Cover
Titel
Die Niederlande. Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Wielenga, Friso
Erschienen
Münster 2008: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Strupp, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg Email:

In den letzten Jahren haben in der zeitgeschichtlichen Forschung und Lehre europäische und transnationale Themen deutlich an Gewicht gewonnen. Damit wächst auch für die kleineren europäischen Länder der Bedarf an Gesamtdarstellungen ihrer neuesten Geschichte, die als Grundlage für Seminare und weiterführende Forschungen geeignet sind. Für die Niederlande lag in deutscher Sprache bisher noch keine ausführliche, wissenschaftlich fundierte Darstellung ihrer Geschichte im 20. Jahrhundert vor. Diese Lücke ist nun mit dem neuen Buch Friso Wielengas überzeugend geschlossen. Wielenga ist Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien in Münster und durch zahlreiche Veröffentlichungen vor allem zur Geschichte der deutsch-niederländischen Beziehungen nach 1945 hervorgetreten.

In seiner Darstellung legt Wielenga den Schwerpunkt auf die innenpolitischen Entwicklungen in den Niederlanden, wie der Untertitel bereits andeutet. Wirtschaft und Außenpolitik werden ergänzend behandelt. In sechs Hauptkapiteln schlägt er den Bogen von der Etablierung des modernen politischen Systems Anfang der 1870er-Jahre über die Zwischenkriegs- und Kriegszeit, den Wiederaufbau nach 1945 und die politisch und gesellschaftlich unruhigen 1960er-Jahre bis in die Gegenwart der Regierung des derzeitigen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende. Wielenga beschreibt somit ein langes 20. Jahrhundert, das sich im Gegensatz zur deutschen Geschichte in diesem Zeitraum dadurch auszeichnet, dass es kaum tiefe Zäsuren und dramatische politische Einschnitte gab. Stattdessen prägten Kontinuität, Stabilität und sukzessive Weiterentwicklungen des politischen Systems das Bild. Sie gründeten sich weniger auf gesellschaftlichen Konsens und nationale Einheit als auf die pragmatische Zusammenarbeit der Eliten an der Spitze. Wielenga betont, dass auch in den Niederlanden erhebliche Konfliktpotentiale vorhanden waren, die sich aus religiösen, regionalen und sozialen Differenzen speisten. Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern kamen sie hier aber nie in gewalttätiger Form zum Ausbruch.

Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts bereits im Jahr 1870 beginnen zu lassen, mag zunächst überraschen, aber ohne die beiden großen Themen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit denen Wielenga beginnt – der „Schulstreit“, bei dem es um die Finanzierung privater, konfessionell gebundener Schulen ging, sowie die Ausweitung des Wahlrechts und die Einbeziehung neuer gesellschaftlicher Schichten in das politische System – sind wesentliche Entwicklungen in den Niederlanden nach 1900 tatsächlich nicht zu verstehen. Protestanten und Katholiken auf der einen sowie bürgerliche Liberale und Arbeiterbewegung auf der anderen Seite fanden für beides in der „Befriedung“ von 1917 eine Lösung in Form eines historischen Verfassungskompromisses, der allen Seiten gerecht wurde. Am Ende des Ersten Weltkriegs, in dem die Niederlande ihre Neutralität hatte wahren können, blieben damit größere revolutionäre Unruhen aus. Die friedliche Einigung der politischen Eliten in der Schul- und Wahlrechtsfrage forcierte jedoch die Spaltung der niederländischen Gesellschaft in unterschiedliche, weltanschaulich gebundene Milieus, die „Säulen“, die in den zwanziger und dreißiger Jahren, aber auch noch im ersten Jahrzehnt nach 1945 die Lebenswelt der meisten Menschen bestimmten.

Die gesamte Zwischenkriegszeit war durch die pragmatische Zusammenarbeit der konfessionellen und liberalen Parteien gekennzeichnet. Zwar regierten zwischen 1918 und 1940 nur drei verschiedene Ministerpräsidenten – der Katholik Ruys de Beerenbrouck, dessen Berufung 1918 einen Meilenstein katholischer Emanzipation in der protestantisch-calvinistisch geprägten Gesellschaft der Niederlande bedeutet hatte, sowie Dirk Jan de Geer und Hendrik Colijn, der „starke Mann“ der Niederlande, der die Jahre von 1933 bis 1939 prägte – aber die Kabinette wechselten häufiger, und die Regierungskrisen verdeutlichten die Fortdauer inhaltlicher Gegensätze und die geringe Gestaltungskraft der Koalitionen. Die Sozialdemokraten blieben politisch isoliert und schafften erst 1939 den Sprung in die Regierung.

