C. Koehn: Krieg - Diplomatie - Ideologie

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Titel
Krieg - Diplomatie - Ideologie. Zur Außenpolitik hellenistischer Mittelstaaten


Autor(en)
Clemens, Koehn
Reihe
Historia Einzelschriften 195
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gustav Adolf Lehmann, Althistorisches Seminar, Universität Göttingen

Clemens Koehn hat mit dieser inhaltsreichen Studie einen wichtigen Beitrag zu einem tieferen Verständnis der politischen Geschichte innerhalb der hellenistischen Staatenwelt geleistet. Dabei stehen im Mittelpunkt seiner Untersuchungen nicht, wie gewöhnlich, die im 3./2. Jahrhundert v.Chr. dominierenden Großmonarchien der Seleukiden, Ptolemäer und Antigoniden (in Makedonien), sondern eine Kategorie kleinerer, von Koehn als „Mittelstaaten“ klassifizierter Mächte: Neben den beiden über traditionelle Stammesgrenzen ausgreifenden Bundesstaaten Aitolien und Achaia im griechischen Mutterland geht es in Koehns „systemperspektivischer Analyse“ (S. 89) um die seemächtige Polis der Rhodier und das Königreich der Attaliden in Pergamon. Erst der politische Aufstieg dieser „Mittelstaaten“ habe, wie der Autor wohl zu Recht betont, in der hellenistischen Welt so etwas wie ein „Mächte-System“ entstehen lassen, das von den drei expansiven und ständig als Rivalen gegeneinander antretenden Territorialmonarchien eher gefährdet als stabilisiert worden sei (S.10 f.).

Überdies war allen genannten „Mittelstaaten“ gemeinsam, dass sie, zumindest ihrem eigenen politischen Selbstverständnis nach, eine Gegenposition zum Herrschaftsanspruch der großen Diadochenreiche einnahmen. In der Einleitung und im Schlussteil seines Buches hat Koehn darüber hinaus – auch mit Ausgriffen in die Zeitgeschichte des 20. Jahrhundert – versucht, den politischen Typus von „Mittelstaaten“ / „mittleren Mächten“ politisch und strukturell näher zu umreißen (besonders S. 225f.). Hier hätte sicherlich auch ein Blick auf die oft kommentierte „Trias-Idee“ und die deutschen „Mittelstaaten“ im Spannungsfeld des österreichisch-preußischen Dualismus schon während des ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert (vor 1866) interessante Befunde und Parallelen zu Tage gefördert.

Die vier von Koehn ausgewählten „Mittelstaaten“ des hochhellenistischen Zeitalters zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie einerseits starke Ambitionen und ein gewisses Potential zur Führung einer regionalen Hegemonialpolitik besaßen, andererseits jedoch, angesichts ihrer begrenzten militärischen Machtbasis, ständig darauf angewiesen waren, ihre egoistischen Expansionsziele hinter einer propagandistische Werbung zu verbergen und sich intensiv um Bündnispartner zu bemühen. Aus dem von Koehn eingenommenen Blickwinkel heraus haben sich auf Seiten der „Mittelstaaten“ in der Kriegführung wie in diplomatischen Auseinandersetzungen, selbst bei dramatischen Veränderungen in der politischen Konstellation, immer wieder die gleichen, ideologisch festgelegten und bewusst instrumentalisierten Feindbilder mit handfester Machtpolitik und gewaltsam betriebener Expansion verbunden.

