J. Meyer-Lenz (Hg.): Die Ordnung des Paares ist unbehaglich

Titel
Die Ordnung des Paares ist unbehaglich. Irritationen am und im Geschlechterdiskurs nach 1945


Herausgeber
Meyer-Lenz, Johanna
Erschienen
Hamburg 2000: LIT Verlag
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 25,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Dünkel, Fachbereich Geschichtswissenschaft, Universität Hamburg

Schon der Titel des vorliegenden Buches macht die Orientierung der Autorinnen an den neueren kulturgeschichtlichen Theorien als Grundlage historischer Forschung deutlich: Er nimmt Bezug auf das 1991 auf deutsch erschienene Buch von Judith Butler mit dem Titel "Das Unbehagen der Geschlechter". Das Buch paßt mit seiner Fragestellung nach dem Geschlechterdiskurs in der Nachkriegszeit und den fünfziger Jahren zu der These Foucaults, daß die Bedeutung des heterosexuellen Paares für die verschiedenen Diskurse der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert - genannt seien hier der sexual- und bevölkerungswissenschaftliche Diskurs und die Medizin - eine zentrale Rolle gespielt hat.Vor dem Hintergrund, daß die Nachkriegszeit in Deutschland in der Forschung gemeinhin als Zeit der Restauration und die Zeit der frühen sechziger Jahre als Zeit des erschütterten Konservatismus gewertet werden, gehen die Autorinnen der Frage nach der Neuordnung und Reformulierung der Geschlechterverhältnisse und deren Folgen für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung nach in der Bundesrepublik nach 1945 nach.

Meyer-Lenz und ihre Mitautorinnen wählen für ihre Forschungen einen Ansatz, der sich deutlich von dem Theorem der getrennten Sphären von Privatheit und Politik in der feministischen Forschung der letzten 25 Jahre unterscheidet: Anhand von ZeitzeugInnen-Interviews belegen sie nicht nur, daß das Private politisch ist, sondern auch, daß das Politische privat sein kann. Sie analysieren die Wechselbeziehung, die Rückwirkungen und Irritationen zwischen der Alltagspraxis des Individuums und den gesellschaftlichen Normen. Bisher herrschte in vielen historischen und soziologischen Untersuchungen der Blick von oben, d.h. die Analyse der gesellschaftlichen Normen und der politischen, rechtlichen und medialen Öffentlichkeit vor. Die Autorinnen setzen den Blick von unter bzw. innen dagegen, indem sie, wie auch andere jüngere HistorikerInnen und SoziologInnen, den Augenmerk auf die "Innenansichten" des Geschlechterverhältnisses legen (vgl. S. 45).

Sie verwenden für ihre biographisch angelegte Untersuchung die Methode der 'oral history' in Form der Durchführung und Analyse von narrativen Erinnerungsinterviews mit ZeitzeugInnen. Die Autorinnen definieren die 'oral history' als Instrument postmoderner individueller Mikrogeschichte und umschiffen die Klippen, der von der historischen Wissenschaft kritisierten Methode, geschickt durch ihre Reflexionen zur Durchführung und dem Analyseverfahren der Interviews. Das Buch macht beispielhaft deutlich, welche Möglichkeiten gerade die 'oral history' der Kulturgeschichte mit ihren Fragen nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bietet, denn in den Zeitzeuginnen-Interviews von Meyer-Lenz und ihren Mitstreiterinnen verschmelzen persönliche Interviews und das "kollektive Gedächtnis" zu einem Amalgam, das die zentralen Fragen des historischen und aktuellen Geschlechterdiskurses thematisiert und so die Asymmetrien und Widersprüche der individuellen Lebensentwürfe zu den postulierten gesellschaftlichen Normen offenlegt.

Das Buch besteht aus sieben narrativen Interviews und deren Analysen sowie einem Kapitel über die öffentliche Diskussion der Sexualmoral in den fünfziger Jahren im Spiegel der erfolgreichsten Frauenzeitschrift der fünfziger und sechziger Jahre "Constanze". Dieses Kapitel wäre für das Buch zugunsten eines etwas geringeren, leserfreundlicheren Seitenumfangs [der Band hat insgesamt 457 Seiten] und auch zugunsten einer klar auf die Interviews ausgerichteten Konzeption durchaus entbehrlich gewesen.