Wirtschaftlich waren die 1920er-Jahre in den Niederlanden noch von positiven Entwicklungen gekennzeichnet – darunter umfassenden Modernisierungen der Infrastruktur mit spektakulären Projekten wie dem Abschlussdeich und der Einpolderung der Zuiderzee. In den 1930er-Jahren trug dann die Haushalts- und Währungspolitik Colijns, die Wielenga als ideenlos und kontraproduktiv kritisiert, dazu bei, dass die Weltwirtschaftskrise hier noch dramatischere Züge annahm als in vielen westeuropäischen Nachbarländern. Dennoch hielt das politische System den Belastungen stand: Weder links- noch rechtsradikalen Parteien, auch nicht der 1931 gegründeten „Nationaal Socialistische Beweging“ (NSB) des Ingenieurs Anton Mussert, gelangen substantielle Einbrüche in die Wählerschaft, und Ministerpräsident Colijn selbst gab autoritären Tendenzen im bürgerlichen Lager nicht nach.

In ihren äußeren Beziehungen hatten sich die Niederlande nach dem Ersten Weltkrieg von dem Konzept strikter Neutralität verabschiedet und verfolgten stattdessen eine Form der „Selbständigkeitspolitik“, die zwar Bündnisverpflichtungen weiterhin scheute, aber die Mitarbeit in kollektiven Sicherheitssystemen wie dem Völkerbund ermöglichte. Wielenga macht dabei deutlich, dass die moralische Überhöhung dieser Politik in Europa nur mühsam mit der Kolonialherrschaft in Südostasien zu vereinbaren war. In der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre kehrte man zur klassischen Neutralitätspolitik zurück. Colijn bemühte sich, gleichermaßen Abstand zu Großbritannien und dem nationalsozialistischen Deutschland zu halten. Allerdings nahmen die deutschen Kriegsplanungen auf die Niederlande diesmal keine Rücksicht – am 10. Mai 1940 endete mit dem Überfall deutscher Truppen auch für die Niederlande die Zwischenkriegszeit.

Die fünf Jahre der deutschen Besatzungsherrschaft, den wohl am intensivsten untersuchten Abschnitt der niederländischen Geschichte, gliedert Wielenga in vier Phasen, in denen der Druck auf die Bevölkerung, die wirtschaftliche Ausbeutung und die Brutalität der deutschen Maßnahmen gegen die Juden und den niederländischen Widerstand immer weiter zunahm. Die Darstellung folgt hier allgemeinen Tendenzen der Forschung seit den frühen 1980er-Jahren, die das in der öffentlichen Wahrnehmung vorherrschende Bild vieler „Guter“ und weniger „Falscher“ in der Bevölkerung erheblich differenziert hat. Die Erfahrungen des Krieges schienen eine politische Neuorientierung jenseits der „Säulen“ erforderlich zu machen, über die in der niederländischen Exilregierung in London und in Widerstandskreisen intensiv diskutiert wurde. 1945 wurden diese Erwartungen aber nicht erfüllt, sondern Politik und Gesellschaft formierten sich entlang der alten Muster.

Insofern standen auch die Jahre des Wiederaufbaus im Zeichen gesellschaftlicher und politischer Kontinuität, wenngleich Wielenga hervorhebt, dass sich die Parteien von Weltanschauungs- zu Programmparteien wandelten und die Sozialdemokraten nun ein fester Bestandteil des politischen Establishments geworden waren. Von 1948 bis 1958 stellten sie mit dem populären Willem Drees sogar erstmals den Ministerpräsidenten. Mit einer aktiveren, wissenschaftlich begründeten Wirtschaftspolitik, dem Aufbau eines leistungsfähigen Sozialstaats, einer Neuorientierung der Außenpolitik auf Europa und die NATO sowie dem erzwungenen Abschied vom niederländischen Kolonialreich kam es zudem in zentralen Politikbereichen zu inhaltlichen Weiterentwicklungen.

