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Titel
Matters of Exchange. Commerce, Medicine, and Science in the Dutch Golden Age


Autor(en)
Cook, Harold J.
Erschienen
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Orland, Universität Basel

Viele, wenn nicht die meisten europäischen Naturforscher der Frühen Neuzeit sahen in der Natur eine globale Ökonomie, voll von nützlichen Dingen, die es zu identifizieren und zum Zwecke der Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen auszubeuten galt. Was Seeleute, Händler und Eroberer fremder Länder nach Hause brachten, waren naturhistorische Schätze und wertvolle Waren zugleich. Nehmen wir die Tulpe: Die in den 1560er-Jahren aus osmanischen Sultansgärten erstmals nach Europa verschifften Pflanzen schmückten nicht nur die Gärten der Wohlhabenden; wegen ihrer exotischen Farben- und Formenvielfalt (und der vergleichsweise einfachen Nachzucht) ließen sich mit den kostbarsten unter ihnen auch beste Geschäfte machen. 1634, auf dem Höhepunkt der Tulpenmanie der Niederländer, kostete eine Zwiebel der Sorte Semper Augustus den Preis eines Hauses. Der florierende Handel hatte diese Tulpenart zum bevorzugten Spekulationsobjekt gemacht. An der Amsterdamer Börse wie in Hafenspelunken wurden Termingeschäfte abgeschlossen – bis 1637 die Blase platzte, die Tulpenpreise einbrachen und so mancher Holländer in den Ruin stürzte.

Der Amsterdamer Tulpencrash ist in die Annalen der berühmtesten Börsenkrisen eingegangen. Dem Medizin- und Wissenschaftshistoriker Harold J. Cook, Direktor des Wellcome Trust Centre for the History of Medicine in London, dient die Tulpe als Beispiel für die zentrale These seines Buches: Der Prozess der Herausbildung der neuzeitlichen Naturwissenschaften kann nicht ohne die imperialen Bestrebungen und wirtschaftlichen Entwicklungen der Epoche begriffen werden. Bislang wurden hauptsächlich naturphilosophische Umwälzungen und Säkularisierungstendenzen als Erklärung herangezogen. Für Cook ist die fundamentale Neuordnung des auf die Natur bezogenen Denkens ebenso dem profanen Motiv geschuldet, das Sammelsurium des Neuen, Kuriosen und Exotischen auf seine Marktfähigkeit hin zu ordnen und zu bewerten. Wenn die Gelehrten im 16. und 17. Jahrhundert ein neues Verständnis von „Erfahrung“ und „Tatsachen“ entwickelten, dann taten sie dies nicht zuletzt wegen der Globalisierung. Reisen, Handel und Kommerz brachten frischen Wind auch in klerikale und akademische Kreise.

Schon seit geraumer Zeit hat die Wissenschaftsgeschichte den Glauben an die eine und einzige kohärente Geschichte einer „wissenschaftlichen Revolution“ verloren. Es gehört heute zu den Gemeinplätzen der Forschung, die Geschichte der Medizin, Naturwissenschaften und Technik als kulturell eingebundene, soziale Betätigung darzustellen. Kulturhistorische Ansätze nehmen stetig zu, darunter haben sich für die Zusammenarbeit mit der Wirtschaftsgeschichte speziell die Frage nach dem „nützlichen Wissen in Dingen“ und die Diskussion um die „materielle Kultur“ als ertragreich erwiesen.1 Im engeren Umfeld der Medizin-, Wissenschafts- und Technikgeschichte sind es hybride Begriffe wie „Technoscience“, „Thick Things“ oder „Materialität“, die die Diskussion um das Verhältnis von Theorie und Praxis neu belebt haben.2 Aber obwohl wissenshistorische Untersuchungen einzelner Objekte zunehmen 3, mangelt es weiterhin an Monografien, die fachdisziplinär geprägte Zugänge überprüfen und soziale, politische, ökonomische und wissenschaftliche Entwicklungen im Querschnitt erfassen. Ein solcher, wirklich geglückter Versuch liegt in dem Buch von Cook vor. Es zeigt auf anregende Weise, welche Erträge die Wende von einer an Disziplinen orientierten Wissenschaftsgeschichte zu einer an Personen und Dingen ausgerichteten Wissensgeschichte bringen kann.

In einer, wie der Autor es selber nennt, episodischen Erzählweise wird eine faszinierende Themenbreite abgearbeitet: Erkenntnisprobleme in Medizin, Naturgeschichte, Naturtheologie und Philosophie werden ebenso studiert wie praktische Fertigkeiten und Techniken in Handwerk, Gärtnerei oder Apothekerwesen. Die Geschäftspraktiken der Kaufleute werden mit gleicher Sorgfalt behandelt wie die medizinische Theorie eines Herman Boerhaave oder die anatomischen Lektionen des Nicolaes Tulp. Große Namen (Descartes, Spinoza) tauchen auf, aber man erfährt ebenso von den Namenlosen, deren Wissen auf den Eroberungszügen eingesammelt wurde, um später als „universalisiertes“ Wissen in Europa zu zirkulieren. Ein ganzes Kapitel behandelt in Abgrenzung von gängigen weberianischen Annahmen den Einfluss der Religionen auf die Entwicklung von Medizin und Naturgeschichte. Ein anderes widmet sich der Frage, wie neueste Werkstattmethoden die Experimente der Wissenschaftler beeinflussten. Besonders originell sind jedoch jene Teile des Buches, die sich mit der europäischen Reaktion auf die geografischen, medizinischen oder botanischen Informationen aus Holländisch-Ostindien, China, Indien oder Japan befassen.

