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Titel
Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Dunker, Axel
Erschienen
Paderborn 2008: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
193 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Arend, Department Germanistik und Komparatistik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungslandschaft ist das Interesse am Kolonialismus seit einigen Jahren relativ groß.1 Dunkers Studie geht den Spuren dieses Diskurses in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts nach. Zum Teil haben bereits vorhandene Aufsätze in dieser Monographie Eingang gefunden. 2 Sie sucht einen eigenen Zugriff, indem sie in Anlehnung an Edward Saids Methode des ‚kontrapunktischen Lesens‘ Räume des Textes aufspürt, die den Kolonialismusdiskurs implizit mitgestalten. Der Text sagt etwas, was er scheinbar ausschließt. Während aber Said die Literatur auf diese Weise an der imperialen Geste teilnehmen lässt und sie somit politisiert, geht Dunker einen anderen Weg. 3

Es geht ihm nicht darum, anhand der Literatur die Haltung der eurozentrischen Selbstvergewisserung in der Auseinandersetzung mit dem Anderen nachzuweisen, sondern eher Widersprüche und Brüche in den Texten aufzuzeigen. Er geht davon aus, dass sie oft keine eindeutige Position zum virulenten und streitbaren Thema des Kolonialismus einnehmen, sondern zwischen Affirmation und kritischer Distanz lavieren. Das Leitwort der Studie lautet „Ambivalenz“ (S. 168). Diese nachzuweisen, dienen diskursanalytische Lesarten, die insbesondere die ästhetischen Fakturen der Texte berücksichtigen. Die als trivial geltende und ästhetisch eher simplizistisch angelegte Kolonialliteratur wird ausgeschlossen. Die Aufmerksamkeit gilt bekannten Texten, wie Kleists Erzählung „Verlobung in St. Domingo“ oder Fontanes „Effi Briest“, sowie solchen, die bisher eher marginalisiert wurden, wie E.T.A Hoffmanns „Haimatochare“ oder Storms „Von Jenseit des Meeres“. Dunker kommt zu dem Schluss, dass sie fast alle „ein Unbehagen am Kolonialen“ artikulieren (S. 171). Er geht den diskursiven Wurzeln dieses Unbehagens auf den Grund. Anregend sind seine Lektüren dort, wo sie ins Detail gehen und Subtilitäten aufspüren. Dunker gelingt es, die Fakturen der Texte transparent zu machen und ambivalente Diskursformationen in ihren Funktionen darzustellen.

An Kleists Erzählung „Verlobung in St. Domingo“ lässt sich das kontrapunktische Lesen exemplarisch vorführen. Dunker zeigt, wie der Text, der beispielhaft Kolonialismus- und Genderdiskurs miteinander verbindet, durch Wechsel der Erzählperspektiven ein Verwirrspiel stiftet, so dass er sich einer definitiven Aussage etwa im Sinne eines deutlich angelegten und gar vom Autor vertretenen „Rassismus“ entwindet (S. 33). Kleists auch in anderen Texten bekanntes unzuverlässiges Erzählen ist hier gut nachvollziehbar. Selbstverständlich nehmen dabei die gelbhäutige Toni und der sich schließlich selbst vernichtende Gustav zentrale Rollen ein, an denen die von Dunker unterstrichene ‚Ambivalenz‘ besonders manifest wird. Einerseits bedient die Figur der Toni ein Muster des Kolonialismusdiskurses, indem sie das verführerisch Exotische darstellt. Andererseits unterläuft sie dieses Muster in gewisser Weise, indem sie den weißen ‚Herrscher‘ und ‚Fremden‘ Gustav ans Bett fesselt – um sich selbst und ihn zu schützen. Gustav zementiert schließlich seine Herrscherrolle, indem er Toni umbringt. Er bringt sie um in einem Akt der Verzweiflung und weil er sie nicht versteht. Dieses Nichtverstehen endet in der Selbsttötung – im Schuss in den Ort des Körpers, in dem dieses Verstehen hätte stattfinden müssen, in den Kopf.

Angesichts dieses Problems der Verständigung könnte man danach fragen, ob der Text den Kolonialismusdiskurs nur zweiwertig mitverhandelt. Es ist ja einleuchtend, dass „die einlinige Parteinahme der Erzähler-Stimme für die Weißen“ mehrfach gebrochen wird (S. 39). Der Kolonialismusdiskurs könnte sich als bloßes Medium erweisen, das sich eignet, das Problem der menschlichen sprachlichen und zeichenhaften Kommunikation in besonderer Weise zu veranschaulichen. Das misslungene Kommunizieren ist auch in anderen Erzählungen und Dramen Kleists nicht selten handlungsbestimmend und zentral. Die Frage schließt sich an, ob in „Die Verlobung in St. Domingo“ tatsächlich die Kritik am Kolonialismus im Zentrum steht, insofern dessen ‚strukturelle Gewalt‘ gleichsam für das Missverstehen verantwortlich ist (vgl. S. 43). Nebenbei bemerkt entbehrt diese Erzählung nicht der Komik, die gerade in der misslungenen Kommunikation ein bekanntes Verfahren findet und die auch einen Kontrapunkt zum eigentlich ernsten und blutigen Geschehen darstellt.

