Cover
Titel
Twice A Stranger. Greece, Turkey and the Minorities They Expelled


Autor(en)
Clark, Bruce
Erschienen
London 2007: Granta Books
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
$ 17.88
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Korb, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Lausanner Konvention, die am 30. Januar 1923 von der Türkei, Griechenland, Großbritannien, Frankreich und weiteren Staaten unter Vermittlung des Völkerbunds unterzeichnet wurde, legalisierte die Vertreibung von etwa 1.2 Millionen Christen aus dem zerfallenden osmanischen Reich und bedeutete die anschließende Umsiedlung von 150.000 weiteren sowie von etwa 400.000 Muslimen aus Griechenland in die Türkei. Das Beunruhigende am Lausanner Vertragswerk ist, dass es nicht etwa von Faschisten oder Kommunisten stalinistischer Façon beschlossen wurde, sondern durch Vertreter von Staaten, die eher eine Welt der liberalen Demokratie und friedlicher internationaler Kooperation repräsentierten.

Lausanne wurde zum Menetekel der ethnischen Homogenisierung Europas, denn faschistische, kommunistische wie demokratische Bevölkerungspolitiker und Vertreibungsakteure beriefen sich in den folgenden Dekaden auf den Lausanner Vertrag. Die Idee, man könne Frieden stiften, indem man die Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen räumlich voneinander trennt, scheint immer noch im Vertrag von Dayton oder der internationalen Kosovopolitik fortzuleben.

Bruce Clark formuliert das Ziel, eine gut lesbare Geschichte dieser Episode europäischer Moderne zu schreiben. Er richtet den Blick auf die Türkei und Griechenland zugleich, untersucht die Politiken, die zum Lausanner Vertrag führten und ihn bestimmten, beschreibt die Umsetzung von Vertreibungsgewalt und Aussiedlung vor Ort und stellt die Frage, inwiefern die Massenvertreibung den modernen türkischen und griechischen Nationalstaat prägten. Clark kokettiert damit, dass er als Journalist für ein allgemeines Publikum und nicht für die Universitätsbibliotheken schreibe – eine überflüssige Gegenüberstellung, denn vermutlich hätte es ihm keine große Mühe bereitet, einen wissenschaftlichen Apparat in Form von Literatur- und Quellenverweisen anzufügen, um das Buch so höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen zu lassen. Clark hat sich dagegen entschieden.

Der Autor verbindet Diplomatiegeschichte mit Oral history und setzt dies auf ein Fundament aus ethnographischen Recherchen in den von den Vertreibungen betroffenen Gebieten. Genau dieser kombinierte Ansatz, der die Erfahrungen der Vertriebenen auf beiden Seiten der Ägäis einführt, stellte bislang ein Desiderat dar. Clark nimmt den Leser und die Leserin auf eine Reise mit in die griechisch-türkische Geschichte, um den Wirkungen und dem Erbe von Lausanne auf die Politik, Kultur und die Ökonomie beider Länder nachzuspüren. Clark sieht die intensive Verflechtung und die Versuche gewaltsamer Entflechtung als Ursache für die Intensität und die oft überraschende Wandelbarkeit der heutigen türkisch-griechischen Beziehungen.

Im Januar 1923 forderten die Behörden der türkischen Schwarzmeerstadt Trabzon die christlich-orthodoxen Bürger auf, sich binnen weniger Stunden mitsamt der Habseligkeiten, die sie tragen konnten, am Hafen einzufinden. Umgehend wurden sie nach Istanbul verschifft, dort interniert und später nach Nordgriechenland transferiert, wenn sie nicht nach Übersee emigrierten. Viele starben unterwegs. Anhand der exemplarischen Untersuchung solcher für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts so typischer Vertreibungen aus den einzelnen türkischen und griechischen Provinzen, gelingt es Clark, mehrere Punkte differenziert aufzuzeigen.

So war der Geist von Lausanne komplexer als ein bloßer Wunsch nach friedvoller ethnischer Homogenität. Die mit den Massenvertreibungen aus der Türkei konfrontierten Staaten waren überfordert und versuchten eine gigantische humanitäre Krise im Ansatz zu lösen. Wie problematisch der beschrittene Weg war, ist hinlänglich bekannt. Gleichwohl wären die meisten der noch in der Türkei verbliebenen Christen auch ohne den Vertrag vertrieben worden, und zwar unter noch katastrophaleren Bedingungen als bei der geschilderten Aussiedlung aus Trabzon.

