J. Zarusky (Hg.): Die Stalinnote vom 10. März 1952

Cover
Titel
Die Stalinnote vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen


Herausgeber
Zarusky, Jürgen
Reihe
Schriftenreihe Vierteljahresheft für Zeitgeschichte 84
Erschienen
München 2002: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fred S. Oldenburg

In der kollektiven Erinnerung von Russen und Deutschen ist der 10. März ein herausragendes historisches Datum. Einmal für die Russen, weil Stalin an diesem Tag des Jahres 1939 auf dem XVIII. Parteitag der KPdSU jene unvergessene Rede hielt, die eine sensationelle Kompromissbereitschaft mit dem Deutschland Adolf Hitlers anzeigte. Und zum zweiten ist auch der 10. März, diesmal der des Jahres 1952, für die Deutschen von Erinnerungswert, weil dieses Datum eine erneute Volte sowjetischer Deutschland-Politik anzeigte.

Die jähe Wendung der Sowjets vor fünfzig Jahren löste in der deutschen Gesellschaft bis zum heutigen Tag widerstreitende Emotionen, sogar wütende Anklagen und Gegenklagen aus. Moskau hatte mit einer diplomatischen Note an die Adresse der drei westlichen Alliierten und einem anhängenden Entwurf von Grundlagen eines Friedensvertrags deutsche Vereinigung im Tausch gegen die Zusicherung deutscher Neutralität angeboten. Freie Wahlen, eine Basisforderung der westlichen Seite, wurden in einer weiteren Moskauer Note vom 9. April des gleichen Jahres offeriert.

Rechtzeitig zum fünfzigsten Jahrestag der diplomatischen Offensive der UdSSR erschien ein Buch dreier deutscher Wissenschaftler, die für ihre hervorragende Expertise und Positionstreue bekannt sind. Ihr Diskurs stützt sich nunmehr auf die hier erstmals zugänglich gemachten 15 Dokumente, die dem Essener Hochschullehrer Wilfried Loth vom russischen Außenministerium, dem Russischen Staatsarchiv für sozial-politische Geschichte und dem Archiv des russischen Präsidenten überlassen wurden. Deren auf 52 Seiten erfolgter Nachdruck erlaubt es dem Leser, sich ein eigenes Urteil zu bilden.

In einer ausgewogenen Einführung des wissenschaftlichen Mitarbeiters am Münchener Institut für Zeitgeschichte, Jürgen Zarusky, ordnet dieser auf zehn Seiten die bisher erschienene kontroverse Literatur zum Thema „März-Note“. Er schlägt mit seiner Einführung dem Leser eine Schneise, ohne selbst Partei zu ergreifen. Die Kritik des ehemaligen DDR-Kulturministers Klaus Höpckes, hier hätten Drei gegen Einen argumentiert, verfehlt die Atmosphäre des Buches. Neben dem Aufweis gedruckter Quellen findet der Leser auf den letzen sieben Buchseiten eine Zusammenstellung der zu diesem Thema wichtigen Literatur. Graml ist mit vier, Loth mit sechs und Wettig gar mit vierzehn Angaben vertreten. Auch der Text der Note vom 10. März 1952 ist abgedruckt.

Die Diskussion wird mit einem längeren Beitrag von Loth eröffnet. Seiner Meinung nach sei nunmehr auch die Genese der Stalin-Offerte entwirrt. Loths Beitrag kommt zu dem apodiktischen Schluss: Nunmehr könne kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Stalin wirklich wollte, was er sagte: Ein vereinigtes Deutschland außerhalb des westlichen Blocks. Was übrigens Loth schon seit langem mutig vorgetragen hatte. Doch genau diesen Eindruck hinterlassen die abgedruckten Dokumente eben nicht. Vielmehr wird man zu der überraschenden Auffassung kommen können, diese ließen in der hier vorgelegten Anordnung sehr wohl entgegengesetzte Schlussfolgerungen zu. Sie weisen Blindstellen in der sowjetischen Entscheidungsfindung auf, geben der DDR einen größeren Spielraum als sie mit ziemlicher Sicherheit seinerzeit hatte und billigen niederen Funktionsträgern im sowjetischen Außenministerium eine Rolle zu, die das ganze, wahrscheinlich von Berija, Molotow und Malenkow inspirierte Unternehmen, unglaubhafter machen, als es auch nach der nahezu einhelligen Erinnerung namhafter sowjetischer Diplomaten war. In einem zweiten Beitrag weist der langjährige Chefredakteur der Vierteljahreshefte, Hermann Graml, minutiös auf diese Schwächen von Loths genetisch gestütztem Wahrheitsbeweis hin. Für ihn ist die Präsentation des Friedensvertragsentwurfs lediglich ein weiteres Manöver im Propagandakrieg, der dazu diente, eigene sowjetische Positionsgewinne zu rechtfertigen, die des westlichen Gegners aber zu verstellen und spätere Schuldzuweisungen zu ermöglichen. Demnach hätte das Angebot vorwiegend den Zweck gehabt, die Verschärfung des Klassenkampfes in der DDR durch die folgende 2. Parteikonferenz zu begründen. Für Hermann Graml ist unabweisbar: Stalin hat im März 1952 kein ernsthaftes Angebot zur Vereinigung beider deutscher Staaten gemacht. Wilfried Loth habe seine Quellen gründlich missverstanden.

