten Anzeichen für das zu Beginn des 20. Jahrhundert in der Gesellschaft immer mehr um sich greifende Empfinden nicht überschätzen, „dass die ‚sultanischen Regierungsmethoden’, die Wilhelm II. praktizierte, vollkommen unzeitgemäß waren und für das deutsche Volk eine Schmach darstellten“ (S. 694). So sahen das viele Deutsche damals eben leider nicht – darunter bedauerlicherweise auch viele kluge Köpfe.

Richtig ist freilich, dass die Kumulation von Eulenburg-Skandal und Daily Telegraph-Affäre in den Jahren 1907/08 Wilhelms Thron auf nie da gewesene Weise erschütterte und zu einer Beschränkung seiner Selbstherrlichkeit führte. Über das, was inzwischen speziell über diese markanten Krisenauslöser geforscht worden ist, geht auch Röhls Darstellung empirisch nicht hinaus. Doch was folgert er daraus? Während Kaiser Wilhelm das prestigepolitische Ausmaß dieser seiner persönlichen Katastrophen erst allmählich dämmerte, sei Reichskanzler Bülow angesichts des anhaltenden Entrüstungssturmes gar keine andere Wahl geblieben, als sich von seinem Souverän öffentlich zu distanzieren – wollte er weiter an der Macht bleiben. Unter diesen Auspizien kam es im Reichstag Anfang November 1908 zu den bisher schärfsten Angriffen der politischen Parteien auf das Persönliche Regiment, die Röhl sehr ausführlich wiedergibt, deren prinzipiell systemkritische Stoßkraft er aber überschätzt. Die endliche Überwindung des monarchischen Prinzips zugunsten einer parlamentarisch-demokratischen Umstrukturierung des politischen Systems – mithin die effektive Beschränkung der Macht des Souveräns – stand für die Parlamentsmehrheit auch angesichts des Katastrophen-Kaisers nicht auf der Tageordnung. Und so verspielten die Volksvertretung bzw. die nicht minder erregte politische Öffentlichkeit ihre Chance, diese Krise zum entschiedenen Einklagen von Systemreformen zu nutzen. Das darf man bei der Beurteilung der politischen Konstellation in jenen kritischen Tagen einfach nicht übersehen. Wenn einem Mann wie Bülows Nachfolger, dem Staatssekretär Theobald von Bethmann Hollweg, damals die Worte entfuhren: „Noch ein solcher Tag, und wir haben die Republik!“ (S. 729), so indiziert dies, was politisch damals möglich gewesen wäre, wenn die deutschen Parlamentarier mehr politischen Willen zur Remedur gehabt hätten. Das eigentliche Problem mit diesem Reichsmonarchen war, dass er als solcher spätestens 1908 aus dem Verkehr hätte gezogen werden müssen – es aber weit und breit niemanden gab, der dies hätte bewerkstelligen können, und sich auch kein fürstlicher Kandidat anbot, mit dem das Reich den entscheidenden Schritt in die politische Moderne hätte tun können. Insofern liegt die „Schuld“ eher an der Beschaffenheit der politischen Kultur im Kaiserreich, in den Konstruktionsprinzipien der Bismarck’schen Reichsgründung, im deutschen Monarchie-Modell, in der Unfähigkeit von Wilhelms bundesfürstlichen Kollegen und in der Hasenfüßigkeit von Regierung und Parlament. Sie alle haben versagt.