Gleichwohl betrachtete die türkische Delegation in Lausanne den Vorschlag des Flüchtlingskommissars des Völkerbundes Fridtjof Nansen vom 1. Dezember 1922 „to unmix the populations of the Near East“ (S. 93) als Geschenk des Himmels, wie Clark einen türkischen Teilnehmer zitiert (S. 94). Auf türkischer Seite hätte man einen solchen Vorschlag nicht gewagt. Die Türkei war schließlich sehr interessiert an der Adelung der Vertreibungen als international sanktioniertem Bevölkerungstransfer. Diese bot Gewähr gegen Vorwürfe, die Türkei würde unverhältnismäßig grausam gegen ihre Christen vorgehen und versetzte das Land in die Lage, ein historisches Trauma zu wenden: Diesmal war es nicht die internationale Politik, die Minderheitenrechte als Vorwand missbrauchte in der Türkei zu intervenieren, sondern die Türkei diktierte den großen Mächten, dass die Sonderrechte und die Anwesenheit der Minderheiten im Land endgültig eliminiert würden.

Auch Griechenland war interessiert, die Flüchtlinge zu integrieren und durch die Abschiebung der griechischen Muslime den Nationalstaat zu konsolidieren. Der Vertrag transferierte die Vertreibungen in einen staatlich organisierten und international abgesegneten Bevölkerungsaustausch und führte letztlich zu einer Systematisierung und zu einer Erweiterung auf Bevölkerungsgruppen, die wohl ohne das Lausanner Abkommen nicht vertrieben worden wären. Dies betrifft etwa die Karamanliden, die türkischsprachigen Christen von Kappadokien.

Besonders lesenswert ist auch Clarks Beschreibung der Politik der türkischen als auch der griechischen Regierung, vermeintlich uneindeutige Fälle der Zugehörigkeit zu klären, die die jeweiligen Fremd- und Eigenbilder offenbar herausforderten. Mit dem Fokus auf die zahlreichen Gruppen zwischen den türkischen und griechischen Identitätspolen zeigt Clark auf, wie fließend die Grenzen waren, und wie absurd die Zuordnungen oft ausfielen. Damit schreibt Clark zugleich ein Stück Geschichte muslimischer Kreter, pontischer Griechen, islamisierter Juden aus Salonika und griechischsprachiger Makedonier islamischen Glaubens, der Valaden. All diese Gruppen mussten ihre Heimat verlassen.

Allerdings bleibt Clark schuldig zu erklären, warum sich all die Betroffenen doppelt fremd, als “Twice a stranger” gefühlt hätten: vor der Vertreibung als Angehörige einer Minderheit; nach der Umsiedlung als unverstandene Neusiedler aus einem anderen kulturellen Kontext. Ein fragliches Paradigma, denn warum soll sich beispielsweise die griechische Bevölkerungsmehrheit von Smyrna in ihrer Heimatstadt fremd gefühlt haben, bevor diese 1922 abbrannte? So umgeht Clark die Frage meistens, wie die Formen muslimisch-christlichen Zusammenlebens vor den Vertreibungen eigentlich aussahen.