Im dritten Beitrag ordnet Gerhard Wettig, ehemaliger Direktor am Kölner Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, die Stalin-Note in den Kontext sowjetischer Deutschland-Politik seit 1945 ein. Um es vorweg zu nehmen, Wettigs Handicap ist es, dass er zuvor die Beiträge seiner Mitautoren nicht kannte. Sein Aufsatz enthält vieles von ihm zuvor Gesagtes, wobei er selbst in Moskauer Archiven Erforschtes mit einbringt. Seiner Meinung nach hielt Stalin die Integration der Bundesrepublik in die NATO für weniger schädlich als eine Infragestellung der DDR. Dieser sei ohnehin davon ausgegangen, dass die Einbeziehung der BRD in das westliche Bündnis nicht mehr aufzuhalten wäre und daher die notwendig gewordenen Konsequenzen für die DDR politisch erträglich gehalten werden könnten, wenn Moskau zuvor eine deutschlandpolitische Offensive starte.

Stalin sei auch von seiner Perzeption der zwischenimperialistischen Widersprüche ausgegangen, wonach West-Deutschland (und man darf hinzufügen auch Japan) früher oder später seine Waffen gegen die USA und andere westliche Länder wenden würde. Wettigs scharfsinnige Schlussfolgerungen stützen jene von Graml, wonach Moskau dem Ziel der sozialistischen Transformation des ihm anvertrauten Ostdeutschland den Vorrang vor einem gesamtdeutschen Staat gegeben habe. Um Kritiker dieses mit und ohne Dokumente von G. Wettig oftmals wiederholten Standpunktes zu entmutigen, verweist er auf die von Martin Malia in anderem Zusammenhang geäußerte Mahnung, man dürfe die in der eigenen politischen Kultur gewonnenen logischen Handlungsmaximen nicht auf die vorwiegend ideologisch definierte UdSSR-Politik übertragen. Das Debakel der Sozialwissenschaften bezüglich der Modernisierungs- und Konvergenzchancen, ja der Überlebensfähigkeit kommunistisch regierter Staaten ist in der Tat nicht zu übersehen. Nur fragt es sich, ob diese Kritik auch für die Schlussfolgerungen außenpolitischer Theorie- und Modellbildung gültig ist.

Wer sich an die historischen Fakten erinnert, kann mit Kissinger und Schöllgen nicht leugnen, dass gerade zu jener Zeit die in Moskau beliebte Machtbalance sich dramatisch zu Ungunsten der UdSSR zu verändern begann. Die Berliner Blockade, die das Bündnis der USA mit dem freien Deutschland begründete, war ein Desaster. Die japanisch-amerikanischen Beziehungen begannen zu gesunden. Der verhasste kapitalistische Westen schloss sich zusammen, die potenten westdeutschen Ressourcen mussten dem aggressiven amerikanischen Hegemonialsystem in Kürze zugerechnet werden. Am 8. September 1951 wurde der Friedensvertrag Japans mit den Siegermächten unterzeichnet, von dem sich Moskau fernhielt. Am gleichen Tage schlossen Washington und Tokio einen Sicherheitsvertrag. Dieser räumte den USA das Recht ein, das freiwillig schutzlose Japan vor bewaffneter Aggression zu bewahren. Nach dem Verlust seines Einflusses auf den Kriegsgegner Japan musste es Moskau unbedingt daran gelegen sein, nicht auch noch die von Jahr zu Jahr prosperierende BRD, aus sowjetischer Sicht politischer Nachfolger Hitler-Deutschlands, in den antisowjetischen Block eingliedern zu lassen. Es war kein Zufall, dass Stalin auf dem XIX.Parteikongress im Herbst 1952 - wenn auch in militanter Manier - die Rückkehr zur friedlichen Koexistenz forderte und ein sofortiges Treffen mit dem neuen US-Präsidenten Eisenhower anmahnte. Nach Jahren der Konfrontation am Rande des Dritten Weltkrieges schien Stalin das Ruder noch am Ende seines politischen Wirkens herumreißen zu wollen, um die UdSSR nicht in ein gnadenloses Wettrüsten zu verwickeln, das die sowjetische Volkswirtschaft zu ruinieren drohte. Liest man Stalins Testament, „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ gegen den Strich, so erweist sich, dass der alternde Diktator überzeugt war, gerade Japan und Deutschland könnten erneut zu gefährlichen internationalen Akteuren aufsteigen. Jedenfalls erhob er die These von den sich verschärfenden zwischenimperialistischen Widersprüchen immer dann zu besonderer Relevanz, wenn er seine Anhänger beruhigen und schwerwiegende außenpolitische Kurswechsel andeuten wollte.

