C. Lamberty: Reklame in Deutschland 1890-1914

Titel
Reklame in Deutschland 1890-1914. Wahrnehmung, Professionalisierung und Kritik der Wirtschaftswerbung


Autor(en)
Lamberty, Christiane
Reihe
Beiträge zur Verhaltensforschung 38
Erschienen
Anzahl Seiten
535 S.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Schmidt, Fakultät für Geschichtswissenschaften und Philosophie, Universität Bielefeld

Nachdem Reklameausstellungen seit Jahrzehnten Besucher anlocken, das Thema Werbung fuer Kulturwissenschaftler bereits den Neuigkeitswert verloren hat und Kunsthistoriker ihre Vorbehalte gegenueber Reklamemedien aufgegeben haben, begeistern sich seit einiger Zeit auch Historiker fuer den Gegenstand. Im Vordergrund standen bisher Untersuchungen zu unterschiedlichen Einzelaspekten, das Gesamtphaenomen Reklame wurde selten betrachtet. Christiane Lamberty moechte nun mit ihrer 1998 eingereichten, von Karin Hausen und Heinz Reif betreuten Dissertation die verschiedenen Einzelaspekte zusammenfuehren. Mit ihrer Studie beabsichtigt sie, den Etablierungsprozess einer neuen Form der Massenkommunikation in den Jahren zwischen 1890 und 1914 zu rekonstruieren. Sie konzentriert sich ueberwiegend auf Berlin, beruecksichtigt aber auch Entwicklungen in anderen Staedten des Deutschen Reichs. Es ueberwiegen sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungsteile, die gelegentlich kulturgeschichtlich angereichert werden. Empirisch stuetzt sich die Arbeit auf einen umfangreichen und vielfaeltigen Quellenkorpus. In sieben Grosskapiteln naehert sich Lamberty dem Gegenstand Reklame jeweils mit anderen Schwerpunktsetzungen.

Der erste Untersuchungsteil beschaeftigt sich mit den Fragen wie die Adressaten auf die Reklame reagierten, auf welche Weise die neuen Reklameformen die visuelle Grossstadtwahrnehmung der Menschen veraenderten und wie diese Veraenderungen in den zeitgenoessischen Debatten thematisiert wurden. Wer hier auch Ausfuehrungen zur Aneignung der Reklame durch die Konsumenten erwartet, wird enttaeuscht. Nicht die Alltagspraktiken der Akteure beim Umgang mit Reklame oder die Rezeption von Reklamemedien stehen im Vordergrund, vielmehr beschreibt Lamberty vorrangig Imaginationen einer Gruppe von Autoren, die sich oeffentlich mit dem Thema Reklame auseinandersetzte. Sie stellt Bilder, die sich zumeist buergerliche, maennliche Autoren von den haeufig weiblichen Konsumenten machten, vor und schildert die Hoffnungen und Aengste einer ausgewaehlten Gruppe, die den Etablierungsprozess der neuen Reklameformen begleiteten. Das von ihr herangezogene Quellenmaterial haette ueber die tatsaechlichen Adressaten und ihre Wahrnehmungen - wenn ueberhaupt - nur Aufschluss gegeben, wenn sie es einer konsequenten Gegenlektuere unterzogen haette. Darauf verzichtet Lamberty allerdings. Problematisch ist, dass sie dies nicht explizit reflektiert und den Leser im Unklaren darueber laesst, ob sie Aussagen ueber die Autoren und ihre Imaginationen oder ueber die Adressaten und ihre Wahrnehmungen treffen moechte.

Im zweiten Teil steht die Frage im Mittelpunkt, wie der Einzelhandel den neuen Formen der Werbung begegnete. Teil drei stellt unterschiedliche und in der Forschung vielfach vernachlaessigte Reklamemedien vor. Hier werden historische Medienentwicklungen, technische Vorraussetzungen, Produktionsbedingungen und Vertriebsformen thematisiert. Der vierte Teil des Buches ist den Reklameschaffenden vorbehalten. Lamberty zeigt auf, wie schwierig sich die Ausbildung eines Berufsbildes gestaltete, fuer das es keine unmittelbaren Vorbilder gab. Sie untersucht entstehende Berufsfelder, Zusammenschluesse zu Berufsverbaenden und Spezialisierungstendenzen, Abgrenzungsversuche, Qualifikations- und Ausbildungswege sowie Selbst- und Fremdbilder. Wie reklameinteressierte Unternehmer, Reklameexperten und Kunstgewerbler versuchten die gesellschaftliche Akzeptanz gegenueber der Reklame zu vergroessern, welche Strategien dabei mit welchem Erfolg gewaehlt und welche unterschiedlichen Interessen verfolgt wurden, ist das Thema des fuenften Hauptteils. Kapitel sechs fragt nach den ersten Tendenzen der Verwissenschaftlichung von Reklame in der Vorkriegszeit. Das siebente Kapitel beschaeftigt sich schliesslich mit der Reklamekritik als Teil einer modernisierungsskeptischen Gesellschaftskritik: Antisemiten, Antiamerikanisten und Heimatschuetzer kommen hier zu Wort. Vor allem letzteren gelang es, den Staat zum Eingreifen zu bewegen: Auf Laenderebene wurden verschiedene einschraenkende Bestimmungen gegen die "Reklameauswuechse" erlassen.

