R. Petri: Von der Autarkie zum Wirtschaftswunder

Titel
Von der Autarkie zum Wirtschaftswunder. Wirtschaftspolitik und industrieller Wandel in Italien 1935-1963


Autor(en)
Petri, Rolf
Reihe
Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 96
Erschienen
Tübingen 2001: Max Niemeyer Verlag
Anzahl Seiten
534 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Nuetzenadel, Historisches Seminar Universitaet zu Koeln

Italien, dass erst 1861 zur nationalen Einigung fand, gilt nicht nur als „verspätete Nation“, sondern auch als wirtschaftlicher „late-comer“. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war seine Volkswirtschaft überwiegend agrarisch geprägt, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang der Aufstieg in die Reihe der europäischen Industrienationen. Gerade die späte Industrialisierung hat Italien für viele Wirtschaftshistoriker zu einem interessanten Studienobjekt gemacht hat. Nicht zuletzt ausländische Historiker interessierten sich schon früh für den italienischen Sonderweg, der sich nicht nur vom englischen Industrialisierungsmodell, sondern auch von der Entwicklung in den meisten anderen kontinentaleuropäischen Ländern unterschied. Bereits 1966 ging Alexander Gerschenkron in seiner bahnbrechenden Untersuchung der Frage nach, wie sich Länder unter den Bedingungen der Rückständigkeit entwickeln können. Sein Blick richtete sich dabei besonders auf Italien, doch wie viele andere konzentrierte er sich auf den Zeitraum bis zum Ersten Weltkrieg. Die Wirtschaftsgeschichte der nachfolgenden faschistischen Ära wurde von der Forschung hingegen lange Zeit stiefmütterlich behandelt. Zu unbedeutend schien diese durch autarkistische Abschließung, korporative Misswirtschaft und stagnierende Wachstumsraten gekennzeichnete Phase, als dass man ihr eine Bedeutung für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung des Landes beimessen wollte.
Diese Forschungslücke wird nun von Rolf Petris Habilitationsschrift über die faschistischen Autarkiepolitik gefüllt. Sie dürfte auf absehbare Zeit das Standardwerk zu diesem Thema bleiben. Der Autor schildert nicht nur umsichtig die wichtigsten Etappen der Wirtschaftspolitik, sondern untersucht auch deren Konsequenzen und ordnet sie in die langfristige ökonomische Entwicklung des Landes ein. Dies gelingt ihm vor allem deshalb so überzeugend, weil er neben den gesamtwirtschaftlichen Trends auch mikroökonomische Veränderungen auf der Unternehmensebene berücksichtigt. Petri stützt sich dabei auf die neo-schupeterianische Ansätze, welche lange Wachstumszyklen auf Innovationen in industriellen Leitsektoren zurückführen.
Die Grundthese Petris lautet, dass die faschistische Autarkiepolitik zwar „an den kurzfristigen Zielen der Kriegswirtschaft fast vollständig vorbei“ (356) ging, die mit ihr verbundenen strukturpolitischen Maßnahmen jedoch auf lange Sicht eine beträchtliche Wirkung entfalteten. Das wichtigste Anliegen dieser Politik habe darin bestanden, durch gezielte Förderung zukunftsweisender Unternehmen (vor allem in den Bereichen Chemie, Elektrotechnik und Fahrzeugbau) die industrielle Entwicklung zu beschleunigen. Angesichts der technologischen Rückständigkeit des Landes sowie der Rohstoff- und Kapitalarmut sei es notwendig gewesen, den privaten Konsum einzuschränken, die Kapitalbildung durch eine Erhöhung der Sparquote zu fördern, Investitionen in strategisch wichtige Sektoren zu lenken und den Außenhandel einer rigorosen Zwangsbewirtschaftung zu unterwerfen. Die im Zeichen von Autarkie und Korporativismus durchgeführten Maßnahmen versteht der Autor als Bestandteil einer „neo-merkantilistischen“ Wachstumspolitik.
Wie Petri nachweisen kann, bedeutete Autarkie keineswegs die völlige Herauslösung des Landes aus der internationalen Arbeitsteilung. Vielmehr sei es darum gegangen, die Einfuhren auf diejenigen Kapital- und Vorleistungsgüter zu beschränken, die für die forcierte Industrialisierung benötigt wurden. Die hohe Zahl ausländischer Patentanmeldungen in den dreißiger Jahren belegt, dass Italien durch den Import moderner Technologien den Anschluss an internationale Produktionsstandards suchte. Zur Erwirtschaftung der dafür erforderlichen Devisen mussten Nahrungsgüter und bestimmte Fertigprodukte in hohem Umfang exportiert werden. Dies erklärt, warum die Exporte nach der offiziellen Proklamierung der Autarkie 1936 sogar vorübergehend wieder anstiegen.