Wie viel selbstherrliche Verfügungsgewalt der sichtlich angeschlagene Kaiser selbst nach den Krisen von 1907/08 sich noch hatte erhalten und wie viel Einfluss seine unberufenen Ratgeber hatten bewahren können, zeigt Röhl dann am Beispiel der Ablösung Bülows durch Bethmann Hollweg im Sommer 1909 auf. „Die skandalöse Oberflächlichkeit, mit der diese Entscheidung gefällt wurde, bietet aber auch ein Paradebeispiel für die anachronistische Untauglichkeit des ‚persönlichen Regiments’“ (S. 793). Diverse Kandidaten wurden gehandelt, bis der sichtlich entnervte Kaiser schließlich am 7. Juli 1909 auf dem Weg zum Tennisspiel, dem zunächst von ihm und der Kaiserin abgelehnten Staatssekretär aus dem Reichsamt des Innern den Zuschlag gab. Der neue Reichskanzler Bethmann Hollweg habe sich freilich schnell in die ihm zugewiesene „Rolle als ausführendes Organ des kaiserlichen Willens hineingelebt“ (S. 798). So gut, dass sich Kaiser Wilhelm II. wieder ungeniert zum Leiter der deutschen Außen- und Militärpolitik aufschwingen konnte, als habe es die Anfechtungen der Krisenjahre 1907/08 gar nicht gegeben. Und in dieser Dominanz agierte er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges mehr oder minder unangefochten. So gehörte das Kaiserreich am Vorabend dieser Urkatastrophe für Röhl zwar mit Blick auf Industrie, Handel, Wissenschaften, seine Kunst und Kultur „ohne Frage zu den führenden Nationen der Welt, nur sein politisches System war hoffnungslos überholt, rückwärts gewandt und heillos mit den Idealen der friederizianischen Kriegermonarchie kontaminiert“ (S. 1011). Mit einem Wort: auch seine Kritik des Wilhelminischen Herrschaftssystems führt ihrerseits zum argumentativen Fluchtpunkt 1914. Der „fatale Sprung ins Dunkle“, den die deutschen Souveräne mit Kaiser Wilhelm II. an der Spitze im Sommer 1914 ihrem Volk zumuteten, ging nicht zum wenigsten aus ihrem „Gefühl der Ausweglosigkeit angesichts der Lage im eigenen Land“ (S. 1013) hervor. Mit der Bereitschaft zum Krieg wollten sie dem sonst unabwendbaren politischen Offenbarungseid entgehen, „der immer höher steigenden demokratischen Flutwelle im Innern“ (S. 1036) nicht mehr gewachsen zu sein.

Die Betrachtung des Kaisers in den mehr als vier weltbewegenden Kriegsjahren ist Röhl nur noch knapp 70 Textseiten wert. Die Begründung dafür lautet, „dass mit Kriegsbeginn Wilhelm politisch dramatisch an Bedeutung einbüßt, militärisch aber ohnehin nie Bedeutung erlangt“ (S. 1176) habe. Das überzeugt nicht wirklich, denn für die Politik des Reiches blieb der Reichsmonarch durchaus ein zentraler Faktor. Ja, man kann sogar mit Fug und Recht behaupten, dass seine Rolle nun erst recht zu einem Gravitationspunkt für Deutschlands Schicksal wurde. Zum einen dadurch, dass er zu Kriegsbeginn durch Selbst- und Fremdinszenierung noch einmal zu einer glaubwürdigen nationalen Integrationsfigur aufgebaut werden konnte und für kurze aber entscheidende Zeit so etwas wie echte Popularität gewann, was dem viel zitierten „Augusterlebnis“ eine mentalitätsgeschichtlich nicht ganz unbedeutende sentimentalmonarchische Einfärbung gab. Zum zweiten dadurch, dass seine (fiktive) Rolle als Oberster Kriegsherr nach außen hin selbst von denjenigen unhinterfragt blieb, die ihn als Militär in keiner Weise mehr ernst nahmen. Schließlich durch seinen ungebrochenen Einfluss auf alle Personalentscheidungen, die das Führungspersonal von Armee und Staatsapparat betrafen. Zwar wurde diese immer noch herausragende, immer noch exemte Stellung schon ab 1915 von verschiedenen Punkten aus unterminiert, etwa den Bismarck- bzw. Hindenburg-Mythos, der den (hohenzollernschen) Fürstenmythos zusehends in den Schatten stellte; den Reputationsverlust beim hohen Offizierskorps, den der Kaiser mit seinem Dilettantismus, seinem Wankelmut und seinen dynastisch-höfischen Allüren hervorrief; schließlich die eklatante Entfremdung von seinem Volk, die seine gewollte Abwesenheit von Berlin implizierte. Auch die von Röhl zu Recht betonte „weitgehende Selbstausschaltung“ (S. 1197) des Monarchen aus der (inneren) Politik wirkte in diese Richtung. Und dennoch lässt sich die Geschichte des Ersten Weltkriegs ohne die Personalie Kaiser Wilhelm II. ebenso wenig verstehen und schreiben wie die Geschichte des Wilhelminischen Reiches in den Jahren davor. Als dynastischer Charakter, als ‚regierender Monarch’ und als Mensch ist Wilhelm sich auch in den letzten vier Jahren seiner Regentschaft in jeder Hinsicht treu geblieben, so dass es verfehlt wäre, ihn hier mit anderen Maßstäben zu messen. Doch Röhl interessiert sich jetzt vorzugsweise für die Seiten seines Probanden, die er bei der Untersuchung vorangegangener Lebensabschnitte eher unterbelichtet hat: seine extreme Unsicherheit und Teilnahmslosigkeit, die Neigung zur dilatorischen Behandlung von politischen Problemen, seinen religiös eingefärbten Fatalismus, die manisch-depressiven Gemütsschwankungen. Und auf einmal ist auch die Erkenntnis da, dass der Großteil der kaiserlichen Redereien „hauptsächlich der psychischen Entlastung dienten und nicht buchstäblich aufzufassen waren“ (S. 1202). Das alles soll es vor 1914 nicht gegeben haben?