In vier großen Untersuchungsabschnitten analysiert der Autor die propagandistische Verwendung der aus Kämpfen gegen Galater-Invasoren gewonnenen „Feindbilder“ in der politischen Selbstdarstellung und Diplomatie sowohl des aitolischen Bundes (S. 88ff.) als auch der Attaliden-Dynastie (S. 114ff.), wobei nicht nur die jeweils umworbenen Bündnispartner, sondern stets auch eine gewissermaßen „gesamt-hellenische“ Öffentlichkeit angesprochen werden sollte. In ähnlicher Weise habe auch der achaiische Bund seine Expansionspolitik auf der Peloponnes in das Propaganda-Gewand eines der Ideologie zufolge im Interesse von ganz Hellas geführten Freiheitskampfes gegen Tyrannen und Fremdherrschaft gekleidet (S. 135ff.). Den Rhodiern sei es wiederum mit besonderem Erfolg gelungen, sich – ungeachtet einer sehr aggressiven Hegemonialpolitik im Ägäisraum und an der Südwestküste Kleinasiens – als verlässliche Schutzmacht eines freien und gesicherten Seeverkehrs darzustellen (S. 155ff.); weit über Hellas hinaus habe sich die stolze Polis als Vorkämpferin gegen ein gefährliches und von freiheitsfeindlich gesonnenen Mächten unterstütztes Piratentum feiern lassen.

Auf allen Untersuchungsfeldern erweist sich Koehn als guter Kenner des Quellenmaterials, gerade auch der inschriftlich überlieferten Zeugnisse; dementsprechend finden sich in diesem Buch immer wieder interessante Beobachtungen und Erkenntnisse in wichtigen Detailfragen: Die Ambitionen der pergamenischen Dynastie, sich als Vorkämpfer der Hellenen gegen feindliches Barbarentum ehren zu lassen, sind von Koehn ausführlich dargestellt worden. Auch haben die Attaliden in der auffälligen Demonstration ihres geradezu bürgerlichen Lebensstils, verbunden mit vorbildlicher Familien-Solidarität, offenbar „einen moralischen Überlegenheitsanspruch“ (S. 129) gegenüber den Königshäusern in den großen Territorialreichen erhoben. Gegen ihre mächtigeren Rivalen empfahl sich die attalidische Dynastie damit prinzipiell als ein „alternatives Königtum“ (S. 117) – ungeachtet der Tatsache, dass auch die Herrscher in Pergamon durchgehend eine Machtpolitik betrieben haben, die in Kleinasien wie im Ägäisraum alle sich bietenden Chancen zur Expansion sogleich zu nutzen suchte; in der Wahl ihrer Herrschaftsmittel unterschieden sich die Attaliden allerdings auch realiter von den Brutalitäten eines Philipp V. von Makedonien.

Lückenhaft und insgesamt weniger überzeugend sind dagegen Koehns Darlegungen zum Verhältnis von politischer Ideologie und „reinem“ Expansionsstreben auf Seiten der Bundesstaa-ten Aitolien und Achaia: Zwar wird detailliert gezeigt, wie sehr die Aitoler ihre faktische Kontrolle über das Heiligtum von Delphi und das an die Kelten-Invasion von 278 v.Chr. erinnernde „Soterien“-Fest zur Ausgestaltung ihrer „Retter“-Rolle in Hellas einzusetzen wussten. Die Art und Weise, wie Aitolien die von ihm beanspruchten Sitze im Aufsichtsgremium des delphischen Amphiktyonenrates besetzte, macht freilich auch deutlich, dass die Bundespolitik hier einseitig von der aitolischen Kernregion um Thermos und Trichoneion bestimmt wurde; auch die Prosopographie der aitolischen Bundesstrategen zeigt, dass die politische Integration der erst seit kurzem in die Föderation einbezogenen Gemeinwesen an der Peripherie sehr zu wünschen übrig ließ. So war es kein Zufall, dass 220 v.Chr. in dem Kriegsmanifest der Hellenischen Symmachie gegen Aitolien nicht nur ein Befreiungsprogramm für Delphi, sondern auch für die erst jüngst in den Bund gezwungenen Gemeinwesen begegnet. Auch hätte der Autor nachdrücklicher auf die völlige Preisgabe aller höheren Ansprüche und politischen Prinzipien dieser Föderation in den brutalen Bestimmungen des römisch-aitolischen Bündnisvertrags von 212 v.Chr. eingehen müssen, handelte es sich doch um eine folgenschwere Entscheidung, die das Ansehen Aitoliens in Hellas, nicht nur in den bedrohten Nachbarlandschaften Akarnanien und Thessalien, dauerhaft beschädigt hat.