Vor diesem Hintergrund revidiert Petri die in der Forschung dominierende These einer erratischen, ineffizienten und fehlgeleiteten Wirtschaftspolitik der faschistischen Ära. Zwar lagen die Wachstumsraten in jenen Jahren deutlich unter dem langfristigen Wachstumstrend des Landes, doch sei es fraglich, ob unter den Bedingungen eines freien Außenhandels und einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung bessere Ergebnisse erzielt worden wären. Überdies bezweifelt der Autor, dass solche Alternativen angesichts des Zusammenbruchs des internationalen Handels überhaupt realistisch waren. Vermutlich, so Petri, hätten „auch andere Regierungen als die faschistische mit einer anders bezeichneten Politik letztlich ähnliche Maßnahmen ergriffen und ähnliche Veränderungen bewirkt“. (416).
Es muss hier ausdrücklich betont werden, dass es dem Autor nicht um eine Aufwertung des faschistischen Regimes geht. Weder greift er die Diskussion über Faschismus und Modernisierung auf, noch folgt er der von James A. Gregor vertretene These, es habe sich bei Mussolinis Regime um eine „Entwicklungsdiktatur“ gehandelt. Eine solche Interpretation ist aus der Sicht Petris schon deshalb verfehlt, weil nicht die Parteifunktionäre und politischen Führer des Regimes für die Wirtschaftspolitik verantwortlich waren, sondern eine technokratische Funktionselite aus Unternehmern, Verbandsvertretern und leitenden Beamten der Staatsbürokratie, deren Zusammenarbeit mit dem faschistischen Regime auf einer „ideologisch begründete Verknüpfung von industriellem Fortschritt und Nationalismus“ basierte“ (334).
Die zweite große Frage, die Petris Buch aufgreift, betrifft die Kontinuität der Wirtschaftspolitik zwischen den dreißiger und den fünfziger Jahren. Ohne die politische und gesellschaftliche Zäsur der Jahre 1943/47 zu bestreiten, geht der Autor von einer „relativen Stetigkeit des strukturellen Wandels und der diesen Wandel begleitenden Wirtschaftspolitik“ aus (416). Noch während des Krieges hatten führende Wirtschaftspolitiker Planungen für die Nachkriegsordnungen angestellt, die - so Petri - zumindest in den Grundlinien nach 1945 übernommen wurden und die eine Fortführung der „neo-merkantilistischen Konzeption der aufholenden Industrialisierung“ bedeuteten. Dies ließe sich auch daran erkennen, dass die in den dreißiger Jahren entstanden staatlichen Industrieholdings weiter bestanden, leitende Funktionäre der Wirtschaftsbürokratie in ihren Stellungen blieben und die staatliche Industrialisierungspolitik, etwa im Mezzogiorno, weiter ausgebaut wurde. Neoliberale Positionen prägten - ähnlich wie in Westdeutschland - zwar die öffentliche Diskussion über den Wiederaufbau, konnten die Wirtschaftspolitik selbst aber nur wenig beeinflussen. Doch Petris Kontinuitätsthese bezieht sich nicht nur auf Ziele und Instrumente der Wirtschaftspolitik, sondern auch auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des Landes. Ohne die Investitionen und technologischen Innovationen der dreißiger Jahre sei der wirtschaftliche Aufschwung nach 1945 nicht zu erklären. Petri folgert daraus, dass die „Maßnahmen der Autarkieperiode den Wachstumszyklus der fünfziger Jahre konkret vorbereiten halfen“ (416).
Dies ist eine gewagte These, die im Widerspruch zu den gängigen Interpretationen des Nachkriegsbooms steht. Petri plädiert im Einklang mit neueren wachstumstheoretischen Ansätzen, technologischen Fortschritt als endogene Modellvariable zu behandeln, und dafür gibt es gute Gründe. Vielleicht hätte er aber noch stärker die neueren Diskussionen über das westeuropäische Nachkriegswachstum einbeziehen können, denn die Expansion in Italien vollzog sich natürlich nicht unabhängig von internationalen Faktoren. Ferner erscheint es - trotz aller von Petri zu Recht hervorgehobenen Kontinuitäten in der Industriepolitik - wenig plausibel, für die fünfziger und frühen sechziger Jahre von einem „Neomerkantilismus“ zu sprechen. Die Öffnung der italienischen Volkswirtschaft vollzog sich nach 1945 in langsamen Schritten, doch deutete der Trend - im Einklang mit der westeuropäischen Entwicklung - schon frühzeitig auf eine liberale Außenwirtschaftspolitik hin. Trotz dieser Einwände: Petris Buch ist die bei weitem beste und gründlichste Darstellung der faschistischen Autarkiepolitik und ihrer Folgen. Zugleich handelt es sich um eine der methodisch anregendsten Arbeiten zur neueren italienischen Wirtschaftsgeschichte.

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