I. A. Diekmann (Hrsg.): Jüdisches Brandenburg

Cover
Titel
Jüdisches Brandenburg. Geschichte und Gegenwart


Herausgeber
Diekmann, Irene A.
Erschienen
Anzahl Seiten
688 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kurt Schilde, Universität Siegen

Nachdem in den 1990er-Jahren einige regionalgeschichtliche Publikationen zur Geschichte des Judentums in Brandenburg erschienen sind1, hat Irene Diekmann nun mehr als ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen des "Wegweisers durch das jüdische Brandenburg"2 eine neue umfangreiche Textsammlung zum Thema herausgegeben. Das Buch informiert über Geschichte und Gegenwart der jüdischen Bevölkerungsminderheit im heutigen Bundesland Brandenburg – mit vereinzelten Verweisen in die Zukunft.

Der Sammelband besteht aus einer Fülle von Ortsbeschreibungen und Essaykapiteln, von denen hier nur einige ausgewählte Artikel exemplarisch vorgestellt werden. Beispielsweise geht Klaus Arlt in seinem Beitrag auf Juden in Potsdam ein, deren Existenz er seit dem 17. Jahrhundert nachweisen kann. Die dortige jüdische Gemeinde hatte (und hat) enge Kontakte zur Jüdischen Gemeinde Berlins. Arlt erinnert an den Bau der ersten 1767 eingeweihten Synagoge und die erheblichen finanziellen Lasten, die der preußische König Friedrich II. von "seinen" Juden verlangte: Seit 1769 mussten sie eine Zwangsabgabe für Porzellan aus der Königlichen Porzellan-Manufaktur leisten, auf deren Bezahlung der König wiederholt gedrängt hatte. In Potsdam – wie in anderen Orten – gab es ein reges Gemeindeleben und zahlreiche soziale Aktivitäten. Der 1851 entstandene Jüdische Frauenverein betreute Wöchnerinnen sowie Witwen und Waisen. Zudem gab es eine unentgeltliche ärztliche Behandlung bedürftiger Gemeindemitglieder. Zur Potsdamer Synagogengemeinde gehörten ab 1856 auch die wenigen Juden in Drewitz, Ahrensdorf, Bornim, Werder und Ketzin, seit 1891 Nowawes und Neuendorf und ab 1900 Neubabelsberg und Kleinglienicke. Die nach dem 1900 erfolgten Abriss des alten Tempels 1903 eingeweihte neue Synagoge wurde in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 – wie es in einem Bericht heißt – "restlos auf den Leisten geschlagen" (S. 287). Die Novemberpogrome werden in mehreren weiteren Artikeln angesprochen. Das bei einem Bombenangriff im April 1945 zerstörte Gebäude wurde 1955 abgerissen. Mit den Deportationen in die Vernichtungslager endete die jüdische Existenz in Potsdam – wie in den anderen jüdischen Gemeinden in Brandenburg. Erst 1991 erfolgte mit der Gründung der Jüdischen Gemeinde Land Brandenburg ein Neubeginn jüdischen Lebens in Potsdam und Brandenburg.

In einem weiteren beispielhaft zu erwähnenden Ortskapitel zu Rathenow (Bettina Götze) wird neben der Geschichte der jüdischen Gemeinde, dem Bau der Synagogen, Friedhöfe und ausgewählten Lebensgeschichten auf das Hachschara-Lager Steckelsdorf in der Nähe von Rathenow eingegangen. In dem dortigen Landwerk sind bis zum Novemberpogrom 1938 junge Juden auf die Auswanderung und das Leben in Palästina vorbereitet worden.3 Heute befindet sich dort ein Kinderheim. Während Steckelsdorf dem "Bund religiöser Pioniere" unterstand, wurde die in dem Ortsartikel zu Eberswalde (Ingrid Fischer) dargestellte Ausbildung auf dem Gut Polenzwerder von der "Jüdischen Nationalen Jugend" verantwortet.