Man wird Koehn auch darin nicht folgen können, dass er die in inschriftlichen Zeugnissen gut fassbare, auf Piraterie gestützte „Seepolitik“ der Aitoler als machtpolitisch unbedeutend ein-schätzen will; das in der Historiographie für die politische Grundeinstellung Aitoliens belegte Prinzip, „Beute von Beute zu machen“ (das heisst das „Recht“ hochrangiger aitolischer Akteure, nach Belieben mit privatem Aufgebot in aktuelle Konflikte auf eigene Rechnung zu intervenieren: Pol. 18, 4,8 ff.), gab gerade dem von Aitolern betriebenen Freibeutertum zur See in hohem Maße eine Rückendeckung durch den Bundesstaat, die schließlich auch in den epigraphischen Dokumenten vorausgesetzt wird. Aus einem zeitgenössischen Dokument aus Teos 1 wissen wir, welch bittere Folgen ein Piraten-Überfall (mit anschließender geradezu professionell betriebener Ausplünderung der gesamten Wohnbevölkerung) selbst für eine größere Polis haben konnte; vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, dass Rhodos´ Streben nach Seeherrschaft, zumindest bei den Insel- und Küstenstaaten im östlichen Ägäisraum, (ohne „Ideologie“ der Rhodier) auf echte Sympathie und Anerkennung gestoßen ist, wie Ehrendekrete und öffentliche Belobigungen im Nesioten-Bund bekunden.

Eingehend sind in Koehns Buch auch die Zeugnisse aus den Historien des Polybios behandelt worden, in denen Achaia ein besonderes Engagement für politische „Freiheit, Gleichberechtigung und Demokratie“ zugesprochen wird (besonders Pol. 2, c. 37 und 38); zu Recht ist erkannt worden, dass hier keineswegs eine Anpreisung des achaiischen Bundes als „Musterdemokratie“ vorliegt, sondern dass diese Begriffe auf eine „zwischenstaatliche“ Ebene bzw. auf das Verhältnis größerer und kleinerer Gemeinwesen zueinander übertragen worden sind. Tatsächlich geht es jedoch nicht, wie Koehn meint, um Grundsätze einer vom achaiischen Bund ausgehenden, hegemoniefreien und auf Kooperation gestellten Allianzpolitik, sondern in klarer Abgrenzung von Aitolien um die in Achaia schließlich erreichte Demokratie der Gliedstaaten auf der ganzen Peloponnes.2

Grundsätzlich wird man an Koehns Darlegungen (sowie an den nachfolgenden Interpretationen zur Vorgeschichte des 2. Makedonischen Krieges und zum Ausbruch des Antiochos-Krieges 192/1 v.Chr.; S. 192ff.) kritisieren müssen, dass nicht immer gründlich und differenziert genug auch das fundamentum in re für die jeweilige politische Selbstdarstellung und außenpolitische „Ideologie“ der untersuchten „Mittelstaaten“ gewürdigt wird. Diese Einschränkung ändert jedoch nichts an der Feststellung, dass niemand, der sich in Zukunft ernst-haft mit der politischen Geschichte der hellenistischen Welt im 3./2. Jahrhundert v.Chr. beschäftigen will, an diesem inhaltsreichen und gerade auch in methodischer Hinsicht anspruchsvollen Werk vorübergehen kann.

Anmerkungen:
1 Sencer Sahin, Epigraphica Anatolica 23, 1994, 1-36 u. dazu die Ergänzungen von Reinhold Merkelbach, Epigraphica Anatolica 32, 2000, 101ff.
2 Vgl. Gustav Adolf Lehmann, Ansätze zu einer Theorie des griechischen Bundesstaates bei Aristoteles und Polybios, Göttingen 2001, S. 55ff.

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