A. Komlosy u.a. (Hrsg.): Ostsee 700 – 2000

Titel
Ostsee 700 – 2000. Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur


Herausgeber
Komlosy, Andrea; Nolte, Hans-Heinrich; Sooman, Imbi
Reihe
Edition Weltregionen
Erschienen
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Martin Krieger, Zentrum für Forschungsförderung, Universität Greifswald

Der Ostseeraum konstituiert eine historisch gewachsene Einheit, die in vielfältiger Weise mit benachbarten Räumen wie Mittel- und Mittelosteuropa, Westeuropa oder dem asiatischen Raum in dynamischer Verbindung und Kommunikation stand und immer noch steht. Eine derartige Interdependenz sorgt dafür, dass der Ostseeraum mit seinem weiten Hinterland historisch nicht eindeutig zu definieren ist. Gerade diese Unschärfe bedeutet eine Herausforderung, der sich eine bislang überschaubare Anzahl an Studien und Forschungsvorhaben (wie etwa das Greifswalder Graduiertenkolleg „Kontaktzone Mare Balticum. Fremdheit und Integration im Ostseeraum“) stellt. Das Spektrum an historischen Darstellungen reicht von eher glücklosen Überblickswerken 1 bis zu innovativen und interdisziplinären Monographien wie das Werk „Die Ostsee. Eine Natur- und Kulturgeschichte“ des Hannoveraner Pflanzenökologen Hansjörg Küster (München 2002).

Mit Andrea Komlosy, Hans-Heinrich Nolte und Imbi Sooman haben ausgewiesene Kenner der Globalgeschichte wie auch Nordeuropas den Sammelband „Ostsee 700 – 2000. Gesellschaft – Wirtschaft – Kultur“ herausgegeben. Der von jenen vertretene breite, ganzheitliche Ansatz zieht sich durch fast alle Beiträge des Bandes und macht diesen zu einem wahrhaft umfassenden, informativen und lesenswerten Kompendium.

Nach einer Einleitung der Herausgeber, die der räumlichen und chronologischen Verortung dient, folgt ein Beitrag zur Wahrnehmung des Ostseeraumes in kartographischer Perspektive (René Trebel). Zwei anschließende Aufsätze sind der ökonomischen und politischen Geschichte des Mittelalters gewidmet (Dariusz Adamczyk, Jerzy Strzelczyk). Es folgt eine gelungene Sammlung an Beiträgen zur Frühen Neuzeit, die überblicksartig über bäuerliche Freiheit und Schollenband (Christoph Schmidt), Nations- und Staatsbildungsprozesse (Hans-Heinrich Nolte), Konfessionalisierung (Stefan Donecker), Schifffahrt (Harald Pinl) und den Ostseehandel (Michael North) berichten. Weiter schließen sich Aufsätze zur Neuesten Zeit an, die die ökonomische Entwicklung (Andrea Komlosy), Sprache und Sprachpolitik (Imbi Sooman), Literaturgeschichte (Cornelius Hell), Staatlichkeit (Ralph Tuchtenhagen), die jüdische Gemeinschaft und den Holocaust (Wolfram Wette) sowie den Kalten Krieg (Hans-Heinrich Nolte) zum Gegenstand haben. Ergänzt wird das Werk durch Kurzbetrachtungen zu Livland und St. Petersburg (Hans-Heinrich Nolte). Dass sich dabei einzelne Themenbeiträge eher als Gesamtübersicht zum Ostseeraum verstehen, während sich andere einzelnen Ländern oder Regionen im Vergleich widmen, stellt eine Bereicherung des Bandes dar. Der Leser erhält ein abgerundetes Bild von der langen und vielseitigen Geschichte des Ostseeraumes.

Als Vorbild, eine Region durch ihre Lage am Meer und die sich daraus ergebenden Erfahrungen zu betrachten, dient wie bei anderen in den vergangenen Jahren erschienenen Regionalstudien 2 erwartungsgemäß Fernand Braudels Werk „La Méditerranée et le monde méditeranéen à l’epoque de Philippe II“ (Paris 1949). Der in der Einleitung entsprechend begonnene Faden (S. 8) wird im Sammelband selbst gleichwohl kaum aufgenommen. Es stellt sich folglich auch die Frage, ob Braudels Werk, das allenfalls ein Jahrhundert überspannt und insgesamt drei Bände umfasst, ein geeignetes Vorbild für ein Werk abgibt, das sich mit mehr als einem Jahrtausend Geschichte der bemerkenswerten Ostsee befasst. „Die Ostsee 700 – 1200“ setzt zweifellos aus sich selbst heraus Maßstäbe und bedarf der Anlehnung an den großen, aber mittlerweile oft hinterfragten Meister nicht.

Etwas zu kurz kommen nach Ansicht des Rezensenten die wissenschaftliche Erkundung des Nordens – die erstmals überhaupt die Rezeption des Ostseeraums als einheitlichen Raum ermöglichte – und der kulturelle Austausch, zu dem der Band allein über Sprachkontakte Informationen liefert. Auch der eher empirisch angelegte kartographiegeschichtliche Beitrag leistet hier nur wenig Abhilfe. Etwas dünn erscheint nach einer sehr ausführlichen Betrachtung der mittelalterlichen Kontakte des Ostseeraumes nach Ost und West auch die Darstellung der frühneuzeitlichen kolonialen Expansion. Dänemark besaß bereits seit 1616 eine Ostindienkompanie (und nicht erst im 18. Jahrhundert), und Tee wurde keineswegs auf den dänischen Karibischen Inseln kultiviert sondern kam aus China (S. 122).

Die Wahl der inhaltlichen Schwerpunkte des Bandes orientiert sich teilweise an den Forschungsinteressen der Autoren, was auch legitim ist. Allerdings erscheint es überflüssig, in zwei verschiedenen Beiträgen nahezu dieselben Informationen über die Hanse zu vermitteln. Und auch eine vergleichsweise lange (aber dennoch lesenswerte) Abhandlung über den Ostseehering hätte vielleicht zugunsten einer Darstellung der Idee von der „Ruhe des Nordens“ als konstitutiver Konstante im Sinne der „longue durée“ andernorts etwas gekürzt werden können.

Mit Verwunderung nimmt der Rezensent bei einem Aufsatz einige Effekte der political correctness bei der sprachlichen Gleichstellung der Geschlechter zur Kenntnis. Gab es tatsächlich nur männliche „Finnlandschweden“, gleichwohl aber männliche und weibliche „EstlandschwedInnen“ (S. 190)? Hingegen lebten in Estland offenbar allein weibliche „Siedlerinnen“ aber männliche „Dienstboten“ und „Ureinwohner“ (S. 179f.). Ein Register hätte dem Band als Überblicksdarstellung gut getan.

Gleichwohl liefert das Buch einen innovativen Einblick in den aktuellen Forschungsstand der Ostseeraumstudien. Es stellt trotz punktueller Einwände einen gelungenen Einstieg ins Thema dar, der zu weiterer Detaillektüre auf der Grundlage umfangreicher Literaturangaben einlädt. So gelingt es den Herausgebern, sowohl in chronologischer als auch in inhaltlicher Perspektive einen hervorragend strukturierten Band vorzulegen – eine echte Herausforderung bei der großen Breite des Untersuchungsgebietes.

Anmerkungen:
1 Z.B. Alten, Jürgen von, Weltgeschichte der Ostsee, Berlin 1996.
2 Z.B. Schottenhammer, Angela (Hrsg.), Trade and Transfer across the East Asian Mediterranean, Wiesbaden 2005.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/