Ansonsten hält Wielenga aber an den langen 1960er-Jahren als der entscheidenden Umbruchphase auf dem Weg zu einer modernen Gesellschaftsordnung fest. Eine Dekade der Säkularisierung und „Entsäulung“, der Liberalisierung gesellschaftlicher Normen und politischer Kräfteverschiebungen im liberalen und sozialdemokratischen Lager nach links mündete 1973 in die Regierung Joop den Uyls. Sein Programm einer weitreichenden Reformpolitik, der Umverteilung des Wohlstands zugunsten breiter Bevölkerungsschichten und einer an moralischen Prinzipien orientierten kritischen Außenpolitik konnte er unter dem Druck innenpolitischer und wirtschaftlicher Krisen allerdings nur eingeschränkt verwirklichen. Bereits 1977 wurde seine Regierung von einer Koalition aus den nun im Christendemocratisch Appèl (CDA) zusammengeschlossenen konfessionellen Parteien und den Rechtsliberalen abgelöst. Dennoch symbolisieren die Jahre den Uyls für Wielenga die erfolgreiche Integration größerer Teile der Protestbewegung der 1960er-Jahre in den politischen Mainstream des Landes, die hier erneut geräuschloser verlief als etwa in Frankreich oder der Bundesrepublik.

In seinem letzten Kapitel, das die Darstellung von den späten 1970er-Jahren bis 2007 fortführt, schildert Wielenga zunächst die politischen Erfolge des christdemokratischen CDA, der von 1977 bis 1994 in wechselnden Koalitionen tonangebend war. Unter Ruud Lubbers, der ab 1982 bis 1994 regierte und damit eine der längsten ununterbrochenen Amtszeiten aller niederländischen Ministerpräsidenten erreichte, wurden die Haushaltssanierung und der Umbau des niederländischen Sozialstaates vorangetrieben. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit von Politik, Arbeitgebern und Gewerkschaften bildete die Grundlage des „Poldermodells“, das unter Lubbers’ sozialdemokratischem Nachfolger Wim Kok auch international Beachtung fand. Kok war 1994 nach einer historischen Parlamentswahl ins Amt gekommen, die mit massiven Einbrüchen für Christdemokraten und Sozialdemokraten und einem hohen Anteil an Wechselwählern den endgültigen Abschied von den „Säulen“ markierte. Koks „violette Koalition“ aus Sozialdemokraten und Liberalen war die erste und einzige niederländische Regierung seit 1918 ohne Beteiligung konfessioneller Parteien. Bis zu ihrem Ende 2002 stand sie für einen pragmatisch-nüchternen, unideologischen Politikstil.

Eine gewisse Farblosigkeit und politische Abnutzungserscheinungen bereiteten dann den Boden für den politischen Paradiesvogel Pim Fortuyn, der im Frühjahr 2002 etablierte Verhaltensmuster der niederländischen Politik massiv in Frage stellte und dabei so erfolgreich war, dass das Amt des Ministerpräsidenten in Reichweite schien. Von dem Schock des Attentats auf Fortuyn wenige Tage vor der Parlamentswahl im Mai 2002 und der Ermordung des islam-kritischen Filmregisseurs Theo van Gogh zweieinhalb Jahre später haben sich die Niederlande bis heute nur mühsam erholt. Noch immer geht es für das niederländische politische Establishment um die „Suche nach Normalität“. Wielenga geht abschließend davon aus, dass die Instabilität des Parteiensystems und der Einfluss populistischer Strömungen wohl dauerhaft erhalten bleiben werden und die letzten Jahre damit tatsächlich einen Bruch in der politischen Kultur des Landes markieren.

Friso Wielenga hat mit seiner Politikgeschichte der Niederlande im 20. Jahrhundert eine ausgewogene und gut verständliche Darstellung vorgelegt, die auch für denjenigen mit Gewinn zu lesen ist, der mit Themen und Personen der niederländischen Geschichte weniger vertraut ist. Zwar hätte man sich gelegentlich noch etwas mehr kulturelle Kontextualisierung gewünscht – etwa zu den 1960er-Jahren, bei denen verschiedene Themen und Aktionen der Protestbewegung recht knapp behandelt werden – aber dafür sind die Einführungen in Literatur und Forschungsstand positiv hervorzuheben, die bei einer Reihe von Schlüsselaspekten wie der „Versäulung“, den Jahren des Zweiten Weltkriegs oder den Umbrüchen der Nachkriegszeit auch für Leser ohne Zugang zur niederländischen Forschung nachvollziehbar machen, wie heute gültige Interpretationen zustande gekommen sind. Wielengas umfassende Rezeption der Forschung und die sorgfältige Annotation ermöglichen durchgängig einen raschen Einstieg in die Spezialliteratur. Zahlreiche Abbildungen und Tabellen ergänzen den Text. Es ist zu hoffen, dass Wielengas Buch dazu beiträgt, das Interesse an niederländischer Zeitgeschichte in Lehre und Forschung in der Bundesrepublik zu steigern.

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