Wir wissen bis zum heutigen Tage nicht, was Stalins Konzept wirklich gewesen ist. Es könnte, so die Meinung Kissingers, das eines sowjetisch dominierten Osteuropa und eines amerikanisch angebundenen Westeuropa, dazwischen situiert aber das eines neutralen, vagabundierenden und beeinflussbaren Deutschland, das nach Abzug der Siegermächte nicht ohne Anlehnung bleiben konnte, gewesen sein. Sicher bestand erst einmal die verlockende Chance, durch langes Palavern an Konferenztischen die Westmächte und die BRD auseinander zu dividieren. Doch das war nur das Minimalziel der Stalin-Offerte. Ihr Maximalziel bestand demgemäss darin, eine Überprüfung der Nachkriegsordnung und eine zeitweilige Beilegung der überhitzten Konflikte zu ermöglichen. Nur Stalin hatte die Autorität, einen Staat seines Machtbereiches, die DDR, zu opfern, wenn er dafür im Westen überdurchschnittliche Profite bei der Veränderung der Korrelation der Kräfte einstreichen konnte. Mit und gegen Wettig darf man formulieren: „Aus dem Glauben, das westliche System sei durch eherne Gesetze zum Untergang verurteilt, ergab sich für Stalin die Gewissheit, die eigene Macht und das eigene System müssten unweigerlich früher oder später alle Widersacher überwinden. Das ließ eine maximalistische Haltung nicht nur zulässig, sondern sogar geboten erscheinen.“ (S. 194) Ein kleiner Umweg auf Kosten der ostdeutschen Ziehsöhne und –töchter war kein Abweg von der Straße des historischen Fortschritts.

Erstaunlich bleibt, dass alle drei Protagonisten aus den vorgelegten Dokumenten genau jene Schlussfolgerungen ziehen, die erneut ihre schon zuvor eingenommenen Positionen stützen. Wer in Stalin vorwiegend einen kommunistischen Ideologen und konservativen Bewahrer des Imperiums sah, verneint auch weiter unverdrossen jede Chance für eine frühe Einheit Deutschlands. Er wird mit Graml daran erinnern, dass die von Loth vorgelegte Genese der Note nicht überzeugen kann. Richtig ist, dass der sowjetische Führer sehr bald vom Scheitern seiner Offensive überzeugt war. Seiner Meinung nach hätte er zu jenem Zeitpunkt anbieten können, was immer er zu geben vermochte, keiner der die Hebel der Macht bedienenden westlichen Staatsmänner hätte sich von der Eingliederung des Bonner Teilstaates in die europäisch-atlantische Militärallianz, in vergrößerte Wirtschaftsräume, hätte sich von EVG und Schuman-Plan abhalten lassen.

Wir aber sollten mehr als zehn Jahre nach der Wiedervereinigung endlich eingestehen: Der Westen und allen voran Konrad Adenauer wünschte 1952 keine Wiedervereinigung zu den von Stalin genannten Preisen. Ein in der Mitte Europas frei floatendes Deutschland, ein Vakuum im Zentrum der Ost-West-Stürme, ein starker vereinigter Staat, der außerdem revisionistische Positionen vertrat, wäre keine glückliche Lösung für die Probleme der letzten fünf Jahrzehnte gewesen, weder 1952 noch 1990. Die USA-geführte atlantische Gemeinschaft wollte die deutsche und europäische „Einheit in Freiheit“- und im westlichen Bündnis. Und nur diese – und das war auch gut so!

Übrigens: Das Buch kann besonders wegen der hier abgedruckten Dokumente Experten der Außen- und Deutschland-Politik empfohlen werden.

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