Die Beiträge zu Beelitz (Wolfgang Stamnitz), Brandenburg/Havel (Irene A. Diekmann), Finsterwalde/Niederlausitz (Rainer Ernst), Frankfurt/Oder (Brigitte Meier), Guben (Andreas Peter), Lindow (Stefanie Oswalt, sie hat noch einen Essay zu Kurt Tucholsky und Else Weil in Rheinsberg beigesteuert), Luckenwalde (Detlev Riemer), Neuruppin (Uwe Schürmann), Oderbruch (Reinhard Schmook) und Prenzlau (Gerhard Kohn) sind unterschiedlich ausführlich. Sie informieren – illustriert mit vielen Fotografien und Dokumenten – über das frühere jüdische Leben in diesen Orten, über Synagogen und Vereine, Industrie- und Handelsunternehmen und die Teilhabe der jüdischen Bevölkerung am öffentlichen Leben. Hinzu kommen biografische Skizzen und Hinweise auf besondere Ereignisse. Das Jahr 1933 mit der Machtübernahme durch die NSDAP bildete den Anfang vom Ende der jüdischen Gemeinden. Es begann mit dem 'April-Boykott' von jüdischen Geschäften, setzte sich mit dem Novemberpogrom 1938 fort und endete mit den 1941 beginnenden Massendeportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Die Befreiung durch die sowjetische Armee erlebten nur wenige Menschen. Einige Artikel werden mit Auskünften auf weiterführende Literatur, Gedenktafeln, Denkmale, Straßennamen, Friedhöfe, Standorte von Synagogen, Religionsschulen usw. komplettiert. Die Texte regen an, diese Orte aufzusuchen und deren Geschichte kennenzulernen.

Abgesehen von den bis 1990 langsam sichtbar werdenden Wiederbelebungen jüdischen Lebens in einigen DDR-Städten,4 ist es erst nach der Zuwanderung aus der zerfallenden Sowjetunion ab 1991 möglich geworden, wieder jüdische Gemeinden aufzubauen. Wie schwierig dieser Prozess war und bis heute ist, hat Wolfgang Weißleder in dem ersten der Essaykapitel beschrieben: Von den 7.500 in das neue Bundesland Brandenburg zugewiesenen "Kontingentflüchtlingen" aus der früheren Sowjetunion sind weniger als die Hälfte geblieben. Von ihnen hat nur ein knappes Viertel die Aufnahme in eine jüdische Gemeinde beantragt. Nach wechselvollen Entwicklungen scheint die Entwicklung jetzt zu einer gewissen Stabilisierung gekommen zu sein. Diese ist allerdings von rechtsextremistischen Schmierereien, Brandanschlägen und Schlägereien überschattet.

