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Titel
Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter


Autor(en)
Teuscher, Simon
Reihe
Campus Historische Studien 44
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Blatter, Stadtarchiv Sursee

„Erzähltes Recht“ – so lakonisch der Titel der Habilitationsschrift von Simon Teuscher anmutet, so brisant ist der Inhalt. Brisant sind die Einsichten des Autors zunächst aufgrund der Quellen, die er zur Hand nimmt und einer minutiösen Neubewertung unterzieht, nämlich der „Weistümer“.

Weistümer sind „Aufzeichnungen lokaler Rechte“ aus dem 14. und 15. Jahrhundert (S. 13). HistorikerInnen, die sich nicht auf das Mittelalter spezialisiert haben, mögen noch nie von der Weistumsforschung gehört haben. Doch seit gut 150 Jahren, seitdem Jacob Grimm von 1854 an Weistümer aus dem deutschsprachigen Raum veröffentlichte und wissenschaftlich kommentierte, erwies sich die spezialisierte Weistumsforschung als fruchtbarer Forschungszweig. Nicht nur erschienen im deutschsprachigen Raum zahlreiche weitere regionale Weistumseditionen, vor allem verhalf die Weistumsforschung der Vorstellung eines mittelalterlichen „guten alten Rechts“ zu einer erstaunlichen internationalen Karriere und prägte wesentlich das Bild der mittelalterlichen Gesellschaft als statisch, mündlich und traditional. Viele der spätmittelalterlichen Weistümer beschreiben nämlich in poetischen Einleitungen, wie sie an ritualisierten Versammlungen bei Gerichtstagen entstanden seien, indem der Herr eines Dorfes seinen Bauern gegenübergetreten sei und diese aufgefordert habe, ihm aus ihrer Erinnerung ihre Rechte mitzuteilen, worauf diese mündlichen Rechte als Weistum schriftlich festgehalten und jährlich verlesen worden seien. Für Jacob Grimm waren die Weistümer – ebenso wie die ebenfalls von ihm gesammelten Märchen – volkstümlicher Ausdruck einer „uralten deutschen Volkskultur“, die bis in vorchristliche, altgermanische Zeiten zurückreiche (S. 13).

Fritz Kern hat sich in seiner 1919 erschienen Schrift „Recht und Verfassung des Mittelalters“ dann vom germanisch-volkstümlichen Verständnis der Weistümer gelöst. Er sah im „guten alten Recht“ ein mündlich tradiertes, als gottgegeben verstandenes Gewohnheitsrecht, das von den mittelalterlichen Zeitgenossen nicht beschlossen, sondern nur „gefunden“ werden konnte; diesem stellte er das moderne, schriftliche und vom römischen Recht geprägte Rechtsverständnis gegenüber. Kerns Text wurde ins Englische übersetzt und fand breite Rezeption in der angelsächsischen Geschichtsforschung und darüber hinaus. Der Kulturanthropologe Goody beispielsweise stützt sich bei der Debatte zur Entwicklung und Modernisierung schriftloser Gesellschaften der Gegenwart auf Kerns Text ab. Das statische, mündliche und traditionale Mittelalter dient dabei als unabdingbarer Gegenpart zur schriftlichen Moderne (S. 19).

