M. Scheutz u.a. (Hrsg.): Europäisches Spitalwesen

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Titel
Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit


Herausgeber
Scheutz, Martin; Sommerlechner, Andrea; Weigl, Herwig; Weiß, Alfred Stefan
Reihe
Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 51
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
477 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Juri Haas, Università Cattolica del Sacro Cuore, Mailand

Dieser Sammelband ist bereits die zweite Veröffentlichung eines auf mehrere Jahre angelegten Forschungsprojektes des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung in Wien zur Geschichte des europäischen Hospitalwesens.1 Für einen geographischen Raum, der von Budapest bis London, von Rom bis Hamburg und von Berlin bis Lyon reicht, wird die Geschichte der Spitalfürsorge zwischen 11. und 18. Jahrhundert beschrieben. In 18 Beiträgen bieten 21 Spezialistinnen und Spezialisten auf knapp 500 Seiten eine profunde Bestandsaufnahme aus Perspektive der Geschichtsschreibung zahlreicher europäischer Länder zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit. Die Überlieferungssituation in den verschiedenen Ländern stellt sich dabei sehr heterogen dar: So betont Andrea Sommerlechner, dass der Archivbestand an Gründungsurkunden aus dem 11. Jahrhundert in Oberitalien noch immer nicht vollständig aufgenommen ist. Judit Majorossy und Katalin Szende stellen dagegen ihrer Arbeit voran, dass eine ansatzweise flächendeckende schriftliche Überlieferung in Bezug auf das Hospitalwesen für das Königreich Ungarn erst mit der Frühen Neuzeit einsetzt.
Dass sich diese Bestandsaufnahme der mittleren und neueren Hospitalgeschichte angesichts der regionalen Disparitäten nicht in Beliebigkeit verloren hat, muss zweifelsohne auf das geschickt formulierte „Questionnaire“ zurückgeführt werden, das Herausgeberinnen und Herausgeber in der Einleitung (S. 11-14) vorstellen: 1) Wie waren die Hospitäler rechtlich und wirtschaftlich verfasst und unter welchen Umständen wurden sie gegründet? 2) Wer hatte Zugang zu diesen Institutionen geschlossener Fürsorge und wie erfolgte Aufnahme und Ausschluss? 3) Auf welche Weise war die innere Organisation geregelt und wie gestaltete sich der Hospitalalltag? 4) Wie stellten sich die Hospitäler nach außen dar und wie wurden sie vom gesellschaftlichen Umfeld wahrgenommen? Vertieft und erweitert wurden diese Fragestellungen durch den einführenden Aufsatz von Christina Vanja, die unter Schlagworten wie „Hospital als Gotteshaus“ oder „Hospital als ökonomischer Betrieb“ den Forschungsstand prägnant zusammenfasst.

Dem ersten Fragenkomplex, “Gründung und Administration” der Hospitäler, wurde in den meisten Beiträgen die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Die Ergebnisse der Untersuchungen klaffen hier am weitesten auseinander und zeigen am stärksten die Grenzen der Vergleichbarkeit. So führt Brigitte Resl aus, dass weltliche Herren sich bei einer Stiftung ad animam im 11. und 12. Jahrhundert eher für eine Hospitalgründung als für ein Kloster entschieden hätten, da es bei ersterer einfacher gewesen sei, sich dauerhafte Verfügungsrechte zu sichern (S. 45). Lilla Krász beschreibt in diesem Zusammenhang, wie im Ungarn des 17. Jahrhunderts aufgrund der Türkenkriege mit finanzieller Unterstützung des Papstes das erste „floating field hospital“ realisiert wurde, welches bis zu 2000 verletzte Soldaten versorgen konnte. Ein wichtiges Stichwort in diesem ersten Fragenkomplex ist der von Siegfried Reicke eingeführte Begriff der „Kommunalisierung”2, der auch eine hohe Vergleichbarkeit ermöglicht. Gewissermaßen zwei Pole bilden hier die Beiträge von Gisela Drossbach und Frank Hatje. Während Drossbach zu der Einschätzung gelangt, dass im Kirchenstaat im 13. und 14. Jahrhundert die Bischöfe ihre Rolle als pater pauperum trotz erstarkender Stadtkommunen im Allgemeinen behaupten konnten und für diese Territorien die Anwendbarkeit der Kategorie „Kommunalisierung“ überhaupt in Frage stellt, kann Hatje zeigen, dass im 16. Jahrhundert die “Kommunalisierung” der Hospitäler in den protestantischen Städten Norddeutschlands als abgeschlossen gelten kann und wie das städtische Hospital nun in Städten wie Hamburg, Lübeck oder Danzig zum „umkämpften Politikum“ für Rat und Bürgerschaft wurde.

