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Titel
Bagdad, 1831-1869. Untersuchungen zur Entwicklung einer osmanischen Provinzhauptstadt im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Kayi, Kerem
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
526 S.
Preis
€ 82,70
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Leslie Brückner, Universität Freiburg

Die Geschichte der städtischen Zentren im Vorderen Orient ist ein wichtiges Forschungsgebiet der Orientalistik, zu dem in den letzten Jahren vermehrt differenzierte sozialgeschichtliche Studien erschienen sind. Zudem wird das osmanische 19. Jahrhundert, das lange Zeit als „dunkle Epoche“ in der Geschichte des Vorderen Orients galt, seit einigen Jahrzehnten verstärkt aufgearbeitet.

Vor diesem Hintergrund hat Kerem Kayi der städtischen Entwicklung Bagdads im 19. Jahrhundert eine umfangreiche Studie gewidmet. Während zur Blütezeit Bagdads unter der Abbassidendynastie (766-1258) umfassende Darstellungen vorliegen, wurde der späteren Stadtgeschichte, vor allem der osmanischen Periode, in der Forschung bisher wenig Beachtung geschenkt. Kayi arbeitet mit seiner Dissertation den bis dato unerforschten Zeitabschnitt zwischen der Entmachtung des Mamluken Davud Pascha (1817-1831), die das Ende der so genannten „Kölemen-Dynastie“ bedeutet, und dem Beginn der Amtszeit von Midhat Pascha im Jahre 1869, dessen Regierungszeit als Periode der Modernisierung Bagdads gilt, auf. Die Studie erschließt systematisch die Quellen zu Bagdad für diesen Zeitraum, sowohl die osmanischen Archivalien, als auch die Reiseberichte europäischer Diplomaten und Reisender. Eine Leitfrage des Bandes ist dabei, inwiefern sich die osmanischen Reformbemühungen (tanzimat) in dieser Zeitspanne auf die Entwicklung der entlegenen Provinzhauptstadt Bagdad ausgewirkt haben.

In vier Großkapiteln geht Kayi auf die Themen Topographie, Verwaltungsgliederung, Bevölkerungsgruppen und Baugeschichte Bagdads ein und leistet damit erstmals eine Gesamtdarstellung der verschiedenen Aspekte der Stadtgeschichte zwischen 1831 und 1869.

Nach einer Einleitung zur Methode und zur Quellenlage gibt der Autor im zweiten Kapitel einen Überblick über Lage und Stadtbild Bagdads im 19. Jahrhundert, wobei er ausführlich auf die prekäre geographische Situation der Stadt, die Isolation, sowie die Gefahr von Überschwemmungen, Seuchen und Hungersnöten eingeht. Das Stadtbild Bagdads wird anhand zeitgenössischer Zitate plastisch veranschaulicht.

Im dritten Kapitel stellt Kayi die osmanischen Verwaltungsstrukturen in Bagdad dar. Aus den vorhandenen Quellen, vor allem anhand offizieller Dokumente aus dem osmanischen Zentralarchiv in Istanbul, rekonstruiert er die Struktur der osmanischen politischen Elite in Bagdad. Dabei werden die Provinzgouverneure, die Paschas von Bagdad im 19. Jahrhundert, jeweils in biographischen Skizzen dargestellt. Schließlich werden Militär, Finanzwesen und Jurisprudenz in kurzen Kapiteln präsentiert, wobei Kayi unter anderem die Funktion der ab 1837 aus Istanbul entsandten Finanzverwalter (defterdare) untersucht.

Das vierte Kapitel beschreibt die verschiedenen ethnischen Gruppen und Religionsgemeinschaften der Stadtbevölkerung Bagdads im 19. Jahrhundert. Der Autor stellt die religiösen Gruppierungen – Muslime, Juden und Christen – in ihrer inneren Pluralität dar: so zerfällt etwa die muslimische Bevölkerung in sunnitische Muslime aus dem arabischen Raum und schiitische Muslime aus Persien, sowie in eine türkische Elite und arabische Einheimische. Kayi bemüht sich um ein differenziertes Bild der multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft Bagdads, wobei er vor allem auf die Funktion städtischer Eliten eingeht und den Einfluss lokaler Gruppierungen auf die ‚Schlüsselpositionen’ in Finanzwesen und Regierung Bagdads diskutiert.