Die Beiträge zur Ortsgeschichte stammen zumeist von heimatgeschichtlich engagierten Personen (Pfarrern, Lehrern, Museumsleuten) sowie Geschichtswissenschaftlerinnen. Die Essays sind von Museums- und Archivmitarbeitern sowie von geschichts-, rechts-, religionswissenschaftlich qualifizierten Männern und Frauen. Sie präsentieren – teilweise mit Überschneidungen zu den Ortsartikeln – verschiedene Themen: Es geht um den Perleberger Judenhof (Dieter Hoffmann-Axthelm), Moses Mendelssohns Weg von Dessau nach Berlin (Wolfgang Holtz/Klaus Matußek), jüdische Studenten an der Viadrina – eine der ersten deutschen Universitäten, die Juden ihre Pforten öffnete – und hebräischen Buchdruck in Frankfurt/Oder (Ralf-Rüdiger Targiel). Vorgestellt wird die Geschichte von Manufakturen in Potsdam (Lutz Beckert), das Gut Schulzendorf der Kaufhausfamilie N. Israel sowie das Gut Schenkendorf des Verlegers Rudolf Mosse (Kristina Hübener) – beide aus Berlin. Der Text über Heiligblutlegenden (Gerlinde Strohmaier-Wiederanders) stellt Verbindungen zu einigen Ortsartikeln her, in denen es um eine "Wunderblutlegende" und "Judenköpfe" (Beelitz), eine "Judensau" (u.a. in Eberswalde), einen Hostienschändungsprozess (1510 in Brandenburg) und andere antisemitische Darstellungen geht. Wohltätige Aktivitäten werden sowohl in dem Beitrag über Heil-, Pflege- und Erziehungsanstalten für geistig behinderte und psychisch kranke Juden unter Berücksichtigung der "Euthanasie" genannten NS-Krankenmorde (Annette Hinz-Wessels) als auch in der Studie über das aus einem Erholungs- und Kinderheim, einer Hauswirtschaftsschule und einer Tagungsstätte bestehende Jüdische Erholungsheim Lehnitz in Oranienburg (Bodo Becker) behandelt. Abgerundet wird der Band mit den Essays über Theodor Fontane und die Judenfrage – z.B. klagte der Dichter über zu viele Juden in seinem Badeort Karlsbad – (Michael Fleischer) und über die Beziehung zwischen Lola Landau und Armin T. Wegner (Peter Böthig). Die relativ kurzen Beiträge zu jüdischen Tabakhändlern und jüdischen Räuberbanden (Lutz Libert) wirken etwas deplaziert. Bei den Texten über einen Briefwechsel der 1939 nach Großbritannien gelangten Ruth Neumann mit ihren in Schöneiche zurückbleibenden Eltern (Jani Pietsch) und über die mehrfachen Enteignungen des der Familie Mendelssohn-Bartholdy gehörenden Schlosses Börnicke (Julius H. Schoeps) handelt es sich um Nachdrucke.

Der Anhang enthält neben einer zehnseitigen Chronologie ein Glossar jüdischer Termini sowie Personen- und Ortsregister. Angesichts der voluminösen Publikation klingt der Verweis, dass nur eine Auswahl von Orten und Themen präsentiert werden konnte, etwas zu bescheiden. Tatsächlich wurde gerade mal ein Beitrag zu Cottbus vermisst.5 Angesichts des sichtbaren Engagements aller Beteiligten ist zu wünschen, dass das anvisierte größere Forschungsprojekt mit dem Ziel eines Kompendiums zur Geschichte der Juden in Brandenburg realisiert werden kann.

Anmerkungen:
1 Klaus Arlt u.a., Zeugnisse jüdischer Kultur. Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Berlin 1993. Michael Brocke u.a., Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), Berlin 1994. Stefanie Endlich u.a., Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. Band II: Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen. Hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1999.
2 Irene Diekmann / Julius H. Schoeps (Hrsg.), Wegweiser durch das jüdische Brandenburg, Berlin 1995. Von ihr stammt auch: Irene Diekmann (Hrsg.), Wegweiser durch das jüdische Mecklenburg-Vorpommern. (= Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Band 2), Potsdam 1998.
3 Hachschara ist hebräisch und meint die berufliche Vorbereitung für ein Leben in Palästina bzw. Israel. Vgl. zu Steckelsdorf die Erinnerungen von Ezra BenGershôm, David. Aufzeichnungen eines Überlebenden". Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt am Main 1993, S. 111-199. Zu dem Netz von Hachschara-Lagern in Brandenburg vgl. Andreas Paetz / Karin Weiss (Hrsg.), "Hachschara". Die Vorbereitung junger Juden auf die Auswanderung nach Palästina, Potsdam 1999.
4 Vgl. u.a. Ulrike Offenberg, "Seid vorsichtig gegen die Machthaber". Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR, Berlin 1998. Lothar Mertens, Davidstern unter Hammer und Sichel. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ/DDR und ihre Behandlung durch Partei und Staat 1945-1990, Hildesheim 1997.
5 Vgl. Wolfgang Hammerschmidt, Spurensuche. Zur Geschichte der jüdischen Familie Hammerschmidt. Neuausgabe, Gießen 1998.

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