In Bezug auf den zweiten, den „Hospitalinsassen“ gewidmeten Fragenkomplex konstatieren zunächst alle das Mittelalter betreffenden Beiträge übereinstimmend, dass in den Stiftungsurkunden als „Zielgruppe“ der Hospitäler die pauperes et infirmi benannt wurden. Katharina Simon-Muscheid macht in ihrem Beitrag aber deutlich, dass in Oberdeutschland, Vorderösterreich und der Schweiz in der Praxis von dieser normativen Vorgabe durchaus abgewichen wurde. Da die Hospitäler hier spätestens seit dem 14. Jahrhundert in ihrer wirtschaftlichen Existenz vom Verkauf gestaffelter Pfründen abhängig waren, wurde die Anzahl der kostenlos aufgenommen Armen möglichst gering gehalten. In den Beiträgen zur neueren Spitalgeschichte in England und Frankreich wird dagegen deutlich, dass die Annahme einer allgemeinen „Sozialdisziplinierung“ der Insassen frühneuzeitlicher Fürsorgeanstalten nicht haltbar ist.3 Daniel Hickey hebt hervor, dass 1534 in Rouen der Versuch des Stadtrates durch die Unterscheidung von würdigen und unwürdigen Armen Fürsorgekosten zu sparen scheiterte, da insgesamt nur 532 Bettler ausgewiesen werden konnten, wogegen 7000 Einwohner als tatsächlich unterstützungswürdig anerkannt werden mussten. Und Ian W. Archer kommt auf der Basis eigener statistischer Berechnungen zu dem Schluss, dass im Londoner Whittington Almouse in der Zeit von 1511 bis 1821 mit 23 der insgesamt 500 Insassen nur 4,5 Prozent aus disziplinarischen Gründen ausgewiesen worden sind (S. 71). Dennoch gilt aber für fast alle untersuchten Perioden und Regionen, was Thomas Just und Herwig Weigl in ihrem Beitrag herausgearbeitet haben: Hospitalinsassen waren der Anstaltsleitung Gehorsam schuldig, sie mussten Klausur einhalten und waren zu einer vorbildlichen christlichen Lebensführung verpflichtet. Durch diese Ausrichtung der Insassen am Vorbild Kloster wird der jüngst betonte religiöse Charakter des mittelalterlichen Hospitals ein weiteres Mal deutlich.4

In Bezug auf den dritten Fragenkomplex “Hospitalalltag und Fürsorgepraxis” kann der von Kay Peter Jankrift vorgestellte Fall Münster als allgemeingültiges Beispiel für die Fürsorgefunktionen der Hospitäler im Mittelalter gelten. Aus Urkunden des vom Münsteraner Domkapitel gegründeten „Zwölfmännerhauses” geht hervor, dass die dort beherbergten Bedürftigen im 12. Jahrhunderts aus dem Stiftungskapital Fleisch, Brot, Korn und Bier sowie an Gründonnerstag Eier und Heringe erhalten sollten. Im Winter gestand man ihnen als Bekleidung einen Schafspelz zu. Dass sich die Beschränkung der Hospitäler auf Beherbergen, Speisen und Kleiden derjenigen, die durch Alter, Armut oder Krankheit hilfsbedürftig geworden waren auch in der Frühen Neuzeit nicht gravierend änderte, betont Ludwig Ohngemach. Die Spitäler waren keine Zentren der Notfallmedizin, nur sehr große Einrichtungen, wie das Ulmer Heiligen-Geist-Hospital verfügten schon im 15. Jahrhundert über eine eigene Apotheke und einen angestellten Spitalarzt (S. 287). Am Beispiel Prag kann Ludmila Hlaváčková hingegen zeigen, dass die zunehmende medizinische Versorgung in den Hospitälern seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert der Nutzung der Spitäler als Ausbildungsstätten für angehende Ärzte und Feldscher durch die Medizinischen Fakultäten zu verdanken war (S. 396). Die wichtige Rolle frühneuzeitlicher Ordensgründungen für die Ausbreitung auf Krankenheilung spezialisierter Spitäler belegt Ivana Ebelová.
Der letzten Themenkomplex „Öffentlichkeit und Wahrnehmung der Hospitäler“ wird nur knapp behandelt. Petr Svobodný bringt eine in den letzten Jahren ausformulierte Forschungsperspektive 5 auf den Punkt, wenn er schreibt, dass die stadtbürgerlichen Hospitalgründungen des 14. und 15. Jahrhunderts als wichtiges Instrument zur Ostentation von Herrschaftsansprüchen interpretiert werden müssen. Repräsentative Hospitalbauten namhafter Architekten stärkten in diesem Sinne nicht nur die „religione civica“ (Drossbach, S. 103) der Stadtgemeinden, sondern dienten urbanen Eliten dazu, gezielt wirtschaftliches Kapital in symbolisches zu transferieren und umgekehrt. Im Artikel von Martin Scheutz und Alfred Stefan Weiss wird diese Einschätzung allerdings etwas eingeschränkt. Abgesehen von den großen Reichstädten waren die Bürgerspitäler ihres Untersuchungsraumes „Zweckbauten, die nur wenig Ornamente aufwiesen” (S. 228).

