H. Kohl: Erinnerungen 1990 bis 1994

Cover
Titel
Erinnerungen 1990 bis 1994.


Autor(en)
Kohl, Helmut
Erschienen
München 2007: Droemer Knaur
Anzahl Seiten
784 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Wolfgang G. Schwanitz, Gloria Center, Herzliya, Israel

Helmut Kohls Erinnerungen behandeln die Zeit von 1990 bis 1994 sowie viele Felder der Politik. Diese Periode war aber nicht nur innenpolitisch bedeutsam, sondern gleichermaßen aussenpolitisch. Hier sollen vor allem seine Gedanken über die Region Mittelost diskutiert werden, da dieser Raum bei bisher vorliegenden Besprechungen seiner Memoiren meist zugunsten der Innenpolitik zu kurz gekommen ist. Dabei sind in jener Zeit auch für Mittelost Weichen gestellt und neue Paradigmen in Berlin am Ende des Kalten Krieges sichtbar geworden.

Es fragt sich also, wie Helmut Kohl in der doch recht plötzlichen Einheit seinen Kurs gegenüber Mittelost und die Sicherheitspolitik zwischen Amerika, Mittelost und Europa dargestellt hat. Erwähnt sei, dass Deutsche bis dahin zumeist eine sekundäre Politik des Friedens in Mittelost verfolgt haben: von primärer Bedeutung waren ihnen immer Europa und Amerika. Erst dann kamen Mittelost, Fernost, Südamerika und Australien. In dieser Rangfolge rückte Mittelost bei Anlässen gar von der dritten zur ersten Position auf. Nur in beiden Weltkriegen wechselte Berlin zur primären Mittelostpolitik des Krieges über, die sich gegen europäische und amerikanische Rivalen gerichtet hat. Im Kalten Krieg wurde die Bonner und Ostberliner Mittelostpolitik eine Variable der Politik der beiden Blockführer USA und UdSSR. Die "zweierlei deutsche Außenpolitik" war auch in Mittelost einander entgegengesetzt im Ringen um das noch junge Lager der Paktfreien.

Diese Konstellation hat die deutsche Einheit hinweggefegt wie den heimischen Ost-West-Konflikt. Aber was hieß dieses Ende der Balance zwischen West und Ost für Mittelost ab 1990? Amerikaner und Russen zogen in dem Raum erstmals wieder an einem Strang. Die Deutschen stiegen erneut vom Objekt zum Subjekt der Politik auf, auch in und gegenüber Mittelost. Wie Helmut Kohl zeigt, galten für ihn zwei Axiome: die deutsche Einheit unter Ausweitung des NATO-Bündnisses zu erlangen sowie im Konsens mit den Westmächten die Gunst dieser Stunde für abschließende Verträge mit Moskau zu nutzen.

So sollte der Sicherheitsverbund zwischen Amerika und Europa, von dem ja alles abhing, fortentwickelt werden. Das ist ihm in einem kurvenreichen Lernweg durch die ersten vier Jahre der Einheit in einer einmaligen persönlichen Leistung gelungen. Oft erinnert er an den Zeitdruck, wie lange wohl sein Vertrauensverhältnis zu ausländischen Führern, speziell zu Michael Gorbatschow und Boris Jelzin, eine für diese glücklichen Deutschen im Zwei-plus-Vier Rahmen günstige Entwicklung erlauben würde. Dass alles noch viel schneller als geahnt laufen musste, haben dann speziell die Instabilität im Osten Deutschlands und in Moskau sowie ein merkwürdiger Kurs Margaret Thatchers erwiesen, die sich so völlig anders als George H.W. Bush und François Mitterand kaum an der Einheit zu erwärmen vermochte.

Helmut Kohl hat ihr widerstanden; und Gorbatschow 1990 Punkte wie das Verbleiben in der NATO und ein Abzug der 400.000 Sowjettruppen abgerungen, aber dafür viel mehr bezahlt: 12 Milliarden Mark plus drei Milliarden Mark Kredite. Dabei musste der Kreml mehr als eine Million Bürger nach Hause holen, abgesehen von tausenden Atomwaffen, Raketen und Panzern. Freilich waren die Oder-Neiße-Grenze und die definitive Absage an irgendwelche Ostgebiete um des Friedens willen zu verschmerzen. Klug führte Kohl die Parallelität von deutscher Einheit und europäischer Integration an. Er verbriefte einen Verzicht auf ABC-Waffen und auf deren Proliferation sowie die Einführung von oberen Truppenlimits für die Bundeswehr.

Mittelost hat den damals 60jährigen Kohl direkt in seinen Bann geschlagen. Der Umgang mit Terrorismus und Islamismus galten ihm nicht neu. Die offene Bonner Ordnung mit sechs Millionen Ausländern und die neue Migration haben die Bedeutung beider Phänomene früh erkennen lassen. Doch geriet der Einfall Iraks in Kuwait am 2. August 1990 zur Nagelprobe: Trotz enormer Anspannung infolge der Einheit zahlte Berlin 3,3 Milliarden Mark an jene Koalition, die Kuwait im Folgejahr befreit hat. Ersatz leistete ein Verband deutscher Minensucher im Mittelmeer, so dass weit mehr US-Schiffe im Persischen Golf stationiert werden konnten.