Ansprechend ist die Analyse von Theodors Storms „Von Jenseit des Meeres“. Intradiegetisch schildert der Ich-Erzähler Alfred die Umstände seiner Verbindung mit Jenni, einer unehelichen Tochter eines nach Westindien ausgewanderten Kaufmanns und einer dort Einheimischen. Der Text beweist dabei „eine eklatante Ambivalenz gegenüber der kolonialen Fremde“ (S. 98). Gegenüber Jenni empfindet Alfred offenbar von Anfang an eine widersprüchliche Faszination. Diese bildet die Grundlage für ihre „erotische Attraktion“ (S. 101). Wie Dunker überzeugend zeigen kann, konturieren die intertextuellen Verweise auf Eichendorffs „Das Marmorbild“ und dessen Gedicht "Schöne Fremde" erheblich das Bild einer Frau, die durch ihre Anmut anzieht, aber auch bedrohlich wirkt, weil sie dunkle und unfassbare dämonische Züge trägt. Die ästhetische Faktur des Textes unterwandert somit die eigentlich ‚liberale‘ Aussage der Erzählung, dass die Ehe mit einem unehelichen Mischlingskind möglich ist.

Den Abschluss der Lektüren bildet ein Blick in Fontanes „Effi Briest“. Fontanes Interesse für den Kolonialismus zeigt sich unter anderem auch in anderen Romanen („Stine“, „Quitt“ oder „Die Poggenpuhls“) sowie in Briefzeugnissen. Dunker arbeitet hier eine kritische Haltung sowohl gegenüber der Politik der Kolonialmächte als auch einen gewissen herablassenden und auch mit Neugier gepaarten Hochmut gegenüber den neu entdeckten ,unzivilisierten‘ Völkern am anderen Ende der Welt heraus. In „Effi Briest“ erkennt er in den Anspielungen auf das Außereuropäische, die in der Forschung schon häufig diskutiert wurden, eine besondere Funktion. Das mit kolonialen Requisiten gespickte Haus Instettens erregt zugleich Neugier und Angst. Es ist „viel mehr als Dekoration, es dient als Projektionshintergrund für Phantasmen: die Auslieferung der Frau an den Mann…“ (S. 157). Damit aber erschöpfen sich diese Hinweise nicht. Als recht komplex erweist sich die Erscheinung des Chinesen. Gegenläufig zur dominanten Forschungstendenz will Dunker diese Figur nicht nur in Beziehung zu Effi verstanden wissen und hier als Projektionsfläche für nicht erfülltes Begehren. In einer sozialgeschichtlich motivierten Lesart setzt er sie in Beziehung auch zu den anderen Figuren: beispielsweise zu Instetten selbst. Im Chinesen stecke „die Ambivalenz der deutschen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts gegenüber dem interkulturell Fremden und dem Kolonialen“ (S. 159). Er ist sowohl negative wie positive Projektionsfläche. Einerseits stehe China für ‚Untreue‘ und ‚Verschlagenheit‘, andererseits für den Erfolg der Deutschen in Bezug auf die kolonialen Beziehungen. Der Chinese, der der oft allein schlafenden Effi nachts an ihrem Bett erscheint, verweise somit auch auf Bismarck, der schließlich für die Abwesenheit des eigenen Mannes verantwortlich sei. Um diese Deutung zu stützen, wären vielleicht mehr Textbelege hilfreich gewesen. Im Folgenden zeigt Dunker, wie sich in der ästhetischen Faktur des Textes „das Koloniale als Zeichen ambivalent besetzten Unbehagens“ (S. 161) immer wieder bemerkbar macht.

An Dunkers Studie gefallen die einleuchtende These und der philologische Zugriff auf die Texte. Sie geht in medias res, ohne sich in ausschweifenden Theoriedebatten zu verlieren. Sie bietet der bisherigen Forschung zum Kolonialismusdiskurs wichtige Anregungen und spürt subtile Verweisungszusammenhänge der Texte auf. Hier und da hätte dasjenige, was sich der ambivalenten Lesart dann doch widersetzen könnte, mehr diskutiert werden können. Zu kurz kommt vielleicht auch die Bedeutung der jeweils gewählten Erzählperspektiven, deren Beachtung die These einer ‚Ambivalenz‘ des Kolonialismusdiskurses in den ausgewählten Texten noch hätte differenzieren könnte. Insgesamt aber liest sich die Studie erfreulich unprätentiös und klar. Sie ist von hermeneutischem Wert, da sie sich schwierigen Textpassagen stellt und diese durchaus aus einer bestimmten Perspektive erhellen kann.

Anmerkungen:
1 Zantop, Susanne, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770-1870), Berlin 1999; Honold, Alexander; Simonis, Oliver (Hrsg.), Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden, Tübingen u.a. 2002; Honold, Alexander; Scherpe, Klaus R., Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart u.a. 2004.
2 Vgl. Dunker, Axel, Die schöne Insulanerin. Kolonialismus in E.T.A. Hoffmanns Südsee-Erzählung Haimatochare, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002), S. 386-402; vgl. ders., „Gehe aus dem Kasten“. Modell einer postkolonialen Lektüre kanonischer deutschsprachiger Texte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Wilhelm Raabes Roman Stopfkuchen, in: ders., (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur (wie Anm. 2), S. 147-160; vgl. Dunker, Axel (Hrsg.), (Post)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angolamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, Bielefeld 2005.
3 Dunker nimmt insbesondere Bezug auf Edward Saids Studie Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Aus dem Amerikanischen von Hans-Horst Henschen, Frankfurt am Main 1994; vgl. zur Debatte um Saids Buch Orientalism (1978): Polaschegg, Andrea, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte), Berlin 2004, hier S. 28-38.