Der fünfte Teil ist den städtebaulichen Veränderungen an den Monumenten der Stadt – Regierungsgebäuden, Moscheen, Kirchen und Synagogen – gewidmet. Hier befasst sich Kayi unter anderem mit der Frage, ob sich im Wiederaufbau der Stadt nach den Zerstörungen im Katastrophenjahr 1831 eine Veränderung des Baustils, eine Orientierung an europäischen oder Istanbuler Vorbildern bemerken lässt. Trotz der knappen finanziellen Ressourcen der Stadtverwaltung konstatiert der Autor für seinen Untersuchungszeitraum eine relativ rege Bautätigkeit.

Im Anhang der Studie befindet sich eine informative Zusammenstellung biographischer Daten und Literaturangaben zu über dreihundert Bagdader Persönlichkeiten sowie europäischen Reisenden, die sich im 19. Jahrhundert in Bagdad aufhielten. Der Band schließt mit einer außerordentlich umfassenden Bibliographie, in der Kayi sämtliche osmanische und europäische Quellen zur Stadtgeschichte Bagdads im 19. Jahrhundert, sowie literarische Texte und Sekundärliteratur in türkischer, arabischer und mehreren europäischen Sprachen erfasst.

Kayis detaillierte Studie richtet sich in erster Linie an den osmanistischen Fachgelehrten. Für Nicht-Orientalisten, die sich mit dem Thema beschäftigen, ist sie dennoch eine sehr nützliche Grundlage, allerdings wären ein Glossar der verwendeten türkischen Begriffe, sowie eine Karte der Bagdader Stadtteile hier hilfreich gewesen.

Eine Schwierigkeit, mit der der Autor trotz aller Genauigkeit zu kämpfen hat, liegt in der schlechten Quellenlage zu Bagdad im 19. Jahrhundert. So ist Kayi trotz intensiver Archivstudien in Istanbul dazu gezwungen, die Reiseberichte europäischer Reisender und Diplomaten als gleichwertige Quellen einzubeziehen, ja sie sogar stärker als die osmanischen Quellen zu gewichten. Daher muss die Darstellung gelegentlich hinter ihrem Anspruch, statistische Daten bereitzustellen, zurückbleiben – etwa im Fall der Einwohnerzahlen, wo der Autor für seinen Untersuchungszeitraum auf die unbefriedigend vagen Spekulationen diverser europäischer Reisender angewiesen bleibt (Vgl. S. 221f.). Mehrfach zwingt ihn die lückenhafte Quellenlage auch, auf Quellen außerhalb des Untersuchungszeitraums zurückzugreifen. Gelegentlich überschreitet Kayi den angegebenen Zeitraum seiner Studie selbst, um einen Bogen zu stadtgeschichtlichen Entwicklungen Bagdads im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu spannen. Bei diesen interessanten Kontextualisierungen stellt sich der Leser gelegentlich die Frage, ob es nicht lohnenswert wäre, die Studie, wie im Untertitel bereits angedeutet, auf das gesamte 19. Jahrhundert zu erweitern.

Insgesamt leistet die umfangreiche und fundierte Dissertation von Kerem Kayi einen wichtigen Beitrag zur Forschung, indem sie die vorhandenen Quellen zur Stadtgeschichte Bagdads zwischen 1831 und 1869 gewissenhaft erschließt. Die Studie ermöglicht damit einen ersten Überblick über die Kontinuitäten der städtischen Entwicklung Bagdads im 19. Jahrhundert. Die Frage nach der Reichweite der osmanischen Reformbemühungen in der irakischen Provinzhauptstadt kann im Rahmen dieser Studie ansatzweise positiv beantwortet werden. Ein wichtiger Schritt ist getan, es bleibt aber ein Desiderat der Forschung, im Rahmen weiterer Studien den Einfluss der tanzimat im Irak zu untersuchen. Kayis Buch stellt somit, nicht zuletzt durch seine bemerkenswerte bibliographische Vollständigkeit, eine wertvolle Ausgangsbasis für weitere Untersuchungen zu Bagdad und zur Entwicklung anderer Städte des Irak im 19. Jahrhundert dar.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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