H. Feger u.a. (Hrsg.): Schiller und die Gebrüder Humboldt

Titel
Die Realität der Idealisten. Friedrich Schiller, Wilhelm von Humboldt und Alexander von Humboldt


Herausgeber
Feger, Hans; Brittnacher, Hans R.
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Temilo van Zantwijk, Institut für Philosophie, Friedrich Schiller Universität Jena

Dieser Band ist am besten im Blick auf die Konstellationsforschung zu würdigen. Diese nimmt nicht das Werk eines Autors als kleinste Einheit der Philosophiegeschichte, sondern die Interaktion zwischen mehreren Autoren als Entstehungs- und Erklärungsgrund für sich genommen schwer verständlicher Philosopheme.1 Der Band hat das Zeug, die Konstellationsforschung, die sich bisher auf den Frühidealismus und die Jenaer Frühromantik konzentriert hat, um eine Konstellation Schiller - W. von Humboldt - A. von Humboldt zu erweitern. Insbesondere arbeiten Günter Oesterle und Ulrich Profitlich die Genese eines ästhetisch und poetologisch fundierten Idealismus im Briefwechsel zwischen Schiller und W. v. Humboldt heraus (S. 147 ff.; S. 177 ff.). Der Band ergänzt vorhandene Untersuchungen zur besonderen Gestalt des Schillerschen Idealismus.2 Vorausgesetzt ist die Berechtigung, die hier untersuchten Autoren zum Deutschen Idealismus zu rechnen. Von der problematischen, nationalistisch gefärbten Terminologiegeschichte dieses Namens wird abgesehen.3 Der Idealismus-Begriff wird möglichst weit gefasst. Der holistische Gedanke, "die ganze Fülle und Mannigfaltigkeit der wirklichen und ideellen Weltregionen auf Aktivität des vernünftigen Geistes [...] zurückzuführen", wie Tze-Wan Kwan im Anschluss an Dietrich Mahnke sagt (S. 96), bestimme als roter Faden die Gedankenentwicklung von Leibniz über Kant bis Hegel, in der auch Schiller und die beiden Humboldts stünden.

Hans Feger setzt beim doppelten Begriff der Realität bei Kant an. Realität ist erstens die "Materie als Erscheinung" (S. 15), welche die Objektivität einer Erkenntnis im Sinne einer intersubjektiven Gültigkeit begründet. Zweitens gibt es eine Realität im Sinne von existierender Wirklichkeit jenseits der subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. An den von Jacobi ausgehenden Diskussionen um das 'Ding an sich' vorbei wird dem Idealismus im Anschluss an Schiller ein "vertiefter Realitätssinn" zugesprochen (S. 17). Dabei wird Realität als Produkt bestimmt, das von einem freihandelnden Subjekt entworfen wird. Systematisches Zentrum der Beiträge ist die Möglichkeit und Reichweite einer produktiven Einbildungskraft. Schiller nimmt eine Naturverankerung des ästhetischen Scheins an. Das objektiv Schöne erscheint dabei als Produkt der Einbildungskraft, in der Subjektivität und Objektivität ursprünglich (vor aller Reflexion) vereint sind. Leider wird diese These nicht mit der auf Descartes zurückgehenden Unterscheidung zwischen Intuition und Imagination konfrontiert, die die Imagination gerade zum erkenntnistheoretisch unsicheren Prinzip der Phantasie macht. In dieser Tradition steht noch die intellektuelle Anschauung bei Fichte und Schelling. Die produktive Einbildungskraft bringt bei ihnen ausschließlich die Anschauungsformen hervor, in denen das Ich für sich selbst Objekt wird, nicht aber Objekte der äußeren Anschauung. Offen bleibt, nach welchem Kriterium zwischen einer produktiven Imagination im beabsichtigten Sinne und einer 'phantastischen' Imagination unterschieden werden könne, wenn eine Cartesische 'Intuition' nicht zur Verfügung steht.

Die ästhetische Reflexion thematisiert bei Schiller die Erscheinung unter der Perspektive ihres ästhetischen Scheins und lässt das Subjekt in einem Zustand des Verweilens, in welchen es von den Schranken der Zeit befreit ist. Einbildungskraft und Verstand befinden sich in einer Schwebe, in der Subordination und Koordination der Erscheinungen zugleich urbildlich dargestellt werden (S. 21). Schiller weist der produktiven Einbildungskraft damit über Kant hinaus die Rolle einer Konstitution des Wirklichen zu. Zugleich bezieht er Kants berühmte These, dass das Schöne das Symbol des Sittlich-Guten sei, auf die praktische Vernunft und damit auf Politik und Pädagogik. Wo Kant, so Ivonne Ehrenspeck, eine Analogie zwischen praktischem und ästhetischem Urteil im Sinne hat, welche die beiden Reiche der Natur und der Freiheit aber immer nur im Modus der Reflexion zu vermitteln erlaubt, sucht Schiller ein Prinzip, das eine Realisierung der Freiheit (einen "Übergang" von der noumenalen in die phänomenale Welt, S. 216) ermöglicht.

