J.-D. Steinert: Nach Holocaust und Zwangsarbeit

Titel
Nach Holocaust und Zwangsarbeit. Britische humanitäre Hilfe in Deutschland. Die Helfer, die Befreiten und die Deutschen


Autor(en)
Steinert, Johannes-Dieter
Erschienen
Osnabrück 2007: Secolo-Verlag
Anzahl Seiten
215 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Schröder, Stadtarchiv Greven

Das Kriegsende 1945 und die Nachkriegsjahre in Deutschland sind sowohl in Überblicksdarstellungen als auch in diversen Spezialstudien immer wieder in den Blick genommen worden. Dabei sind als Bevölkerungsgruppen zumeist entweder die Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen, also befreite ausländische KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die mit Kriegsende den Status als Displaced Persons (DPs) bekamen, oder die Deutschen, seien es Flüchtlinge und Vertriebene oder die im Nachkriegselend in ihren Heimatgegenden Verbliebenen in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt.1 Einen interessanten Perspektivwechsel bietet nun die vorliegende Studie von Johannes-Dieter Steinert, der auf alle Bevölkerungsgruppen einen Blick von außen wirft, indem er bislang unausgewertete Berichte, Briefe und Tagebuchauszüge britischer humanitärer Organisationen und ihrer Mitglieder heranzieht. Im Mittelpunkt seines Buches steht deren Hilfe in Deutschland, doch sei an dieser Stelle angemerkt, dass darunter bei Steinert vor allem die Britische Besatzungszone zu verstehen ist. Dabei nimmt er auch die britischen Helfer und ihre Interaktion mit NS-Opfern und Deutschen in den Fokus.

Humanitäre Auslandshilfe für Nachkriegsdeutschland ist in der historischen Forschung bislang eher randständig beachtet worden. In den letzten Jahren haben sich neue Möglichkeiten durch die Zugänglichkeit von Quellen ergeben, die in älteren Studien noch unberücksichtigt bleiben mussten. Daher bedarf die ältere Literatur dringend der Revision. Hinzu kommt, dass die wenigen einschlägigen Werke der letzten Jahre sich vornehmlich mit der humanitären Situation in der US-Zone oder der Hilfe aus den USA beschäftigt haben. Hier hat sich Steinert mit seiner regionalen Schwerpunktsetzung und breiten Quellenbasis in mehrfacher Hinsicht innovativ betätigt. Zudem schaut er nicht nur auf die finanziellen Aspekte des Themas, sondern bringt ein weites Verständnis internationaler humanitärer Hilfe mit, das auch Dienstleistungen jeder Art einbezieht und neben den staatlichen Hilfen auch die nichtstaatlichen berücksichtigt.

Zusätzlich geht Steinert auf die Rahmenbedingungen der beteiligten britischen humanitären Organisationen ein, unter ihnen das Britische Rote Kreuz, die Quäker, die Heilsarmee und andere. Ihr Selbstverständnis und ihre Vorerfahrungen insbesondere aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bilden notwendige Voraussetzungen für die Situation, in der sich diese Organisationen 1942 zum Council of British Societies for Relief Abroad (COBSRA) zusammenschlossen, um dann, weil es politisch nicht anders durchzusetzen war, unter der Ägide des Britischen Roten Kreuzes seit September 1944 kleine Hilfsteams mit den vorrückenden alliierten Truppen über Frankreich, Belgien und die Niederlande bis in den nordwestlichen Teil Deutschlands zu entsenden. Planung wurde gegenüber der Situation nach dem Ersten Weltkrieg zwar betrieben, jedoch von Unwägbarkeiten der Versorgungssituation und der psychischen Hilfsbedürftigkeit der Menschen in den durch die Alliierten besetzten Gebieten meist widerlegt. In diesem Sinne blieben die Helfer, aller Vorbereitungen zum Trotz, unzureichend ausgebildet und ausgestattet. Da die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), deren Teams diese Hilfe eigentlich leisten sollten, erst verspätet ab Frühsommer 1945 aktiv wurden, ist diese erste Einsatzphase der britischen Helfer für viele DPs in ihren Lagern, insbesondere nach der Befreiung des KZ Bergen-Belsen, zentral und wird hier ausführlich dargestellt.

Die thematische Bandbreite des Buches ist immens. Neben notwendigen organisationsgeschichtlichen Erläuterungen zur Planung und Realität der Hilfeleistungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Instanzen, Militär und sozial bzw. religiös motivierten zivilen Helfern kommen die harten Fakten nicht zu kurz: Wer sammelte in Großbritannien wie viel Geld und Sachmittel, wie wurde die Hilfe organisiert und die Spenden eingesetzt bzw. verteilt? Neben dieser wohlfahrtspflegerischen Seite ist gerade in der Kriegsendphase die medizinische Hilfe ein nicht zu vernachlässigender Faktor gewesen. Anschaulich wird vor allem die Notsituation in Deutschland, von der die Deutschen selbst zunächst nicht betroffen zu werden schienen. Schon aus politischen Gründen galten alle britischen Bemühungen zunächst den ausländischen Überlebenden des NS-Regimes in Deutschland, bevor der drohende Hungerwinter 1945/46 einen Kurswechsel einleitete, der mit der Hilfe für Deutsche auch das Ende des zuvor strikt angeordneten Fraternisierungsverbots bedeutete. In diesem Rahmen wirkten die britischen Helfer im Hintergrund auch beim Wiederaufbau deutscher Wohlfahrtsorganisationen mit, was nahezu vergessen war. Doch zunächst widmet sich Steinert der in unterschiedlichem Maße geleisteten Hilfe für die verschiedenen Gruppen: jüdische DPs, deutsche Juden (die zunächst als Deutsche galten, denen keine Hilfen gewährt werden sollten) und nicht-jüdische DPs, wobei immer wieder Kindern und Jugendlichen besonderes Augenmerk galt. Gerade bei den jüdischen DPs, bei deren politischem Status britische und amerikanische Politik weit voneinander entfernt waren, zeigt sich Steinerts Fähigkeit zu einer kritischen Darstellung mit einem abgewogenen Urteil.