Röhl beschreibt, wie geflissentlich das Gefolge nun mehr denn je um das „labile Nervenkostüm“ ihres allergnädigsten Herrn besorgt blieb, wie es sein Möglichste tat, den immer anfälligeren Kaiser vor der unbehaglichen Kriegs-Wirklichkeit abzuschotten. Schon 1916 wurden selbst in monarchischen Kreisen die Zweifel an den Führungs-Qualitäten dieses Souveräns immer größer. Und dennoch, auch die „katastrophalen“ Entscheidungen von 1917 will Röhl wie gehabt vorzugsweise diesem nur mehr Schattenkaiser anlasten: den uneingeschränkten U-Bootkrieg oder den anhaltenden Widerstand der Reichsregierung gegenüber Forderungen nach Demokratisierung und den Sturz von Bethmann Hollweg, der bekanntlich der 3. Obersten Heeresleitung einen unheilvollen Machtzuwachs bescherte. Das ganze Drama des kaiserlichen Abgangs von der Bühne, die er 30 Jahre zuvor betreten hatte, hält Röhl uns aber leider vor – er lässt seinen ungeliebten Helden einfach so aus der Geschichte fallen, auf nicht einmal 10 Seiten. Das ist dann doch – nach 3.000 Seiten Vorgeschichte – ein verschenktes Finale.

Was Röhl dann noch über das Leben des abgedankten Monarchen im niederländischen Exil schreibt, ist – wie erwähnt – schon weitgehend erforscht. Vielleicht hätte etwas weniger Bestürzung des Autors über „die entsetzlichen kaiserlichen Ansichten dieser letzten Lebensjahre“ (S. 1272) erkennbarer gemacht, dass den Ex-Kaiser schon damals niemand mehr politisch ernst nahm – weder der entthronte Herrscherstand, noch die preußischen Konservativen und erst recht nicht die völkischen Kreise. Alle wussten, dass mit diesem Bankrotteur weder eine politische Restaurationsbewegung noch ein autoritärer Staat mehr zu machen waren. Insofern erscheint auch das Verdikt abwegig, wonach Wilhelm II. mit seinem unsäglichen Schwadronieren über Militärdiktatur, Führersehnsüchte, jüdische Weltverschwörung, Revanchekrieg und ähnliches schon in den 1920er-Jahren „die Leitgedanken des Dritten Reiches vorwegnahm“ (S. 1281). Denn bricht man all diese kruden Ergüsse auf die seelische Befindlichkeit eines traumatisierten, tief beschämten und im Grunde resignierten Exilanten ohne Macht und Einfluss herunter, so nehmen sich seine Rückhaltlosigkeiten weit wenig „furchterregend“ (S. 1296) aus, als Röhl sie offenbar empfindet, sondern einfach nur geschmacklos und krank. Schon gar nicht veranschaulichen sie „unverkennbare Kontinuitäten zwischen der Wilhelminischen Ära und dem Dritten Reich“ (S. 1326).

