R. von Thadden u.a. (Hgg.): Europa der Zugehörigkeiten

Titel
Europa der Zugehörigkeiten. Integrationswege zwischen Ein- und Auswanderung


Herausgeber
von Thadden, Rudolf; Kaudelka, Steffen; Serrier, Thomas
Reihe
Genshagener Gespräche 10
Erschienen
Göttingen 2007: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Tina Heizmann, Universität Konstanz

Diskussionen um Einwanderung und die Integration von Zuwanderern sind mittlerweile ein Teil der täglichen politischen Auseinandersetzung. Migration, erzwungen oder freiwillig, verändert Zugehörigkeiten und Identitäten. Das nehmen die Herausgeber zum Anlass, die europäische Geschichte in ihrer „longue durée“ neu in den Blick zu nehmen, nämlich aus der Perspektive der sie begleitenden Migrationsprozesse. Dabei hinterfragen Herausgeber und Autoren gesetzliche Definitionen und Verankerungen von Zugehörigkeiten. Sie beschreiben sowohl individuell erlebte Zugehörigkeiten als auch die politische Praxis.
„Zugehörigkeit“, so befindet Heinz Wismann in seiner Untersuchung der Semantik des Begriffs, steht im Deutschen im Bedeutungshorizont der „Hörigkeit“. Entstanden aus feudalen Herrschaftsbedingungen, transportiert der Begriff Abhängigkeit. „Zugehörigkeit“ erfordert ein Bekenntnis – anders als der französische Begriff der „appartenance“. „Appartenance“ ist raumbezogen und neutraler. Sie beschreibt den Einzelnen als Teil eines Ganzen. Beiden Begriffen ist gemeinsam, dass sie religiös geprägt sind.

Im ersten Teil des Sammelbands, der „Europa als Kontinent der Ein- und Auswanderungen“ beschreibt, eröffnet Martin Schulze Wessel eine transnationale Perspektive auf Glaubensfluchten in der frühen Neuzeit. Migration, so betont Wessel, veränderte nicht nur die Zugehörigkeiten von Immigranten, sondern war auch „transformativ und sinnstiftend“ für das Aufnahmeland (19). An vier Fallbeispielen tatsächlich erfolgter und geplanter Ausweisungen kann Schulze Wessel zeigen, wie konfessionelle Zugehörigkeiten sich ausweiteten. Sie erhielten einen transnationalen, transterritorialen Charakter durch grenzüberschreitende Nachrichtenübermittlung und Solidaritätsbekundungen.
Miroslav Hroch beschreibt „Zugehörigkeit“ als die Beziehung eines Einzelnen zu einer oder mehreren sozialen Gruppierungen. Sie kann unterschiedliche Grade von Intensität besitzen. Als eigentliche „Zugehörigkeit“ definiert Hroch Beziehungen, die durch Migration verändert werden. Im Fall von Bindungen, die durch Migration nicht erlöschen, spricht er von „Identität“, und im Falle abhängiger Bindungen mit Geertz von „bedingungsloser Loyalität“. Allerdings findet Hroch, der Begriff der „Zugehörigkeit“ sei in Bezug auf die Nation nur schwer anwendbar. Stattdessen regt er an, ihn für die „Deutung geschichtlicher Wirklichkeiten im nicht-nationalen Raum“ (S. 48) zu verwenden.
Auch ideologische Bindungen können als Ein- und Ausschlusskriterien fungieren. In seiner Analyse von deutschen Migranten in Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann Michael Werner zeigen, wie sich nationale Identifikationskriterien entwickelten. Migration bewirkte aber auch die Überwindung national definierter Abgrenzungen. Inklusion und Exklusion waren so keine ausschließlichen Alternativen, denn Amalgamierungen und Verflechtungen verwischten die Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft.
Migrationen können auch Zugehörigkeiten auflösen und nationale Zusammenhänge entflechten: Piotr Madajczyk beschreibt Zwangsmigrationen, deren Grundlage die Definition bestimmter Bevölkerungsgruppen als „fremd“ war. Solche Zwangsmigrationen waren ein Faktor der Auflösung der Vielvölkerreiche des 19. Jahrhunderts und beeinflussten die Bildung von Nationalstaaten. Madajczyk eröffnet eine Kontinuität von der Minderheitenpolitik der neuen Nationen bis hin zu den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts. Während in demokratischen Systemen aber die Politik der nationalen Homogenisierung über politische und administrative Mittel verfolgt wurde, verstanden Deutschland und die UdSSR in den 1930er Jahren Zwangsmigration als ein Mittel der Politik. Im Zweiten Weltkrieg wuchs die Akzeptanz von radikalen Lösungen der Nationalitätenkonflikte. Insgesamt diagnostiziert Madajczyk eine Tendenz zur Abgrenzung von anderen Nationalitäten und zu Akzeptanz von Gewalt gegen „Fremde“ in Deutschland, Polen, Frankreich und den meisten europäischen Ländern (S. 67).
Im Abschluss des Abschnitts plädiert Paul-André Rosenthal dafür, das Modell einer „Tyrannei des Nationalen“ (Gérard Noiriel), das in der Migrationsforschung „zu einer Art Vulgata“ geworden sei (S. 75), grundsätzlich neu zu überdenken. Rosenthal beklagt die Verengung der Migrationsgeschichte auf eine Geschichte unabhängig handelnder Nationalstaaten. Gerade in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, einer Zeit großer Wanderungsbewegungen, entwickelte sich das Völkerrecht als überstaatliches Recht. Bilaterale Abkommen brachten die freiwillige Einschränkung der Souveränität von Staaten mit sich, und die internationale Diplomatie nahm Einfluss auf Ziele und Politik von Staaten. Nationalstaaten agierten und agieren, so Rosenthal, viel weniger unabhängig, als es eine von nationalen Akteuren ausgehende Migrationsgeschichte vermittelt.
Der zweite Teil des Sammelbands über „Modelle der Integration und Formen der Zugehörigkeit“ nimmt mit Beiträgen zum Staatsbürgerschaftsrecht in Frankreich, Deutschland und Polen auf Rogers Brubakers These zur Dominanz von jus soli und jus sanguinis in der französischen bzw. deutschen Einbürgerungspolitik Bezug.
Patrick Weil bestreitet in seiner Darstellung des französischen Staatsbürgerschaftsrechts eine Dominanz des jus soli in der französischen Politik. Seit dem 19. Jahrhundert hatte Frankreich immer wieder Ansätze von Bodenrecht und Blutrecht kombiniert. Das Einbürgerungsrecht war so trotz der zentralen Organisation des Staates flexibel geblieben und konnte sich verschiedenen demographischen und politischen Umständen anpassen. Als ein Hauptmerkmal dieser flexiblen Politik gilt für Weil die Integration von Immigranten in Frankreich.
Dieter Gosewinkel¬ stellt sich entsprechend aus der deutschen Perspektive gegen Brubakers These. Unter dem Aspekt der Entstehung in einem föderativen Staatswesen zeichnet Gosewinkel das Werden des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts vom Deutschen Bund bis zum Staatsangehörigkeitsgesetz von 2000 nach. Dabei wendet er sich gegen die Annahme einer kontinuierlichen Entwicklung vom Abstammungsprinzip im 19. Jahrhundert hin zum Rasseprinzip des Nationalsozialismus. Erst im Verlauf der Nationalisierung sei das Abstammungsprinzip zunehmend ethnisch-kulturell und exklusiv interpretiert worden.
Claudia Kraft ergänzt diese Darstellungen um die polnische Perspektive. Obwohl Polen zwischen 1795 und 1918 kein eigenständiger Nationalstaat war, sieht sie doch gerade diese Zeit als prägend für polnische Zugehörigkeitskonzepte. Die Teilungen, aber auch die vorher geführten Reformdebatten führten langfristig zur Ausbildung eines kollektivistischen Verfassungsdenkens. Dieses prägte die spätere Nation dahingehend, dass Minderheiten und Individuen sich dem Mehrheitswillen und den Interessen des Kollektivs unterzuordnen hatten.