Clarks umfassender Anspruch, die Geschichte des Lausanner Vertrages und seiner Wirkung zu erzählen hat zur Folge, dass seine Darstellung nicht immer gleichermaßen empirisch abgesichert ist und es manchmal zu widersprüchlichen Aussagen kommt. Dies betrifft zum Beispiel die westlichen Reaktionen auf die Vertreibungen und Aussiedlungen. Clark weist darauf hin, dass ein Aufschrei der Empörung in der liberalen westlichen Öffentlichkeit die Folge war. Beim genaueren Hinblicken beklagen die von Clark angeführten Berichte aus der New York Times aber lediglich die bereits erfolgte Zerstörung der christlichen Zivilisation in der Türkei und die Untätigkeit des Westens angesichts dessen. Doch gegen das Projekt des Bevölkerungsaustausches, also gegen die nun folgende Umsiedelung der Muslime aus Griechenland, erhob die New York Times nicht das Wort. Ganz richtig bemerkt Clark, dass auch der britische Außenminister Lord Curzon, der oft als Kronzeuge gegen den Bevölkerungstransfer bemüht wird, schließlich keine andere Lösung sah, als die räumliche Trennung von Christen und Muslime (S. 44). Eine stärkere Kontextualisierung und Bewertung diverser internationaler Reaktionen auf die Zwangsaussiedlung Hunderttausender wäre wünschenswert gewesen. So hebt Clark darauf ab, dass Nansen 1922 nicht zuletzt für sein Engagement für die Umsiedlungen den Friedensnobelpreis erhielt. Doch er belässt es bei der Skandalisierung dieses Umstandes, ohne mögliche Konflikte um die Politik Nansens im westlichen Lager zu diskutieren.

Clark versäumt es weiterhin, die Ereignisse von 1922/23 in einen breiteren zeitlichen Kontext zu setzen und damit den Blick zu öffnen auf die Geschichte der Christenverfolgungen im Osmanischen Reich in den 50 Jahren vor Lausanne sowie auf den langwierigen Umbau des Reiches in einen türkischen Nationalstaat. Dies ist zwar in einem Buch über die griechisch-türkischen Vertreibungen nicht umfassend zu leisten, zumal die Geschichte der gewaltsamen Homogenisierung des Osmanischen Reiches von etwa 1870 bis 1923 noch immer nicht vorliegt. Doch eine Erweiterung des Horizontes hätte auch geholfen, spezifische Fragen näher zu beantworten, beispielsweise nach dem Verhältnis zwischen religiösen und ethischen Kategorien bei der Verfolgung griechischer Christen. Zwar verweist Clark auf die Interdependenzen der Verfolgung verschiedener christlicher Bevölkerungsgruppen, doch insgesamt werden, auch bei Clark, die Massengewalt gegen die Armenier 1915/18 und gegen die Griechen 1921/23 viel zu stark als voneinander getrennte Ereignisse betrachtet. Die Vorgeschichte der Vertreibung der griechischen Christen waren die Balkankriege, der Erste Weltkrieg, und das fast fünfzigjährige militärische und diplomatische Ringen Griechenlands und der Türkei um Territorium und Bevölkerung. Die Setzung scheinbar eindeutiger Zäsuren erschwert die Analyse des Aufeinanderprallens der (groß-)türkischen und (groß-)griechischen Nationalstaatsprojekte.

Beide Nationalstaaten arrangierten sich nach dem Lausanner Vertrag. Dies war gewissermaßen ein Erfolg, allerdings auf Kosten der vertriebenen Menschen. Der Mythos vom erfolgreichen Bevölkerungsaustausch war ein wichtiger Baustein für den Aufbau beider moderner Nationalstaaten. Interessanterweise bildet die positive Rezeption der gemeinsamen Vertreibung der jeweiligen Minderheiten auch eine Brücke zwischen der Türkei und Griechenland. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet das Geburtshaus Mustafa Kemals, der ein Motor der bilateralen Massenvertreibungen war, in Thessaloniki seit den 1930er-Jahren ein Museum beherbergt. Die 500 Jahre alte Athener Tzistarakis-Moschee, die an die heimischen Muslime erinnern könnte, ist hingegen dem Verfall Preis gegeben.

Sein Ziel hat Clark zweifelsohne erreicht: "Twice a stranger" ist die spannend und kompetent geschriebene Verflechtungsgeschichte zweier europäischer Länder. Clark beschreibt diese, ohne Partei zu nehmen. Die geschichtspolitischen Kämpfe um die (Gewalt)geschichte des zerfallenden Osmanischen Reiches entfachen Zorn und Eifer, dem sich nur wenige zu entziehen vermögen. Zu diesen gehört Clark. Die Auswahl seiner Quellen begünstigt seine ausgewogene Haltung, schließlich arbeitet er mit den Berichten von Zeitgenossen, die – Christen wie Muslime – vom Homogenisierungswahn betroffen waren. Eine breite Rezeption des Buches – auch an den Universitäten – ist dem Buch sehr zu wünschen.

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