M. Menne: Herrschaftsstil und Glaubenspraxis

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Titel
Herrschaftsstil und Glaubenspraxis. Bischöfliche Visitation und die Inszenierung von Herrschaft im Fürstbistum Paderborn 1654-1691


Autor(en)
Menne, Mareike
Reihe
Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 54
Erschienen
Anzahl Seiten
325 S.
Preis
€ 25,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Brademann, Universität Münster

Die große Zeit der Visitationsforschung liegt einige Jahre zurück. Die vorliegende, von Frank Göttmann (Paderborn) betreute Dissertation stellt nun die Visitationen zweier Bischöfe von Paderborn, Dietrich Adolf von der Recke (1601-1661) und Hermann Werner von Wolff-Metternich zur Gracht (1625-1704), in den Jahren 1654 bis 1656 und 1687 bis 1691 in den Zusammenhang frühneuzeitlicher Staatsbildung, insbesondere in den geistlichen Staaten. Neben einer religiös-volkskundlichen steht dabei eine kulturgeschichtliche Herangehensweise, die der Forschung neue Wege anzudeuten vermag.

Auf die Einleitung, die Erkenntnisinteresse, Vorgehensweise, Forschungs- und Quellensituation erläutert, folgt ein umfangreiches Kapitel über den reichs-, landes-, kirchen- und personengeschichtlichen „Kontext und [die] Bedingungen der Paderborner Visitationen“ (S. 25-114). Hier werden die Folgen des dreißigjährigen Krieges geschildert, die (vor allem mess-) liturgische Reglementierung des religiösen Lebens seit dem Tridentinum, das Visitationswesen vor und nach Trient sowie die konfessionalistische Politik der Bischöfe seit der Kirchenordnung 1626 beschrieben. Außerdem werden die Biografien der beiden Fürstbischöfe und des Weihbischofs Bernhard Frick (um 1600-1655) dargestellt. Die Autorin verweist auf die Exegese biblischer Legitimationsgrundlagen für Visitationen, vor allem Hebr. 13,17. Diese Schlüsselstelle der die Visitation ankündigenden Indictio 1654 verlieh den Maßnahmen einen pastoral- und gemeindetheologischen Charakter und fundierte das später von Mareike Menne attestierte „Zusammenspiel von Besucher und Besuchten“ (S. 114) theologisch. Durch den Vergleich von normativen Maßgaben mit der Praxis der Visitationen werden Anzeichen konfessioneller Toleranz, etwa in Bezug auf das Begräbnis Unkatholischer, deutlich.

Es folgt der von Menne selbst als zum Großteil „positivistisch“ (S. 15) eingeschätzte Hauptteil. Er beschreibt die Durchführung und die protokollierten Ergebnisse der beiden Visitationen (S. 115-239). Anschaulich stellt er typische Zustandserfassungen (nicht die Zustände per se, sondern das vor allem negativ Aufgefallene) und Konfliktpunkte vor und bietet verschiedene Quantifizierungen. Der Leser erhält einen Eindruck von den keineswegs als barock, aber als stabil zu kennzeichnenden kirchlich-religiösen Verhältnissen und der zaghaften Besserung der kirchlichen Gebäude und Ausstattungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Dies geschieht in einem allgemeinen, nach erfassten Objekten und Praktiken gegliederten, und einem speziellen Durchlauf. Letzterer fokussiert die Städte Büren, Warburg, Lügde und Marienmünster in Fallstudien. Neben lokal- und frömmigkeitsgeschichtlichen Einsichten bieten diese Kapitel vor allem drei Erkenntnisse: Durchführung und Inhalt der Visitationen waren kasuell bedingt. Wie im Territorialkonflikt mit Moritz von Büren oder dem Bürener Rat geschehen, konnten sie leicht politisiert werden. Die Kombination eines hohen liturgischen Gepränges mit im Vergleich zu den Archidiakonalvisitationen milden Beanstandungen zeugt von der primären Funktion der Visitation als Repräsentationsveranstaltung der Fürsten.

Damit ist die zentrale These vorweggenommen, die im vierten Teil („Deutungen“) in Auseinandersetzung mit jüngeren Forschungsansätzen begründet wird. Visitationen wirkten durch die distanzierte Nähe des Bischofs als sakral aufgeladenes symbolisches Ensemble, das voller Verweise auf Gott und eine gemeinsame (Heils-) Geschichte war, vor allem identitätsbildend. Mennes Überlegungen zum Spezifikum geistlicher Staatsbildung bieten zahlreiche wichtige Facetten. Die These, dass die „Ausbildung der staatlichen Herrschaft aus der kirchlichen Struktur heraus“, nicht durch die „Instrumentalisierung der Kirche“ geschah (S. 263), ist anregend. Das Resümee im Schlussteil, der die Ergebnisse bündelt, schießt jedoch über das Ziel hinaus: Nach Menne habe die „Pointe“ geistlicher Staatsbildung darin gelegen, „dass im Vollzug der religiösen Praxis immer eine politische Ebene mitwirkte“ (S. 298). Gilt dies nicht seit Reinhard/Schilling tendenziell für alle Territorien des Reichs?

Auch dass die „Instrumentalisierung der Erinnerung“ in Gestalt der Archivierung der Visitationsergebnisse ein Spezifikum geistlicher Staaten gewesen sein soll (S. 283), dürfte zu diskutieren sein. In Zweifel zu ziehen ist ferner die Ansicht, die Wirksamkeit der Symbolik der Visitationen habe in einer von der Deutungshoheit der Bischöfe determinierten eindeutigen Entschlüsselungsfähigkeit auf Seiten der Gläubigen bestanden (S. 268f.): Die sozialstabilisierende Leistungsfähigkeit des Symbols besteht gerade in der Integration unterschiedlicher Interpretationen bei gleichzeitigem Ausschluss von Bedeutungsdiskursen. Einige Deutungen, wie jene, die Bischöfe, bei deren Besuch „zwei Kulturen […] aufeinander prallten“, seien „Ethnographen avant la lettre“ gewesen (S. 292), wirken aufgesetzt. Die These, Bischof Hermann Werner habe in seiner Visitation die Präsenz der Bischöfe als identitätsstiftendes Moment „wieder aufgefrischt“ (S. 285), passt nicht recht zu der Beobachtung, dass bei dieser Visitation im Wesentlichen der Generalvikar visitiert habe (S. 172). Dass das Tridentinum eine „Einheitsliturgie“ geschaffen hätte (S. 44 und vgl. S. 46), ist zurückzuweisen.

Die Stärken der Arbeit liegen in einer hohen Quellennähe und -dichte sowie der Kombination theologischer, kulturgeschichtlicher und mikrohistorischer Methoden. Mennes Argumentation ist zumeist umsichtig, abwägend und differenziert. Insbesondere die kulturgeschichtliche Deutung vermag, trotz einiger strittiger Thesen, der Visitationsforschung neue Impulse zu geben.

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