Wilhelm von Humboldt entwickelt ab Mitte der 1790er-Jahre die These von der Sprache als bildendes Organ der Gedanken. Die Anknüpfung an Schiller geschieht bei dessen gegenüber Kant verstärkten Begriff der Einbildungskraft. Humboldts Begriff des Sprachsinns übernimmt die Funktion, die bei Schiller die erweiterte produktive Einbildungskraft erfüllt. Die Idee einer "Zeugungskraft" der Sprache (S. 25) geht unmittelbar auf Schillers Auffassung zurück, dass in der ästhetischen Erfahrung des Naturschönen eine Anlage zum Sittlichen liege. Im Gegensatz zu Fichte, der die internalistische 'Tathandlung' zum Grund aller produktiven Erkenntnisleistungen (und übrigens auch der artikulierten Rede) macht, geht Humboldt von einer ursprünglichen Vermittlung von Subjekt und Objekt im Sprachsinn aus. Damit ist die Grundlage für ein Verständnis der Sprache als Artikulation gelegt, dessen Einfluss sich noch in Humboldts Untersuchungen zum Baskischen und im Kawi-Werk bemerkbar macht (S. 64). Jürgen Trabants Rede von einer 'zeichenfeindlichen Sprachphilosophie' (S. 57) bei Humboldt ist etwas überpointiert. Sprache ist (wie Trabant ausdrücklich feststellt) für Humboldt zugleich Zeichen und Abbild. In die (nicht-arbiträre) Abbildfunktion geht die Sinnlichkeit, in die Zeichenfunktion die spontan produktive Seite des Verstandes ein. In der Sprache artikuliert sich eine, beides verbindende produktive Einbildungskraft. Es ist eine der großen Schwierigkeiten bei Fichte und Schelling, dass es bei ihnen zwar keine völlige Vernachlässigung der Sprache, wohl aber eine Unterschätzung ihrer kognitiven Leistungen gibt. Die fällige Diskussion wird in diesem Band (noch) nicht geführt.

Alexander von Humboldt habe Schillers Theorie des ästhetischen Scheins naturwissenschaftlich ausbuchstabiert. Die Zuordnung Alexanders zu den 'Idealisten' ist ein wunder Punkt. Sie erfolgt nur, indem auch bei ihm ein holistischer Ansatz nachgewiesen wird. Naturerkenntnis wird dabei aber von einer ästhetischen Perspektive abhängig gemacht. Für Humboldt verbürgt das Naturschöne die Ordnung der Natur. Für Kant ist das eine Erschleichung, in der wir das, was wir aus der Natur machen, für das, was sie an sich ist, halten. Dieser Kritik des Missbrauchs teleologischer Ideen folgt Hegel weitgehend.4 Wurde der Boden eines wie auch immer zu definierenden 'Deutschen Idealismus' damit nicht verlassen? Dagegen spricht, dass Humboldts Philosophie der Erde in einer eng mit Schillers Überlegungen verwandten Weise eine 'Ansicht' der Erde festhalten soll. Dabei wird das absichtsvoll Doppeldeutige von 'Ansicht' methodisch ausgenutzt, das sowohl das Anschauen als Angeschautwerden (einer Landschaft) bezeichnet (S. 45). Humboldt gelangt so zu einer Naturanschauung, in der sich ästhetische und wissenschaftliche Weltauffassung gegenseitig ergänzen. Das 'Ganze' der Welt wird unter komplementären Perspektiven in einem 'Totaleindruck' fassbar. Im selben Sinne spricht Schiller von 'Totalvorstellung'. Lars Friedrich arbeitet die Wirkungsweise dieses integrativen Wissenschaftsverständnis für den Kosmos heraus (S. 80 ff.). Für Humboldt ist der ursprünglich imaginative Zugang zur Natur im Zeitalter moderner wissenschaftlicher Rationalität einzuholen, wenn Wissenschaft sich auf das Ganze der Natur beziehen soll. Es wäre hilfreich gewesen, die Diskussion über das Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung im Deutschen Idealismus im engeren Sinn (Fichte, Schelling, Hegel) in die Diskussion einzubeziehen.5

Das klassische Thema eines Idealismus im Sinne Schillers, nämlich eine Realisierung der moralischen und politischen Freiheit über die Erfahrung des Schönen zu ermöglichen, wird abschließend aus der entwickelten Theorie erklärt. Klaus Berghan versteht Schillers Briefe als eine politische Ästhetik (S. 245), die vom Faktum des Scheiterns der Französischen Revolution ausgeht. Für Terence Reed bleibt Schillers politisches Denken letztlich als Exponent des Ringens um eine Versöhnung des Gegensatzes zwischen individueller Selbstentfaltung und einer materiellen Sicherstellung des Lebens im Begriff einer Menschenwürde zu kritisieren (S. 259). Immerhin haben Schiller und Humboldt damit aber eine grundlegende Problemsituation moderner freiheitlich-demokratischen Gesellschaften diagnostiziert.

Anmerkungen:
1 Martin Mulsow / Marcelo Stamm (Hrsg.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main 2005; Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus Tübingen-Jena 1790-1794, 2 Bände, Darmstadt 2004.
2 Hans Feger (Hrsg.), Friedrich Schiller. Die Realität des Idealisten, Heidelberg 2006.
3 Birgit Sandkaulen, Jena als Chiffre des 'deutschen Idealismus'? Motive und Folgen einer historischen Konstruktion, in: Jürgen John / Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Jena. Ein nationaler Erinnerungsort? Köln und Weimar 2007, S. 113-122.
4 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Die Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg 1988, S. 174f.
5 Vgl. Brady Bowman, 'Werden der Wissenschaft'. Gehalt und methodisches Ideal der Hegelschen Darstellungsform, in: ders. (Hrsg.), Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Literatur und Philosophie nach Kant. Paderborn 2007, S. 271-282.