Versorgungsengpässe auf Seiten der einheimischen, um Flüchtlinge und Vertriebene vergrößerten deutschen Bevölkerung in der Britischen Zone führten, über den Umweg des zunächst wieder in Gang gesetzten deutschen Gesundheitswesens, von Seiten der Briten zu der Erkenntnis, dass der Winter 1945/46 nur mit Lebensmittellieferungen – obwohl diese von den Alliierten nicht geplant waren – ohne Seuchen und Epidemien überstanden werden könne. Dieser Politikwechsel hatte Auswirkungen auf die beteiligten britischen Organisationen und ihre Teammitglieder, denn nicht alle begrüßten diesen Umschwung so vehement wie die Quäker mit ihrem christlich-pazifistischen Menschenbild. Auch Steinert stellt bei den humanitären Helfern erneut die bekannte Tendenz fest, dass im Laufe der Zeit die anfängliche Antipathie gegen die Deutschen und die Sympathie für die DPs die Plätze wechselten.

Die Betrachtung der mentalen Dispositionen der beteiligten Gruppen – der britischen Helfer, der DPs und der Deutschen – beleuchtet nochmals eindringlich, dass die humanitären Hilfsleistungen nicht nur bei den Gebenden, sondern auch bei den Empfangenden in ganz unterschiedlicher Weise rezipiert wurden. So ist besonders das Ergebnis ernüchternd, dass die mit Lebensmitteln belieferten Deutschen sich in aller Regel nicht dankbar zeigten, sondern sich vielmehr als Opfer kollektiver Bestrafung durch die Alliierten sahen, denen ein Anrecht auf Versorgung zukäme, ohne im Mindesten weder die schwierige Versorgungslage in Europa noch ihre eigene Verantwortung für den gerade beendeten Krieg zu berücksichtigen. Dieser Befund ergänzt aber treffend die in den letzten Jahren so öffentlichkeitswirksame Tendenz mancher Deutscher, die Notlagen des Krieges (wie alliierte Luftangriffe) und der Nachkriegszeit (wie Flucht und Vertreibung) von jeglicher Verantwortung zu lösen und damit das bequeme Schlüpfen in eine Opferrolle erst zu ermöglichen. Umso wichtiger ist dieses Buch, das zu Recht daran erinnert, wie viel Hilfe die Briten den Deutschen nach 1945 zukommen ließen – obwohl auch in Großbritannien die Versorgungslage nicht gerade einfach war.

Das Buch überzeugt durch eine ausgewogene Darstellung, veranschaulicht durch zahlreiche Zitate aus bislang ungenutzten Archivbeständen, durch seine kritische Herangehensweise und differenzierte Urteile. Dadurch wird ein erst auf den zweiten Blick zentraler Aspekt der britischen Besatzungspolitik, die Fürsorge und Versorgung aller Bevölkerungsgruppen als Grundlage für alle weitergehenden Fragen wie Repatriierung der DPs oder politischer Neuaufbau in Deutschland, in einem handlichen Umfang von knapp 200 Textseiten präsentiert, was das Buch zu einer wichtigen Lektüre über die Nachkriegsjahre macht. Bei speziellen Aspekten, wie der knapp dargestellten Kriminalität der DPs, bleibt Steinert allerdings hinter den Ergebnissen einiger lokal- und regionalgeschichtlicher Studien zurück 2, was angesichts der Literaturfülle zu jedem einzelnen der von ihm unter anderem Blickwinkel zusammenfassend betrachteten Themen jedoch nicht ausbleiben kann. Dieser Einwand schmälert seine Ergebnisse insgesamt jedoch nicht, denen ein rascher Eingang in einschlägige Handbücher zu wünschen ist.

Eine kleine Anmerkung sei noch gestattet: Die durchgängig benutzte Abkürzung „NGO“ mag heutzutage einigermaßen geläufig sein. Sie hätte jedoch mindestens bei der Erstnennung als „non-governmental organization“ aufgelöst werden müssen. Dass es sich dabei tatsächlich nicht um einen heutigen, sondern einen zeitgenössischen Begriff handelt, der schon 1945 Eingang in die Charta der Vereinten Nationen fand, wäre erwähnenswert gewesen.3

Anmerkungen:
1 Beispielhaft für die DPs: Jacobmeyer, Wolfgang, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951, Göttingen 1985; Königseder, Angelika; Wetzel, Juliane, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, aktualisierte Neuausgabe Frankfurt a. M. 2004; Für die Flüchtlinge und Vertriebenen: Benz, Wolfgang (Hrsg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen. Aktualisierte Neuausgabe Frankfurt am Main 1995.
2 Zum Beispiel Schröder, Stefan, Displaced Persons im Landkreis und in der Stadt Münster 1945-1951, Münster 2005, S. 202-234.
3 Siehe Kapitel 10, Artikel 71 der Charta <http://www.unric.org/index.php?option=com_content&task=view&id=108&Itemid=196p;Itemid=196> (7.6.2008).

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