Versuchen wir ein Fazit. Wirklich problematisch ist an diesem beherzten Zugriff auf den letzten deutschen Kaiser dieses: Röhl kauft Wilhelm II. seine verschrobene Selbsteinschätzung und -anbetung als persönlicher Monarch zu leicht als funktionierende politische Praxis ab, die doch ihren Artikulationsformen nach zu urteilen in der Hauptsache Selbstagitation war. Dafür hat der Biograf eine hohe Hypothek aufnehmen müssen: die konsequente Stilisierung seines Protagonisten zum alleinigen Kapitän des deutschen Staatsschiffes, der sich zusehends als Geisterfahrer erweist, so dass die Havarie schließlich unvermeidlich wird. Richtig ist zwar, dass der deutsche Kaiser aufgrund der Bismarckschen Konstruktion seines Reiches als souveräner Fürstenbund politisch mehr zu bestellen hatte als manche seiner europäischen Kollegen. Doch was er trotz aller autokratischen Allüren daraus machte, qualifizierte ihn noch längst nicht zu einer politischen Führungspersönlichkeit – auch nicht ex negativo. Ganz im Gegenteil: Je persönlicher er zu regieren trachtete, umso mehr diskreditierte und konterkarierte er diesen seinen Führungsanspruch. Man lese nur seine Briefe an Max Fürstenberg oder den österreichisch-ungarischen Thronfolger „Franzi“ Ferdinand im Katastrophenjahr 1908. Was Röhl da seitenlang zitiert (und für bare Münze nimmt), sind die Elaborate einer kranken Seele, einer hin- und hergerissenen Persönlichkeiten, halb König halb Mensch, der massiven Manipulationen seitens seiner Gattin und diverser Günstlinge ausgesetzt war; der sich in etwas hineingesteigert hatte, von dem er sich psychische Sicherheit versprach; der um Mitleid bettelt; der vor unlösbaren Aufgaben steht; der aber genötigt wird, nicht alles hin zu schmeißen. Ein gar nicht mehr (selbst)herrlicher Kaiser – mit dem Rücken zur Wand.

Dieser Kaiser war in seinem Wesenskern eine sehr schwache Natur, die aber lebenslang darauf programmiert blieb, Kraft und Aggressivität zu demonstrieren. Wilhelms Welt wimmelte nur so von Gegnern (vermeintlichen und wirklichen), mit denen er sich in einem unablässigen Kampf sah. Er war vermutlich 'manisch-depressiv' und fiel auch sonst oft von einem Extrem ins andere. Er war ein larmoyanter Egomane, der nur zu oft jede Feinfühligkeit vermissen ließ. Maßlos in seinen abschätzigen Urteilen über Leute, die ihm gerade nicht passten. Zugleich war er extrem gefallsüchtig und anerkennungsbedürftig; zu jeder Form der Selbstinszenierung bereit, wenn er sich davon einen Popularitätszuwachs versprach. Aber alle diese Charakterschwächen und Allüren darf man als wissenschaftlicher Biograf nicht für sich sprechen lassen. Man muss sie auch zu erklären suchen, im vorliegenden Fall auf zwei unterschiedlichen Ebenen.

Zum einen wirft Wilhelms Erscheinungsbild schon die Frage auf, ob dieser Herrscher immer ganz bei sich war. In bestimmten Zügen scheint seine Persönlichkeit sich tatsächlich auf die Grenze zum Psychopathen hinbewegt zu haben. Wie krank er tatsächlich war, wird man wohl nicht mehr klären können, aber man muss es in Rechnung stellen, ohne ihn damit gleich zum Irren abzustempeln, der er nach meiner Auffassung nicht war. Das Zweite ist: Wilhelm war schon mit der Rolle, die ihm als preußischer Thronprätendent von außen zugeschrieben wurde, heillos überfordert. Seine Adaption dieser Zuschreibung hat das Dilemma dann noch einmal enorm verschärft. Insofern hat dieser Hochadelsspross, der eben niemals das humane Kapital erlangte, um seine kaiserliche Machtposition nach der charakterlichen Seite hin auszufüllen, auch unser tieferes Verständnis seiner menschlichen Misere, seiner Armseligkeit verdient. Und mehr noch: Wilhelm war bisweilen auch durchaus klug in seiner Beurteilung politischer Konstellationen oder von Zeitgenossen, die er nicht selten durchschaute. Er besaß eine rasche, nicht selten bis zum Kern eines komplexen Problems durchdringende Auffassungsgabe. Er konnte charmant, bisweilen auch witzig sein. Und er war ein gewandter, vielseitig begabter Staatsschauspieler und ein versierter Medienstar. Dies alles darf, muss man gerecht abwägend würdigen, wenn man die definitive Biografie über ihn schreiben will.

