M. Hampf u.a. (Hrsg.): Radio Welten

Cover
Titel
Radio Welten. Politische, soziale und kulturelle Aspekte atlantischer Mediengeschichte vor und während des Zweiten Weltkriegs


Herausgeber
Hampf, Michaela; Lehmkuhl, Ursula
Reihe
Studien zu Geschichte, Politik und Gesellschaft Nordamerikas Band 23
Erschienen
Münster 2006: LIT Verlag
Anzahl Seiten
126 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander W. Badenoch, Universität Utrecht, Fakulty for Media and Cultural Studies

Radio, so scheint es, wird immer wieder neu entdeckt, und zwar nicht nur von seinen Produzenten und Hörern, sondern auch von den Historikern. Konnten Radiohistoriker vor einem Jahrzehnt den Gegenstand ihrer Forschung noch zu einem „vergessenen Medium“ stilisieren, ist heutzutage die zentrale Rolle des Radios in der (Re-)konstituierung von Nationen und nationalen Subjekten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf beiden Seiten des Atlantiks gut erforscht. Aber genau dieselben national orientierten institutionellen Strukturen, die das Radio zu einem so wichtigen Instrument für den Aufbau von Nationen machten, haben auch eine Geschichtsschreibung hinterlassen, die sich nur schwer aus der „konzeptionellen Zwangsjacke“ (S. 87) eines nationalen Fokus befreien kann. Mit Ausnahme von Propaganda-Kriegen im Äther und Sendungen für die eigene Bevölkerung im Ausland fanden nicht nur grenzüberschreitende Elemente des Rundfunks (nicht zuletzt die Radiowellen selbst), sondern auch die Prozesse, durch die dieses komplizierte Ensemble aus Technik, Programm und sozialer Macht nationalisiert wurde, bislang so gut wie keine Beachtung. Vor allem in Anbetracht der Internationalisierung in den Geisteswissenschaften scheint dieser nationale Ansatz immer weniger ausreichend, um die Geschichte des Mediums zu schreiben.

In dem kleinen Sammelband „Radio Welten“ hat sich eine Gruppe bedeutender Radioforscher aus Deutschland und den USA zusammengefunden, um sich dieser Problematik anzunehmen. Wie M. Michaela Hampf in ihrer Einleitung betont. "Gerade weil Radio konstitutiv für Nation ist, kann Rundfunkgeschichte nicht in einem nationalen Paradigma verhaftet bleiben" (S. 11). Die Beiträge im Band zeigen, meist in vergleichender Sicht, wie das Radio zu einem nationalen Medium wurde, und untersuchen dabei die ebenso zentrale wie problematische Rolle von Klasse-, Gender- und Rassediskursen in diesem Prozess.

Die Beiträge gehen auf eine Sektion eines größeren, im Jahr 2002 abgehaltenen Symposiums über Medien im deutsch-amerikanischen Kontext zurück. Ein Tagungsband des gesamten Symposiums (inklusive der vier Hauptkapitel des hier besprochenen Bandes) erschien 2004 in englischer Sprache.1 Die Wiederveröffentlichung dieser Aufsätze auf Deutsch kann als positives Zeichen dafür gelesen werden, dass die Internationalisierung der Wissenschaften keine Einbahnstraße ist. Dass das Buch an ein deutschsprachiges Publikum gerichtet ist, ändert auch den Sinn mancher Argumente, zum Beispiel Inge Marßoleks pointierte Fußnote (S. 21, Anmerkung 11), in der sie die Zurückhaltung deutscher Medienforschung – im Gegensatz zu amerikanischen Studien – gegenüber neuen Interpretationsansätzen vermerkt.

Das Buch besteht aus zwei historischen Aufsätzen und zwei Kommentaren, eingerahmt von einer kurzen Einleitung und einer Zusammenfassung der Symposionsdiskussion. Beide Kommentare gehen nicht nur auf die jeweiligen Beiträge ein, sondern legen auch eigene Argumente ausführlich dar, und können daher als selbstständige methodologische Aufsätze gelesen werden. In ihrem Beitrag nimmt Inge Marßolek das Foucaultsche Konzept des dispositifs auf, das durch die Arbeiten von Knut Hickethier und Carsten Lenk Eingang in die deutsche Medienforschung gefunden hat. Im Gegensatz zu Modellen der cultural studies, die dazu neigen, so Marßolek, den Einfluss unterschiedlicher Formen gesellschaftlicher Macht zu unterschätzen, erlaubt es das poststrukturalistische Modell des Dispositivs das Medium – in seinen Texten, Institutionen und Materialien – als „integrale[n] Bestandteil eines Herrschaftssystems“ zu sehen (S. 20). Mithilfe dieses Modells vergleicht sie das deutsche und das US-amerikanische Rundfunksystem, die eine Reihe von Ähnlichkeiten aber auch Unterschieden aufweisen. Insbesondere analysiert sie die entgegengesetzten Vorstellungen von „gutem Geschmack“ in den USA und im vom konservativen Ideal der „Kulturnation“ geprägten Deutschland, die durch das Medium gewirkt haben und die Werte der dominanten gesellschaftlichen Gruppierungen stabilisiert haben.