Ergänzt wird der Band durch zwei Aufsätze zur „Differenz und Zugehörigkeit in der multikulturellen Gesellschaft“.
Schirin Amir-Moazamis Beitrag zur Integration von Muslimen verbreitert die schon mehrfach im Band aufgenommene vergleichende Darstellung von Frankreich und Deutschland als Einwanderungsländern. Französische Assimilierungspolitik könne dabei, so ihr Ergebnis, aber nicht einfach einem deutschen Differenzmodell gegenübergestellt werden. Die Muslime in Frankreich empfänden Unbehagen über den Assimilationsdruck von Seiten des Staates, äußerten aber gleichzeitig fein ausdrückliches Bewusstsein von Zugehörigkeit zum französischen Staat. Umgekehrt schätzten Muslime in Deutschland zwar die Werte und Normen des deutschen Staates, bestätigten aber ihren Status als Außenseiter der Gesellschaft.
Der Band schließt ab mit Marc de Launays Versuch, die Differenz zwischen imaginierten Zugehörigkeiten und realen Emigrationswegen im Leben des Philosophen Leo Strauss in den 1930ern zwischen Ein- und Auswanderung zu verorten.

Insgesamt ist dem Leser auf der Suche nach veränderten Zugehörigkeiten und ihren politischen Manifestationen nach der Lektüre des Sammelbands nur bedingt geholfen. Einerseits liegt dies an der Verwendung unterschiedlicher Zugehörigkeitsvorstellungen und -begriffe im ersten Teil, die neben Kategorien von Identität, Assimilation, Inklusion und Exklusion stehen. Was genau unter „Zugehörigkeit“ verstanden werden soll, bleibt ungewiss. Eine gemeinsame Analysekategorie hätte hier vielleicht stärker vergleichbare Ergebnisse produzieren können. Zum anderen sind die Debatten um Staatsangehörigkeitskonzepte und ihr jeweiliger Rückhalt im Blut- oder Bodenrecht bereits wiederholt breit diskutiert worden.
Sucht man aber nach spannenden Einzelbeiträgen zu Migration und nationaler Identität in der europäischen Geschichte, dann bietet der Band gerade wegen der verschiedenen Herangehensweisen an Zugehörigkeitskonzepte eine breite Palette an Ideen und Analysen. Die Beiträge führen von verschiedenen Seiten an Probleme von Migration und Zugehörigkeiten heran. Viele Artikel überblicken tatsächlich einen relativ langen Zeitraum, so dass Veränderungen und Tendenzen sichtbar gemacht werden können. Dass verschiedene Formen von Migration und ihre Konsequenzen geschildert werden, verbreitert den Zugriff und verdeutlicht, dass Migration sowohl heute als auch in Perspektive einer „longue durée“ prägend für die Formierung von Gesellschaften gewesen ist.

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