Bei alldem liegt der geographische Fokus auf den Niederlanden, eine nicht gerade bevorzugte Region britischer Geschichtsschreibung. Doch Cook wählte seinen Untersuchungsraum mit Bedacht: Im 16. und 17. Jahrhundert konnte sich das holländische Seeimperium zu einem der mächtigsten der Welt entwickeln. Holländische Häfen waren wichtige Umschlagplätze für europäische Waren, besonders aber blühte der direkte Handel mit Asien, seitdem die Vereinigte Niederländische Ostindien-Kompanie im Jahre 1602 gegründet worden war. Freilich, diese Gesellschaft war an erster Stelle ein Wirtschaftsunternehmen, das den Portugiesen und Spaniern den Gewürz- und Baumwollhandel im indonesischen Archipel abjagte. Für die mitreisenden Ärzte und Naturforscher war das Unternehmen jedoch auch Drehscheibe für den Transfer von naturhistorischem Wissen.

Der überseeische Handel ermöglichte wie bekannt eine beträchtliche Ausdehnung des europäischen Luxuskonsums, der manche Historiker auch von einer frühneuzeitlichen Konsumrevolution sprechen lässt. Cook diskutiert nun die Wirkung dessen auf den Umgang mit der Natur. Dabei klingt seine Ausgangsthese so schlicht und einfach wie kompliziert zugleich. Weltliche Güter und Erkenntnistheorie, Geschmacksbildung und Wissenserwerb liegen eng beieinander. Im Handel mit Waren wurden Informationen und Verhaltenskodizes ausgetauscht, die als moralische Tugenden hochgeschätzt wurden. Reisen bildet, diesen Spruch nahmen junge wohlhabende Männer wörtlich, auch und gerade weil das up to date-Sein das Versprechen auf eine glückliche Zukunft umfasste. Kreditwürdigkeit, ehrenhaftes Verhalten und Reputation, diese Maxime der Kaufmannspraxis hatten Vorbildcharakter. Sie wurden auch von jenen Naturphilosophen, Wissenschaftlern und Ärzten angestrebt, die über Reformen im akademischen System sinnierten.

In jedem Fall sorgte die robuste Wirtschaftslage der Niederlande des 16. und 17. Jahrhunderts für den Ausbau von Bildung und Forschung. Weil außerdem die Religionskonflikte moderater ausgetragen wurden als anderswo und intellektuelle Dispute nicht von dogmatisch erstarrten Standesorganisationen dominiert wurden, war hier die Ausgangslage für die Erprobung neuer Erkenntnismethoden günstig. Statt tiefgründiger scholastischer Erörterungen bevorzugten die Niederländer die Unmittelbarkeit sinnlicher Anschauung als naturhistorische Methode. Neugierde, und im direkten Umgang mit den Dingen der Natur gewonnene Fakten und Fertigkeiten – die Welt des Kommerzes und die Welt wissenschaftlicher Wahrheitsfindung gehorchten denselben Werten.

Es ist kein Zufall, dass gegen Ende des 16. Jahrhunderts das lateinische „factum“ in seiner Bedeutung als „etwas Gegebenes“ aus der Jurisprudenz entlehnt und zum universalen „matter of fact“ umgedeutet wurde. Auch wenn die damit umschriebene Wahrheit keineswegs unumstößlich war – der Praktiker konnte negative Effekte konstatieren, oft aber nicht erklären, woher diese rührten – so war den Zeitgenossen die Einsicht wichtiger, dass man Neuem nicht mit Einbildungskraft und althergebrachten Erklärungsmustern begegnen sollte. Geschmacksbildung brauchte an der Empirie gewonnene Urteilskriterien; aus unstrukturierter Erfahrung sollte solide Sachkenntnis, ein praxisgeleitetes Wissen, werden.

Wie sich in einer Gesamtheit von Machtansprüchen, Kenntnissen und Lernprozessen neue Praktiken der Wissensgenerierung herausschälen, das führt Cook meisterlich vor. Auch wenn einem dabei manches bekannt vorkommt, anderes vermisst wird und die Ordnung des verarbeiteten Materials sicherlich anders vorstellbar wäre, der Lesegenuss wird dadurch nicht beeinträchtigt. Cook hat einen Stil gefunden, der die ausgelegten Fäden zusammenhält. Er zeichnet ein buntes Bild vom Weltwissen der Niederländer – und bietet selbiges von sich, dem Historiker.

Anmerkungen:
1 Von wirtschaftshistorischer Seite hat das Buch von Joel Mokyr (The Gifts of Athena: Historical Origins of the Knowledge Economy, Princeton 2002) eine Diskussion über die Frage angestossen, was „nützliches Wissen“ ist und ob dies als historische Kategorie brauchbar ist. Einen Überblick dazu bietet: Maxine Berg, The Genesis of ‚Useful Knowledge’, in: History of Science 45 (2007) 2, S. 123 - 133.
2 Als Einstieg in diese Diskussion siehe 'Perspectives on Science' 13 (2005) 2. Zum Begriff „thick things“ vgl.: Ken Alder, Introduction, in: Focus. Thick Things, in: Isis 98 (2007), S. 80-83.
3 Siehe als aktuelles Beispiel: Jakob Vogel, Ein schillerndes Kristall. Eine Wissensgeschichte des Salzes zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Köln 2008.

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