Was macht nun Teuscher, wenn er diese in den letzten 150 Jahren intensiv bearbeiteten Texte zur Hand nimmt? Einerseits weitet er seine Quellenbasis aus, anderseits schränkt er ein. Den Untersuchungsraum begrenzt er auf das Gebiet zwischen Genfersee und Bodensee im Gebiet der heutigen Schweiz. Damit geraten so unterschiedliche Herrschaftsstile wie diejenigen der Grafen bzw. Herzöge von Savoyen, aufstrebender Städte oder kleinster Klosterherrschaften dies- und jenseits der deutsch-französischen Sprachgrenze in den Fokus der Untersuchung. Schließlich ergänzt Teuscher seine Quellenbasis um das Schriftgut der Kundschaften. Auf diese wurden bei konkreten Gerichtsfällen Zeugenaussagen notiert, um die jeweilige Rechtslage zu klären. Kundschaften sind also – wie dies auch die meisten Weistümer von sich selbst behaupten – Verschriftlichungen zuvor ungeschriebener Rechte. Vor allem aber sucht Teuscher bei seiner Lektüre nicht nach irgendeinem mündlichen Urzustand, sondern er untersucht die Handlungen, die auf den spätmittelalterlichen Papieren tatsächlich Spuren hinterlassen haben, nämlich zunächst die „Verständigung über ungeschriebene Rechte“, dann die „Herstellung schriftlicher Aufzeichnungen solcher Rechte“ und schließlich den „Gebrauch der einmal hergestellten Aufzeichnungen“ (S. 39). Er fragt nach der „Eigenlogik“ und nach den „Konventionen“ der Handlungs- und Wahrnehmungsweisen im konkreten und praktischen Umgang mit Rechten, um Einblick in den „Wandel eines administrativen 'imaginaire'“ zu gewinnen (S. 42). Damit richtet er sein Augenmerk auf die Herrschaft, bei deren Ausübung und zu deren Zweck diese Dokumente hergestellt wurden. Und er entlarvt die in den Weistümern beschriebene, vermeintliche Folklore denn auch als eigentliche „Herren-lore“ (S. 140).

Die gleichzeitige, parallele Untersuchung von Kundschaften und Weistümern erweist sich als ausgesprochen fruchtbares und aufschlussreiches Vorgehen.

Dazu ein Beispiel: In den Weistümern wird jeweils ein bestechend alltagsnahes Bild der Begegnung von Herren mit ihren Abhängigen an den Dinggerichten gezeichnet. Der persönlich anwesende Herr steht seiner homogenen Gruppe abhängiger Dorfbewohner gegenüber, die ihm ihre seit jeher geltenden Rechte mitteilen. Doch in den Kundschaften zeigt sich ein ganz anderes Bild. Denn die Herren traten bei der alltäglichen Herrschaftsorganisation kaum in Erscheinung. Die Abhängigen waren alles andere als eine homogene bäuerliche Gruppe. Die Funktion von Herrschaftsrechten als ökonomische Ressourcen wird in Weistümern nicht erwähnt. Die wichtigsten Initianten der Rechtsverschriftlichung, die Amtsleute, tauchen in den abstrakten Kategorien von Herren und Abhängigen gar nicht auf, ebenso wenig die immer wichtiger werdenden Territorialherrschaften. Das heisst, „das einfache, personalisierte und statische Bild der Herrschaftsorganisation stellte schon für die Zeitgenossen eine Abstraktion dar“ (S. 150). Diese Abstraktion erlaubte es, wie Simon Teuscher überzeugend ausführt, Autorität von den Personen, die sie tatsächlich ausübten, zu trennen, indem sie abstrakten Trägern zugewiesen wurde. Erst dadurch ließen sich Herrschaftsrechte als Entitäten behandeln, die man in territorialen Machtkomplexen bündeln, an wechselnde Personen delegieren oder als Pflichten von Amtsleuten begreifen konnte.

Oder ein anderes Beispiel: Beobachtet man wie, wozu und unter welchen Vorannahmen Weistümer und Kundschaften hergestellt wurden, lassen sich bei beiden ähnliche Veränderungen feststellen. Die in Weistümern und Kundschaften jeweils notierten Rechtsnormen veränderten sich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts von verhandelbaren zu feststehenden Normen, von isolierten Regeln zu kohärenten Regelbeständen, von Vereinbarungen unter Notabeln zu einem Recht, das durch das Wissen homogener, räumlich definierter Bevölkerungen legitimiert wurde. Erst am Ausgang des Mittelalters und erst als Ergebnis dieser Entwicklungen wurden „Rechte […] mit Traditionen gleichgesetzt“ (S. 204), wie Simon Teuscher dies prägnant auf den Punkt bringt. Dahinter steckt der zunächst verwirrende Befund, dass erst die jüngeren Rechtsdokumente auf ein „gutes altes Recht“ Bezug nehmen. Je jünger die Kundschaftsprotokolle sind, desto eher ist darin von alten Zeugen die Rede, deren Aussagen über möglichst alte Praktiken als Indizien für ein hergebrachtes Gewohnheitsrecht fungieren. Je jünger die Weistümer sind, desto eher wurden sie als von alters her tradierte Gewohnheitsrechte der Dorfbevölkerung dargestellt, dies obwohl Weistümer erst in Kanzleien aus anderen Rechtsdokumenten wie Urkunden, Gerichtsurteilen oder Weistümern benachbarter Dörfer kompiliert worden waren. Durch solche Strategien konnten einheitliche Rechtsnormen für lokale Verwaltungseinheiten legitimiert werden. Gleichzeitig entzogen sich die lokalen Rechtsnormen aufgrund ihrer Verankerung in einem alten Gewohnheitsrecht einer allfälligen Verhandlung und Veränderung durch die Dorfbevölkerung – damit lag das letzte Wort bei der Feststellung des Rechts bei den gelehrten Experten.