Die sieben detaillierten und aufschlußreichen narrativen Interviews wurden mit Bekannten der Autorinnen unterschiedlicher Altersgruppen - vertreten sind Frauen und Männer der Jahrgänge 1915 bis 1940 - geführt. Die Autorinnen stellten Fragen zum Kriegsende und der Nachkriegszeit, zur Familie (Eltern und Kinder sowie PartnerInnen) und zum engeren Milieu (Freunde, Nachbarn und Bekannte) der Interviewten. Die Interviewten entstammen unterschiedlichen Sozialmilieus und unterschiedlichen Regionen, aber alle verbindet das Erleben der Nachkriegszeit in der Stadt Hamburg. Als Analyseverfahren verwenden Meyer-Lenz und ihre Koautorinnen die biografische Dekonstruktion, d.h. sie vergleichen die individuellen Deutungsmuster mit den leitenden gesellschaftlichen Normen. Allen Interviews ist eine tabellarische, biographische Vorbemerkung vorangestellt und alle Interviews und die dazugehörigen Analysen sind sehr schön illustriert mit privaten Photografien der InterviewpartnerInnen aus verschiedenen Lebensabschnitten. Jedem Interview ist ein Situationsprotokoll über das jeweilige Interviewsetting vorangestellt. Die Rezensentin hätte sich eine andere Reihefolge für Interview und Analyse gewünscht, d.h. daß auf die biografischen Vorbemerkungen zunächst das Interview und erst am Schluß die jeweilige Analyse gefolgt wäre, um der LeserIn zu ermöglichen, zunächst einen eigenen Eindruck des Interviews zu gewinnen.

Auf eine detaillierte Darstellung der einzelnen Interviews wird hier aus Gründen des Umfangs verzichtet. Abschließend sollen zusammenfassend einige Forschungsergebnisse des Bandes dargestellt werden. Die Interviews und ihre Analysen bieten neben Erkenntnissen über die Geschlechterverhältnisse in der Nachkriegszeit, die von Spannungen und Kontroversen geprägt waren und also viel weniger gemütlich als vielmehr "unbehaglich" (s. Titel und S. 29 f.) waren, auch interessante Erkenntnisse über den Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in den Familien der Nachkriegszeit, zwischen den als Täter, Mitläufer oder Opfer z. T. selbst Beteiligten oder den beteiligten Eltern und deren Kindern.

Die unmittelbare Nachkriegszeit, die von der Geschichtsschreibung bisher immer wieder mit dem Mythos der Trümmerfrauen verbunden worden ist, bewirkte, so stellt die Herausgeberin zusammenfassend fest, in der individuellen Wahrnehmung keinen Wandel der Geschlechteridentität. "Vielmehr wird die nachhaltige Wirkung des traditionalen, das Kriegsende überdauernden Leitbildes des Ehe- und Elternpaares als wesentliche Instanz für die Ausprägung der männlichen und weiblichen Geschlechteridentitäten sichtbar." (S. 425)

Die Autorinnen kommen anhand der Interpretationen der verschiedenen Interviews zu dem Schluß, daß die unmittelbare Nachkriegszeit und die fünfziger Jahre eine Zeit waren, in der die traditionelle Ordnung der Geschlechter, wie schon vor 1945 gelebt, zumindest beibehalten, wenn nicht sogar weiter restauriert wurde. Dennoch entdecken Meyer-Lenz und ihre Koautorinnen auch, insbesondere bei den jüngeren InterviewpartnerInnen (geboren ca. um 1940) Anzeichen von Distanz und Abkehr von diesen konventionellen Geschlechterstrukturen: Das Bild des Mannes als z.T. despotischer Familienpatriarch geriet zunehmend ins Wanken, die Berufstätigkeit von Frauen auch in Ehe und Familie erfuhr zunehmend eine höhere Akzeptanz. Dennoch blieb die heterosexuelle Paarbeziehung, obwohl sie z.T. "unbehaglich" (s.o.) war, das Leitbild der Lebensentwürfe der meisten InterviewpartnerInnen. Trotz anderer denkbarer Lebensentwürfe, die wie die verschiedenen interviewten Frauen zeigen, teils selbst gewählt oder aber auch erzwungen waren (Beispiel der Kriegerwitwen), blieb für Frauen das klassische Leitbild der Ehefrau bestimmend und vorherrschend. "Das harmonische Paar" (S. 432) mit seiner klaren Rollenverteilung repräsentierte in der untersuchten Zeit das Modell gesellschaftlicher Normalität.

Die Autorinnen kommen durch den, von ihnen gewählten Ansatz der Interviews mit ZeitzeugInnen zu der Erkenntnis, daß "individuelle Praxis und individuelle Diskurse nicht einfach hegemoniale Leitbilder reproduzieren, sondern differenzierte Semantiken und Praxen entwickeln und kreuz und quer zu in der politischen Öffentlichkeit verkündeten Normen verlaufen." (S. 441)

Den Autorinnen ist es mit dem vorliegenden Band gelungen, ein facettenreiches Bild des Geschlechterdiskurses nach 1945 zu zeichnen und der historischen Forschung zu diesem Thema neue Erkenntnisse und Diskussionsanstöße zu liefern. Das Buch hat eine neue Reihe des LIT-Verlages mit dem Titel Geschlecht-Kultur-Gesellschaft als erster Band eröffnet. In diesem Jahr sind fünf weitere Bände erschienen, drei weitere sind in der Planung. Dem Band ist eine breite Rezeption zu wünschen.

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