Während politikgeschichtliche, religionsgeschichtliche und wirtschaftsgeschichtliche Perspektiven durch den Fragenkatalog sehr gut ausgeleuchtet worden sind, bleiben Fragen nach der Einbindung der regionalen Hospitalgeschichte in den jeweiligen sozioökonomischen und demografischen Kontext, verhältnismäßig unterbelichtet. Lediglich in einem Nebensatz erwähnen Thomas Just und Herwig Weigl den sehr interessanten Umstand, dass im Südosten des Deutschen Reiches kein Zusammenhang zwischen Hospitalgründungsaktivitäten und den Hunger- und Pestjahren 1315/17 und 1348/49 zu beobachten war (S. 151). Zwei Untersuchungen stellen hier eine Ausnahme dar. In Bezug auf das spätmittelalterlichen Königreich Ungarn arbeiten Majorossy/Szende heraus, dass Hospitalgründungen stärker noch als Niederlassung der Bettelorden als ein Gradmesser für die Urbanisierung einer Region angesehen werden können. Und Ian W. Archer kommt durch eine detaillierte Auswertung der lokalen Fürsorgepraxis und deren Korrelation mit den entsprechenden demografischen Daten zu dem Ergebnis, dass in England zwischen 1580 und 1710 immerhin zwischen sieben bis zwölf Prozent der über 60jährigen in Armenhäusern untergebracht waren (S. 65). Solche statistischen Untersuchungen wären nicht nur die Voraussetzung, um die “Sozialleistungen” der Hospitälern in Beziehung zu den beiden für die Vormoderne wichtigsten Fürsorgeinstitutionen Familie und Gemeinde zu setzen, wie von ChristinaVanja in der theoretischen Einführung angeregt (S. 39). Fundierte quantitative Studien müssten auch der Ausgangspunkt sein, um Rationalität und Effizienz der territorialstaatlichen Zentralisierungsbestrebungen im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu beurteilen, die Edoardo Bressan in seinem interessanten Essay am Beispiel Italien skizzierte.

Bleibender Eindruck dieses Bandes ist die hohe Qualität der Beiträge, da die Mehrzahl der Autoren dem Vorbild der vier Herausgeber gefolgt ist und ausführliche, problemorientierte und sehr gut belegte Untersuchungen für die ihnen anvertrauten europäischen Regionen durchführt hat.

Anmerkungen:
1 Der Jahrgang 115/3-4 (2007) der „Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung“ war als Themenheft den „Europäischen Hospitälern“ gewidmet und für das Jahr 2009 ist bereits ein Quellenreader zu Spitalsgeschichte angekündigt.
2 Siegfried Reicke, Das deutsche Spital und sein Recht im Mittelalter, I-II, Stuttgart 1932.
3 Martin Dinges, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit einem Konzept, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 5-29.
4 Oliver Auge, ''Ne pauperes et debiles… domo degentes divines careant'' - Sakral-religiöse Aspekte der mittelalterlichen Hospitalgeschichte, in: Neithard Bulst / Karl Spieß (Hrsg.), Sozialgeschichte mittelalterlicher Hospitäler, Ostfildern 2007, S. 77-124; Thomas Frank, Die Sorge um das Seelenheil in italienischen, deutschen und französischen Hospitälern, in: Gisela Drossbach (Hrsg.), Hospitäler in Mittelalter und Früher Neuzeit, S. 215-224.
5 Dietrich W. Poeck, Wohltat und Legitimation, in: Peter Johaneck (Hrsg.), Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen, Köln 2000, S. 1-17.

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