Kohl wollte Krieg gegen den Irak verhüten. Er hörte, dass alle arabischen Länder gegen Iraks Einfall in Kuwait auftraten. Doch sagte er am 8. November 1990: militärische Schlachten seien zu gewinnen, der Krieg aber nicht. Zwar sei Irak militärisch nicht so stark, aber wie soll man dann den Irak besetzt halten? Saddam Husain führe einen fundamentalistischen, sozialen und imperialistischen Krieg. Nachbarn unterstützten ihn in jeder Hinsicht. Kohl behielt halb recht: die Alliierten befreiten Kuwait, aber sie besetzten Irak nicht. Zwar war Regimewechsel vorgesehen (siehe Punkt 10 "National Security Directive 54, 15.01.1991, Responding to Iraqi Aggression in the Gulf"), sofern Irak ABC-Waffen und global Terror anwende. Aber sie waren unfähig, das Übel zu beseitigen. Haben sie alles nur verzögert?

Dreierlei betont Kohl hierzu: Wäre die Einheit nicht so weit gediehen, hätte der Golfkrieg negativ auf sie zurückgewirkt. Zudem mussten in der Verfassung rechtliche Grundlagen für deutsche Einsätze geschaffen werden. Bald enthüllten Medien, dass es doch deutsche Waffenexporte in den Irak und dort Beteiligungen an der Herstellung von Giftgas gab. Da nun der Diktator in Bagdad Israel BC-Waffen androhte, war auch Berlin gefragt. So kam es zu Abmachungen über die Lieferung von Spürpanzern, U-Booten und Patriot-Raketen. Hier enthüllt Kohl auch Lieferungen solcher defensiver Panzer an Saudi-Arabien, worum Amerika gebeten hatte, die er aber bewusst vor den anstehenden Wahlen nicht publik gemacht habe. Der Bundessicherheitsrat genehmigte diese Lieferung Ende Februar 1991.

Aus Helmut Kohls Gedanken leitet sich ein paradigmatischer Wandel her. Er könnte wie folgt umrissen werden: Die traditionell sekundäre Berliner Mittelostpolitik wächst seit der Einheit zur primären Mittelostpolitik des Friedens mit allen nötigen Instrumenten (im April 1993 gingen erstmals Deutsche im NATO-Einsatz nach Bosnien und Somalia). Da gibt es keine deutschen Eigenheiten mehr als jene, die sich aus den Abmachungen für die Einheit ergeben haben. Die liberale Gesellschaft und das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa angenommen, muss die Berliner Mittelostpolitik in die Etappen der europäischen Integration eingebettet sein. Dies erfordert eine hohes Maß ein Eigenständigkeit - und an Koordination, die sowohl die NATO als auch die Europäische Gemeinschaft anstreben.

Zwiste zwischen den Beteiligten erfahren dabei eine gewisse Normalität. Sie sollten indes die gegeben Strukturen und den demokratischen Konsens nicht überschreiten. Solcherlei Selbständigkeit gab es in der deutschen Mittelostpolitik in den davor liegenden 40 Jahren nicht mehr. Wie schwer sich die Akteure nach Helmut Kohl dabei taten, zeigten vor allem die Wirren der folgenden Koalitionen: Der Grundkonsens mit Washington - im Kalten Krieg dienten 15 Millionen Amerikaner in der Bonner Republik - flog über Bord. Die Akteure stützten sich mal auf Paris, mal auf Moskau. Mithin konnten keine stabilen Koordinaten des Berliner Mittelostkurses gefunden werden. Ein so kreativer und solider Glücksfall für die deutsche und europäische Politik wie Helmut Kohl hat da schmerzlich gefehlt. Auch in der Kritik an Partnern, die er, wie nun zu sehen ist stets, wenn auch nicht marktschreierisch, leistete. Er betonte 1993 ein neues Gewicht Fernosts und Südasiens: China, Japan und Indien. Da dort auch die meisten Muslime leben, berührt dies ebenfalls Dimensionen der Mittelostpolitik.

Wer die Kohlschen Memoiren liest, dem wird klar, wie selten herausragende Politiker wirklich sind. Hier finden sich Ideen über neue Konstellationen in der gesuchten Mittelostpolitik, die nur noch im Dreieck zwischen Amerika, Mittelost und Mitteleuropa verfolgt werden kann. Und doch erscheint ein diesbezüglicher gemeinsamer Nenner entfernter denn je. Bedenkt man die tiefen Umwälzungen im Innern Europas und den Wandel in globalen Zentren der Führung, so muss ein solcher Ansatz wohl stärker die Demokratien der Türkei und Israels einbeziehen. Mit Afghanistan und Irak steht es ähnlich. Jedenfalls erhellt Helmut Kohl, wie Europa den Ost-West-Konflikt überwand und Frieden mit weniger Waffen sicherer machte. Dies steht für Mittelost nach einer Deradikalisierung erst noch an. Ohne eine Lösung dieses Konfliktbündels stehen Europas Zukunft und die Globalisierung in Frage.

Diese Memoiren erweisen sich als anregend in vielerlei Hinsicht. Die Forschung mag sie nun anhand der Archivspuren Kohls historisch ausloten, darunter werden das Verhältnis zu Israel und der PLO sowie die Politik gegenüber der Türkei, Iran und Arabien einen wichtigen Platz einnehmen.

Bild

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension