Titel
Lone Star Texas. Ethnographische Notizen aus einem unbekannten Land


Autor(en)
Haller, Dieter
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 22,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cristian Alvarado Leyton, Hamburg

Die neue Publikation Dieter Hallers, der in Bochum Ethnologie lehrt, ist schwer zu rezensieren – nicht nur wegen des „eklektische[n] Charakter[s] der Themen“ (S. 18), sondern auch wegen der Genremischung: „Inhalt und Analyse“ entsprächen „den wissenschaftlichen Standards der Ethnologie“, während der Stil „eher feuilletonistisch-essayistisch“ sei (ebd.). Vorweg genommen sei, dass eine Begrenzung Hallers auf einen Reiseessay eine positivere Bewertung seiner Publikation ergeben hätte, da sie gut lesbar und über weite Strecken unterhaltsam ist.

In der Einleitung führt Haller aus, seiner Studie läge das Modell der modalen Persönlichkeit nach Cora Du Bois zugrunde, das auf die Wechselbeziehung von Persönlichkeitsstruktur und Kultur abzielt (S. 16f.). Da Texas – wie die „weiße“ USA insgesamt – empirisch „unbekannt“ sei (vgl. S. 12-16), untersucht er das kulturelle Verhältnis des Einzelnen zu Gesellschaft, Umwelt und eigenem Körper per se und an Orten, „an denen das Texanische inszeniert wird“, um zu „einer Modalpersönlichkeit zu gelangen“ (S. 17). Hallers zentrale These lautet, dass der „allgemeine[…] Charakterzug der amerikanischen Modalpersönlichkeit“ in der „Herstellung von Eindeutigkeit und der Vermeidung von […] Ambivalenzen und Grauzonen um jeden Preis“ bestünde (S. 183).

Die Einleitung und zehn Kapitel des Buches haben einen Umfang von etwa 180 Textseiten. Jedes Kapitel ist um einen Ort, Ereignis oder Thema arrangiert, so um das texanische Verhältnis zum Raum (Kapitel 1), die Ranch von G. W. Bush in Crawford (2), die „Ewing-Ranch“ der Fernsehserie „Dallas“ (3), das Missionsgebäude „The Alamo“ (4), Texasdeutsche (5), den Waffenkult (6), Bildung und Studenten (7), Sexualität (8) sowie Fettleibigkeit (9); das Schlusskapitel 10 ist der zentralen These gewidmet. In diesem Rahmen diskutiert Haller unter anderm Sinneserfahrungen (S. 177ff.), Heldenmythen (S. 92f.), Naturkonzeptionen (S. 29ff.), materielle Kultur (S. 162ff.), Ethnozentrismus (S. 130ff.), Verhalten (S. 32ff.) und Ambivalenzmeidung (S. 183ff.).

Nach Haller liegt dem Buch eine von Januar bis Mai 2005 stattgefundene „verdichtete Forschungsphase [zugrunde], die guten Gewissens als Feldforschung bezeichnet werden kann“ (S. 17), ergänzt durch „ethnographische Beobachtungen zu[r …] texanischen Alltagskultur“ (S. 18) im Rahmen eines Arbeitsaufenthalts als Lehrender an der University of Texas in Austin von Mai 2003 bis Mai 2005 (S. 17). Haller nennt seine Feldforschung eine „extensive“, „in der ein Forscher eine größere Region bereist und Daten zu einer gemeinsamen Fragestellung erhebt“ (ebd.), wobei es sinnvoll sei, mit Stereotypen zu arbeiten (S. 13f.).

Bedauerlich ist jedoch, dass Haller keine konkreten Informationen über seine Feldforschungsmethoden gibt: Zwar erwähnt er teilnehmende Beobachtung (S. 13), weisen die zitierten Gespräche auf Interviews hin. Man erfährt aber z.B. nicht, ob er die Interviews aufgenommen hat bzw. worauf die teilweise seitenlangen Dialoge und Monologe beruhen (etwa S. 63f., 101-108, 121, 166-170). Auch die Forschungsumstände bleiben im Dunkeln, etwa ob Haller von einem anderen Fremden begleitet wird (S. 116), was für die Gegenbeobachtung und Interaktion, mittelbar für die Quellenkritik von Bedeutung ist. Es bleibt auch unklar, ob Haller das Thema als Feldforscher anging, beispielsweise als er in einer geschilderten Situation „versuchte, den Feldforscher in mir zu erwecken, schließlich ist die ethnologische Herangehensweise oft ein hervorragender Weg, um ungute exotische Situationen zu meistern“ (S. 176).

So entsteht der Eindruck, dass Haller in den letzten Monaten seines beruflichen Texas-Aufenthaltes als Tourist durch die Gegend reiste und diese Erfahrungen zur Publikation nachträglich zusammenstellte. Es ist im Text nicht erkennbar, dass er eine vorab entwickelte Fragestellung im Feld untersuchte. Die nachträgliche Verwissenschaftlichung seiner Erfahrungen könnte erklären, warum sein skizzierter Ansatz der modalen Persönlichkeit (S. 16f.) erst nach über 160 Seiten wieder aufgenommen wird (S. 183), so dass er für den Text eigentümlich irrelevant bleibt.

Um aus seinen Erfahrungen mehr Substanz zu generieren, hätte der hochkomplexe Referent „Texas“ – zweitgrößter US-Bundesstaat mit circa 23 Millionen EinwohnerInnen auf einer fast doppelt so großen Fläche wie der BRD – erfordert, wesentlich mehr wissenschaftliche Arbeiten in die Dateninterpretation einzubeziehen. Haller arbeitet hingegen viel mit journalistischen Quellen (circa zwei Fünftel des Quellenmaterials), die bei den Zitaten den Großteil ausmachen und meist als Belege für verallgemeinernde Thesen herangezogen werden (siehe etwa S. 33, 178, 183, 191, 206f.). Dagegen wären etwa die Arbeiten von Sherry B. Ortner zum tabuisierten Klassendiskurs in den USA gewinnbringend für seine Diskussion der meritokratischen Ideologie zu berücksichtigen, die gleichwohl zu den besten Stellen des Buches gehört (S. 140, 172f.). Gerade wenn Haller an seine bisherige ethnologische Arbeit thematisch andocken kann, etwa beim Thema Sexualität (S. 150-154), ist er souverän und überzeugend, weil er seine Erfahrungen differenziert auszulegen vermag.

Die zentrale Schwäche des Buches besteht in den vielen oberflächlich wirkenden Verallgemeinerungen, die kaum beleg- und überprüfbar sind; zudem werden selten Quellen angegeben. Die thematisierten Aspekte texanischer Kultur sind häufig jene klischeehaften, die wir aus Alltagsdiskursen kennen: Ignoranz, Fettleibigkeit, Prüderie, Heldenverehrung usw. Insofern ist das von Haller beschriebene Land ziemlich bekannt. Dazu kommt eine hohe Selektivität der für „typisch“ gehaltenen Denkweisen, Personen, Ereignisse, Orte. Alle begegneten Personen etwa entstammen der Mittelklasse – ArbeiterInnen oder Elitenangehörige bleiben außen vor. Es hätte der Arbeit gut getan, weniger klischeehafte Aspekte zu thematisieren wie interethnische Beziehungen, Hispano-Americans (immerhin ein Viertel der texanischen Bevölkerung ausmachend [S. 130]), Weiß-Sein oder Korruption, zu der Haller andernorts gearbeitet hat. Wenn Haller Aussagen über „die“ texanische Mentalität (S. 126, 199) trifft – meist formuliert als „typisch“ oder „spezifisch“ –, die vermeintlich auch für die gesamten USA gelten (S. 172 und öfter), dann machen diese Verallgemeinerungen empirisch kaum Sinn. So schreibt Haller z.B.: „Der Geschäftssinn des Managements [der „Dallas“-Ranch] war sicherlich typisch texanisch, aber eben auch ganz allgemeintypisch amerikanisch“ (S. 71); „das amerikanische Leben – und besonders das texanische – spielt sich in einer Spiegelhalle ab, in der man immer nur sich selbst sieht“ (S. 135); „die amerikanische Art zu denken und akademisch zu arbeiten“ (S. 143 und öfter).

Der manchmal erfolgende Verweis auf Intradifferenzen in Texas und den USA verhält sich merkwürdig schief zu den Verallgemeinerungen und wird von Haller weder reflexiv diskutiert noch aufgelöst (S. 38f. und öfter) Wenn Haller dies kommentiert, geht er sogleich darüber hinweg, z.B.: „Wohl wissend, dass es sich um eine grobe Zuspitzung handelt, möchte ich…“ (S. 15), oder: „dies [ändert] nichts daran, dass…“ (S. 194, Anm.15). Hier fällt auf, dass sich die aus den beschriebenen Erfahrungen extrahierten Verallgemeinerungen zumeist auf eine einzelne Situation beziehen. Die dünne Datenlage könnte die vielen Wiederholungen nicht zentraler Argumentationen, von Ereignissen, selbst von Quellen und Zitaten erklären (z.B. S. 38f., 122, 128f., 188f.). Redundante Passagen und Irrelevantes hätten gestrichen werden können, worauf Haller selbst manchmal hinweist: „Ja, ich weiß, ganz passt diese Abschweifung nicht in den Sinneszusammenhang. Aber ich muss es eben irgendwo erwähnen.“ (S. 181, Anm. 4)

Letztlich legt Haller eine Nationalcharakterstudie vor, angezeigt durch den Wechsel des Betrachtungsgegenstandes – das Kapitel 6 mit dem Schießausflug spielt z.B. in Oklahoma (S. 111) – oder die wiederkehrende Formulierung „die USA und besonders Texas“. Haller begründet dies auch damit, dass Texas „in Europa als paradigmatische Region für die USA gilt“ (S. 16; siehe auch S. 8, 57). Solche metonymischen Identifikationen leiten über zur These, die neoliberale Gesellschaftsverfassung sei ohne Berücksichtigung der „texanische[n] Erfahrung“ „nicht zu verstehen“ (S. 8; siehe auch S. 197), wobei letztere „in weiten Teilen Europas hegemonial geworden“ (S. 209) sei.

Hallers Rede von „der amerikanischen Mentalität“ (S. 193) unterliegt – trotz aller Lippenbekenntnisse zu postmoderner Kulturforschung (S. 17) – eine essentialisierende Suche nach dem Wesen US-amerikanischer Kultur, was umso merkwürdiger ist, als Haller eher der interpretativen Strömung der Ethnologie zuzurechnen ist. Diese Suche wird dann offenkundig, wenn Haller einen Vergleich zu Deutschland zieht und ernstgemeint unter anderem von „uns tiefgründigen Deutschen“ spricht (S. 179; siehe auch S. 141 und öfter).

Zusammenfassend sei das Buch jenen empfohlen, die eine flüssig geschriebene, mitunter spannende Nationalcharakterstudie lesen wollen. Es bietet Ansatzpunkte für künftige Feldforschungen, die Haller selbst markiert (S. 154, 192). Diejenigen, die auf die Ethnologie der USA spezialisiert sind oder ein ethnographisches Interesse an Texas haben, werden leider keinen großen Gewinn aus dem Buch ziehen können.

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