Das ist das eine. Das andere ist sein im engeren Sinne politisches Format. Röhls (forschungs-)strategische Fehleinschätzung des politischen Gewichts, das sein Protagonist auf die Waage (der historisch-kritischen Beurteilung) brachte, hat zu einem Knick in seiner Untersuchungsoptik geführt, die seit dem Erscheinen seiner Kaiserbiografie kritisiert wurde und wird – am schärfsten von der Meisterklasse der Bielefelder Schule, die die Röhl’sche Historiographie in methodischer wie erkenntnistheoretischer Hinsicht für nachgerade anachronistisch erklären. Erst kürzlich hat sich Ute Frevert im „Spiegel“ (Nr.39/2008) noch ausgesprochen glaubenseifrig (und etwas scheelsüchtig) darüber echauffiert. Die diversen Nachteile des Röhlschen Ansatzes liegen in der Tat auf der Hand; Martin Kohlrausch hat das sachlich überzeugend, aber wesentlich konzilianter in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 1. Oktober 2008 entwickelt.

Aber diesen Mankos zum Trotz darf man nicht unter den Tisch kehren, dass Röhl mit seinem Werk uns eine grandiose Perspektive auf eine Sphäre in der Kulturgeschichte des Politischen eröffnet, die in dieser Tiefenschärfe und Farbigkeit bislang noch nicht zu sehen war: Die Sphäre des Kommunizierens und des Machens von sogenannter großer Politik in den arcana imperii. Erst seine gänzlich ungenierten Nahaufnahmen dieses Szenarios, seine minutiöse Rekonstruktion bzw. -formulierung der „geheimen“ Gesprächskultur, sein Präparieren des allzumenschlichen Faktors in den zum Teil sehr bizarren Grabenkämpfen um Macht, Anerkennung und Einfluss in der Spitzenformation der politischen Klasse – diesen enormen Forscherleistungen verdanken wir eine anschauliche Vorstellung davon, wie das Geschäftsleben im Schaltraum der deutschen Reichspolitik zwischen Bismarck und Bethmann-Hollweg überhaupt ausgesehen hat – eine deprimierende Vorstellung, muss man sogleich hinzufügen. Denn Röhl hat diese Welt dermaßen entzaubert, dass von Glanz und Gloria auf diesem Sektor fürderhin keine Rede mehr wird sein können. Mit anderen Worten: was da vorschnell und wohlfeil in großen Nachrichtenmagazinen als „Schlüssellochperspektive“ denunziert wird, erweist sich bei nachdenklicher Betrachtung als ein Vorgehen, dem wir ganz wesentliche Aufschlüsse über ein Schlüsselthema verdanken, nämlich: was für ein absonderliches Geschäft die Politik der deutschen Reichsleitung doch war, wenn man ihren Ober-Machern im Lichte ungeschönter Selbstzeugnisse so dicht zu Leibe rückt, wie Röhl dies mit unverstelltem Blick auf Wilhelm II. und seinen Entgegenarbeitern getan hat. Welch ein Bild des Dilettantismus, der Überhebung und der Unvernunft, in welchen Winkel der königlichen camera caritatis man auch leuchtet! Und weit und breit kein deutscher Bundesfürst, kein Kanzler, kein Geheimkabinettschef, kein Minister, kein Staatssekretär, aber auch kein General oder doch wenigstens Oberhofprediger, der hier Remedur eingeklagt hätte. Man wundert sich, wie ernst Wilhelm II. innerhalb seines artifiziellen Mikrokosmos noch zu einer Zeit genommen wurde, wo er öffentlich bereits gnadenlos karikiert wurde. Und insofern hält Röhl mit seinem schonungslosen Portrait des letzten deutschen Kaisers dem kompletten Ensemble der obersten Systemträger den Spiegel vor. Ein Verdienst, das man gar nicht hoch genug loben kann. Wohlgemerkt, in den von Röhl (re-)konstruierten Ränken und Idiosynkrasien erschöpft sich nicht das komplexe Wesen von Großer Politik schlechthin – auch unter den etwas apokryphen Bedingungen des Wilhelminismus nicht. Aber sie sind ein wichtiger und keineswegs zu ignorierender Teil desselben. Und deshalb ist es ganz wichtig, so viel wie möglich über die Atmosphäre in den (Berliner) Schaltzentralen der Macht und auch über die Verdikte und Attitüden der Männer zu erfahren, die dort so exklusiv und nahezu unkontrolliert walten konnten. Mit einem Wort: dieser Teil des Röhl’schen „Kaisermordes“ ist bestens legitimiert und historiographisch perfekt durchgeführt. Auch in dem Sinne, dass man sieht, was der deutschen Politik und ihrer Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts am meisten Not tat: das Aufhören der höfischen und konservativ-aristokratischen Cliquenwirtschaft und Selbstherrlichkeit, wie es eben nur auf dem Nährboden des monarchischen Prinzips gedeihen konnte. Anders gesagt, der endliche Durchbruch des Prinzips der Volkssouveränität.