Die Vorstellungen, welche diesen Hilfskonstruktionen der Kanzleischreiber und Rechtsexperten des 15. Jahrhunderts zu Grunde lagen, bezeichnet Teuscher als „administrativ-rechtliches Geschichtsbild des ausgehenden Mittelalters“ (S. 313). Jacob Grimm und seine Epigonen bis ins 20. Jahrhundert übernahmen dieses „administrativ-rechtliche Geschichtsbild“ unbesehen. Sie glaubten in der unbestimmten „alten Zeit“ der Weistümer die konkrete historische Epoche des Frühmittelalters wiederzuerkennen, deren mündliche Rechtskultur oder archaische schriftlose Gesellschaften sie eifrig anhand der Weistümer untersuchten und deuteten. Nach der Lektüre des vorliegenden Buches erscheinen solche Annahmen mehr als fragwürdig.

Teuscher hebt mit seinem Buch manch liebgewordene Vorstellung vom „guten alten Recht“ aus den Angeln, und seien es nur schon die weit verbreiteten Annahmen, das gelehrte römische Recht habe im Spätmittelalter die Rechtsgewohnheiten verdrängt oder das Gewohnheitsrecht sei ein Überrest einer schriftlosen Kultur. Doch er bemüht sich um eine behutsame Neuplatzierung des untersuchten Stoffs, indem er aufzeigt, wie genau „mit Praktiken des Schriftgebrauchs [...] Bilder der Ordnung, der Vergangenheit und der Wirklichkeit“ geformt werden konnten (S. 317).

Teuscher führt seine Leserinnen und Leser durch eine komplexe Materie. Eine derart quellennahe Untersuchung und die 150jährige Forschungsgeschichte sind nicht die besten Voraussetzungen für einen einfachen Text. Tatsächlich findet man sich da auf einer unverhofften Wildschweinjagd auf dem Thunersee wieder, begegnet dort einem Doktoren der „consuetudo“ oder erfährt hier Details zum eigenartigen Sonderweg, auf den sich die deutschsprachige Forschung mit Otto Brunner begeben hat. Doch indem er seine dichte Quellenanalyse auf exemplarische Fälle beschränkt, sich gegenüber anderslautenden Forschungsmeinungen fair zurückhält und dank der sorgfältigen Sprache kann man Teuschers Erzählung folgen und können seine Einsichten jederzeit nachvollzogen werden. Manchenorts wünschte man sich eine noch klarere Bewertung anderer Forschungsrichtungen, gerade weil er sie jeweils derart zurückhaltend und sorgfältig beschreibt. Oder man möchte einfach noch mehr Einzelfälle anhand der Quellen zu lesen bekommen. Vor allem aber hätte man erwägen können, im Buch selbst ein Weistum ganz wiederzugeben. Wer noch nie ein Weistum gelesen hat, kann die Faszination, welche gerade die poetischen Eingangspassagen ausüben und damit wohl die Weistumsforschung und ihre Wirkungsgeschichte zu verantworten haben, vielleicht nur schwer nachvollziehen.

Dies alles tut dem Werk von Teuscher freilich wenig Abbruch. Es handelt sich um eine grundlegende Forschungsleistung, welche die Diskussion der nächsten Zeit mit Sicherheit prägen wird.

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