In ihrem Kommentar nimmt Michaela Hampf Marßoleks Appell auf, die Dispositiv-Analyse stärker auf die Hörsituationen zu beziehen, indem sie das Konzept des Dispositivs als „noch nicht geschriebene Gebrauchsanweisungen“ ausarbeitet. Sie stellt insbesondere die Bedeutung der Technik als Teil des materiellen und diskursiven Ensembles aus Subjekt, Programm und Apparat heraus und verweist damit auf andere, weniger „nationale“ Formen des Radios und der Radionutzung, die auf der gleichen Technik beruhen. Sie spricht damit eine Problematik an, die auch in Michele Hilmes' Beitrag wieder aufscheint (S. 91), nämlich die manchmal paradoxe Rolle des Lokalen und Regionalen, die den deutschen und auf anderer Weise auch den amerikanischen Rundfunk stark geprägt haben.

Im Gegensatz zu den übrigen Beiträgen des Bandes bietet Lewis Erenberg keine expliziten methodologischen Überlegungen, sondern erzählt eine Geschichte über die transatlantischen Strömungen von Swing-Musik und Radio im Zweiten Weltkrieg. Ausgehend von Glenn Millers Eintritt in die US-Army zeigt Erenberg, wie Millers „süßer“ Swing für die Amerikaner, sowohl an der „Heimat-“ als auch an den „Kriegsfronten“, zum zentralen Bestandteil der Radiosendungen wurde. Er weist auf die vielen Widersprüche dieser Musik hin, die ein Bild eines einheitlichen, Freiheit liebenden Amerikas symbolisieren sollte, nicht zuletzt bezüglich der fortwährenden Rassendiskriminierung im Land. Diese Problematik vergleicht er mit ähnlichen Diskursen und Spannungen um den Jazz in Deutschland, die aber „grundverschieden bewertet“ wurden, vor allem von der Staatsmacht. Allerdings zeichnet der Vergleich, der sehr stark auf älteren Arbeiten basiert, ein Bild der Rolle des Jazz im Dritten Reich, das heute jüngeren Studien zufolge viel nuancierter gesehen werden muss.2

In dem vielleicht wertvollsten Beitrag des Buches plädiert Michele Hilmes für eine Geschichtsschreibung, die über den Vergleich hinausgeht, und verweist stattdessen auf die Notwendigkeit, Probleme und Möglichkeiten einer transnationalen Geschichte des Rundfunks. Nationale Formen und Stile des Rundfunks entstanden nicht isoliert voneinander, sondern zumindest zum Teil auch durch transnationale Verhandlungsprozesse. Sie weist auf transnationale Faktoren der Produktion, Programme und auch Rezeption hin, die noch zu erforschen bleiben. Besonders wertvoll an dem Beitrag ist der nachdrückliche Hinweis auf die Herausforderungen einer solchen Geschichtsschreibung, vor allem in Bezug auf die vielen unterschiedlichen Quellen und Sprachen, die Forscher beherrschen müssen. Diese Überlegungen von Hilmes stellen auch implizit Fragen, die an das Buch als Ganzes gestellt werden können. Inwiefern bieten vergleichende Arbeiten und Studien zum Transfer zwischen zwei Nationen die beste Möglichkeit, um die Dynamik und die im Titel des Buches erwähnten „Welten“ des Mediums zu rekonstruieren? Welche anderen „Radiowelten“ bestehen jenseits von „Radio-Nationen“? Neuere Studien, unter anderem von Hilmes selbst, haben damit begonnen, die Umrisse einer atlantischen Radio-Kultur zu skizzieren, wie auch eines Radio-Europa, mit den Spannungen und Fragmentierungen, die in solchen Konstruktionen zu erwarten sind.3

Mit seinem deutlichen Schwerpunkt auf der Methodik der Radiogeschichte ist das Buch vor allem interessant für Medienhistoriker und -historikerinnen, wobei die erhellenden Überblicke zu den Rundfunkentwicklungen in Deutschland und Amerika auch ein breiteres Publikum ansprechen. Obwohl einige neuere wissenschaftliche Arbeiten die programmatischen Ziele der schon vor längerer Zeit verfassten Beiträge inzwischen eingeholt haben, hat das Buch vor allem als methodisch-begriffliche Reflexion transnationaler Mediengeschichtsschreibung noch immer hohen Wert – sowohl für das deutsche wie auch für das amerikanische Publikum.

Anmerkungen:
1 Norbert Finzsch / Ursula Lehmkuhl (Hrsg.), Atlantic Communications. The Media in American and German History from the Seventeenth to the Twentieth Century, Oxford 2004.
2 Brian Currid, A National Acoustics. Music and Mass Publicity in Weimar and Nazi Germany, Minneapolis 2006.
3 Jennifer Spohrer, Ruling the Airwaves. Radio Luxembourg and the Origins of European National Broadcasting 1929–1950, Diss., Colombia University 2008.

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