Wenn eingangs davon die Rede war, dass wir nach drei Bänden Röhl nur mehr fast alles über den letzten deutschen Kaiser wissen, so bezieht sich diese Einschränkung namentlich auf seine beiden Ehefrauen: die Kaiserin Auguste Victoria (1858-1921), mit der er seit 1881 verheiratet, und Hermine, seine zweite Gemahlin, die seit 1922 an seiner Seite war. Vieles spricht aber dafür, dass man die Bedeutung Bedeutung zumindest der ersten der beiden Lebensgefährtinnen für die Biografie des Monarchen auf keinen Fall unterschätzen darf – weder in psychologischer noch in politischer Hinsicht. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Forschung dieser beiden Aristokratinnen aus jeweils eher bescheidenen Fürstenhäusern noch kaum angenommen hat. Und auch Röhls Kaiserbiografie hat dieses Desiderat nicht beseitigt. Schon insofern lohnt vielleicht ein Blick in zwei kleinere Studien, die sich jüngst an einer Beschreibung der beiden Frau-Leben versucht haben.

Vielleicht. Denn Elizza Erbstößer hat im Stil klassischer Hofhistoriographie ein lebensgeschichtliches Portrait der letzten deutschen Kaiserin erstellt, das sein Publikum wohl hauptsächlich im Milieu des bis heute nicht verschwundenen nostalgischen Sentimentalmonarchismus sucht. Mit diversen Rührseligkeiten, aber auch unverkennbar apologetischen Verdikten wird dieses Bedürfnis auf gut 100 entsprechend nett illustrierten Seiten bedient. Der Refrain dieses Lobliedes lautet: „Die zunächst unbedeutende Prinzessin wurde zur populären Kaiserin, geachtet als vorbildliche Mutter und Ehefrau und geliebt wegen ihres unermüdlichen Einsatzes für die Unterprivilegierten“ (Klappentext). Man könnte über solche Scharteken schnell hinweggehen, wenn dieser biografischen Affirmative nicht eine Dissertation zugrunde läge, die von niemand geringerem als Lothar Gall betreut und promoviert wurde – jenem Historiker, dem das Genre der wissenschaftlichen Biografie so viel zu verdanken hat. Man kann daher kaum glauben, dass es sich hier um den Verschnitt einer veritablen Doktorarbeit handelt, selbst wenn man die Zwangsgesetze der populärwissenschaftlichen Literatur dabei in Rechnung stellt. Nicht eine der Quellen, aus denen die Darstellung reichlich schöpft, wird nachgewiesen. Alle historisch-kritische Forschungsliteratur zu der behandelten Thematik wird mit Ignoranz gestraft. Und im Epilog wird dann auch noch darüber gejammert, dass in Bad Homburg eine „äußerst durchsetzungsfähige“ Mitbegründerin der örtlichen CDU 1947 den „irrationalen“ Frevel begangen habe, das dortige Kaiserin-Auguste-Victoria-Lyzeum nach 42 Jahren seines Namens zu „berauben“ (S.122f.). Damit gibt sich dieses Booklet in seinem Motivationskern als ein erinnerungspolitisches Manifest zu erkennen, „unsere unvergessene Kaiserin“ doch bitte sehr in ihre früheren Ehrenrechte wieder einzusetzen – ein sicherlich gut gemeintes Bemühen, doch ganz