Eine Einschaetzung dieser Studie faellt nicht leicht. Einerseits beeindruckt allein der Umfang und die Vielfalt des Quellenmaterials, auf das sich die Arbeit stuetzt. Die zahlreichen Zitate sind anschaulich und auch unterhaltsam. Andererseits wird das Quellenmaterial vielfach ausgebreitet, ohne dass es analysiert wird. Dies faellt besonders dort auf, wo sich Lamberty mit zeitgenoessischen Wahrnehmungen und Deutungen beschaeftigt. Sie benennt Positionen, belegt diese mit zahlreichen Beispielen, untersucht sie jedoch nicht wirklich vor dem Hintergrund des zeitgenoessischen Deutungshorizonts. Eine tiefergehende Interpretation der Aussagen fehlt haeufig. So bleiben diese Abschnitte eher allgemein und zum Teil oberflaechlich. Die Aussagemoeglichkeiten des umfangreichen Materials werden nicht ausgeschoepft.

Ueberzeugend ist Lambertys Ansatz, Reklame als Gesamtphaenomen zu untersuchen und sich nicht auf einzelne Aspekte zu beschraenken. Nicht nur einige 'kuenstlerisch wertvolle' Reklamemedien stehen hier im Vordergrund, sondern auch bisher vernachlaessigte Formen der Reklame werden in die Untersuchung miteinbezogen. Das zeitgenoessische Konzept vom Gesamteindruck der Werbung wird von ihr aufgegriffen und sie zeigt - etwa am Beispiel des Warenhauses - wie umfassend zeitgenoessische Reklameentwuerfe waren. Darueber hinaus bezieht sie unterschiedliche und von der Forschung zum Teil vernachlaessigte Interessengruppen in ihre Untersuchung mit ein und versucht den Etablierungsprozess von Reklame als konfliktreichen Prozess zu fassen. Unklar bleibt allerdings, warum eine Studie, die beansprucht, das Phaenomen Reklame umfassend zu untersuchen, Fragen nach den Repraesentationen und den intendierten Reklamebotschaften komplett ausblendet. Dem Leser werden an keiner Stelle die Gruende fuer die Beschraenkung erlaeutert. Dies verwundert um so mehr, als Lamberty selbst betont, dass gerade die medial vermittelten Repraesentationen Anstoss erregten und aeusserst umstritten waren.

Insgesamt halte ich das Buch wegen seines Mangels an Klarheit fuer problematisch. Lambertys einleitend formulierter Anspruch, aus dem umfangreichen Quellenmaterial selbst zentrale Fragen und die Struktur der Arbeit zu entwickeln, klingt vielversprechend, gelingt meines Erachtens aber nicht ueberzeugend. Der teilweise sehr deskriptiven Untersuchung fehlt der rote Faden. Die Gliederung der Studie ist nicht wirklich einsichtig und wird an keiner Stelle erlaeutert. Warum wird etwa zunaechst auf Legitimationsstrategien der Reklamebefuerworter eingegangen und erst spaeter auf die Reklamekritik? Die wechselseitigen Bezuege und Zusammenhaenge zwischen den verschiedenen Untersuchungsaspekten werden ebenfalls nicht deutlich erkennbar. Lassen sich - um bei dem Beispiel zu bleiben - die Legitimationsstrategien der Reklamefachleute nicht als Reaktionen auf die massive Reklamekritik verstehen? Ist nicht gerade der Versuch, Reklame in die Naehe von Kunst und Kultur zu ruecken, auch als Reaktion auf antisemitische und antiamerikanische Ausfaelle zu begreifen selbst wenn dies nicht explizit in den Quellen steht? Darueber hinaus haetten die zahlreichen Wiederholungen und Laengen bei einer klaren Gliederung und zugespitzten Argumentation vermutlich vermieden werden koennen.

Trotz ihrer Defizite ist die Untersuchung sehr informativ. Sie bietet wissenswerte Einzelbeobachtungen, die bisher kaum in der Forschung beruecksichtigt wurden, regt zum Nachdenken und zu weiteren Forschungen an.

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