indiskutabel, wenn man es an wissenschaftlichen Maßstäben misst. Somit bleibt das Postulat, eine hohen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie der letzten deutschen Kaiserin zu erarbeiten, denn es lässt sich begründet vermuten, dass gerade diese Frau familien-, dynastie- und herrschaftspolitisch einiges dazu beigetragen hat, dass das deutsche Monarchie-Modell im frühen 20. Jahrhundert so eklatant havarierte. Zwischen 1908 und 1918 dürfte sie ihrem preußischen Lebenspartner sogar so etwas wie die conditio sine qua non seines kaiserlichen Daseins gewesen sein.

Gegenüber dem, was Elizza Erbstößer über Victoria Luise publiziert hat, ist das Büchlein von Friedhild den Toom und Sven Michael Klein über Hermine wesentlich seriöser gearbeitet. Das liegt nicht allein an den zahlreichen Fußnoten, die den Text empirisch absichern; sondern auch an dem bescheidenem Anspruch der Autoren, hier nur einen Anfangsbaustein für eine noch ausstehende gründliche Auseinandersetzung mit dieser Lebensgeschichte vorgelegt zu haben. Der historischen Adels- und Politikforschung bietet die wohltuend unprätentiös dargebotene Biografie der 1888 geborene Prinzessin Reuss (Älterer Linie), die Wilhelm II. als 34-jährige Witwe und Mutter von fünf Kindern 1922 heiratete und in wesentlich moderneren Formen diente als ihre Vorgängerin, freilich wenig Neues – weder quellenmäßig noch interpretatorisch. Dennoch ist die Studie als Einstiegslektüre für die Exiljahre Wilhelms, aber auch für die politischen Illusionen und Empfänglichkeiten des entthronten deutschen Herrscherstandes durchaus nicht ohne Wert und Nutzen. Ihr Kokettieren mit Hitler vor allem in den Jahren 1929 bis 1934 soll Hermine, die seit Oktober 1945 bis zu ihrem Tod im August 1947 in Frankfurt/Oder unter sowjetischem Hausarrest stand, übrigens nach dem katastrophalen Ende des Dritten Reiches als Irrtum eingesehen haben. Das ehrt sie. Ob die historische Rolle, die Hermine – sei es als Persönlichkeit, sei es als Kaisergattin oder sei es als politisierende Aristokratin – gespielt hat, eine große Biografie wirklich lohnt, muss allerdings nach Lektüre dieser mit großem Wohlwollen und Sympathie geschrieben Lebensskizze eher wieder bezweifelt werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. vor allem Holger Afflerbach (Hrsg.), Kaiser Wilhelm als Oberster Kriegsherr im Ersten Weltkrieg, München 2005; Stefan Malinowski, Vom König zum Führer, Berlin 2003; Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, Berlin 2005; Lothar Machtan, Der Kaisersohn bei Hitler, Hamburg 2006 und Willibald Gutsche, Ein Kaiser im Exil, Marburg 1991.
2 Vgl. vor allem Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, 1871-1945, München 2008.
3 Wolfgang J. Mommsen, War der Kaiser an allem schuld? Wilhelm II. und die preußisch-deutschen Machteliten, München 2002.

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