A. Prosperi: Geschichte eines Kindsmords

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Titel
Die Gabe der Seele. Geschichte eines Kindsmords


Autor(en)
Prosperi, Adriano
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
517 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Bendlage, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die Tötung von Neugeborenen durch ihre Mütter ist ein überzeitliches Phänomen, auf das jede Epoche, rückgebunden an die jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und religiösen Wertvorstellungen, Antworten sucht und suchte. Noch immer umgibt eine große Heimlichkeit das Verbrechen der Kindstötung, die es auch heute schwer macht, etwas über die Mütter und ihre Motive für die Tat zu erfahren. Die Frage nach dem Warum, das hinter einer Kindstötung steckt, kann in den wenigsten Prozessen wirklich geklärt werden. Im Zentrum der Studie von Adriano Prosperi, Religionshistoriker der Universität Pisa, steht das typische Schicksal einer Kindsmörderin der Frühen Neuzeit: Im Jahr 1709 brachte die unverheiratete Lucia Cremonini in Bologna einen Jungen zur Welt, den sie unmittelbar nach der Geburt tötete. Die Kindsmörderin wurde vor Gericht gestellt und nach ihrem Geständnis zum Tode verurteilt. Auf der Basis der überlieferten Gerichtsakten hat Adriano Prosperi ein dichtes Buch verfasst, in dem der Umgang mit dem Kindsmord im beginnenden 18. Jahrhundert beschrieben wird. Darüber hinaus geht er der Frage nach, wie sich die Bewertung des Delikts durch Juristen, Theologen und Mediziner seit dem Mittelalter verändert hat. Sein fast 500 Seiten umfassendes Werk spinnt damit Fäden, die weit über das Schicksal von Lucia hinausreichen.

Das zeigt schon der erste Teil der Studie, in dem der Autor den Umgang und die gesellschaftliche Bewertung der Kindstötung seit den frühen christlichen Gesellschaften beschreibt. Während zunächst die Urchristen im Ruf standen Kindsmörder zu sein, waren es später die Ketzer und Juden, die 'Anderen', denen man unterstellte, für ihre Rituale ungetaufte Kinder zu töten (S. 36). Abgelöst wurde dieser Antijudaismus durch die Kriminalisierung von Frauen, indem Hexen als primäre Tätergruppe ausgemacht wurden. Mit der Medikalisierung der Geburt und dem Abflauen der Hexenverfolgung gerieten schließlich die Hebammen in den Fokus von Kirche und Staat. Deutlich wird dieser Einstellungswandel mit dem Erscheinen des Handbuches für Hebammen von Cesare Aranzio im Jahre 1596 (S. 61). Auch die Kirche vollzieht diesen Kurswechsel, indem sie die Kindstötung – im Mittelalter noch als Sünde behandelt – als strafwürdiges Verbrechen einstuft und bestraft. Die Tötung von (weiblichen) Säuglingen war, so der Befund des Autors, als selektive Geburtenregelung in ländlichen Gesellschaften noch lange akzeptiert und lässt sich in Kirchenbüchern verfolgen. Im Spätmittelalter entstand das Bild der 'grausamen Mutter' als Gemeinplatz der kirchlichen Kultur. In diesem gesellschaftlichen Klima wurde die Furcht vor Kindsmord und Abtreibung zur 'Besessenheit', die von Theologie und Wissenschaft gleichermaßen befeuert wurde (S. 75). Die soziale Ausgrenzung, Kriminalisierung und Disziplinierung richtete sich vor allem gegen ledige Frauen und ihre Kinder. Männer nahmen im Kontext unehelicher Geburten allenfalls moralische Schuld auf sich, während Frauen konsequent strafrechtlich verfolgt wurden (S. 81). Das 16. Jahrhundert, so das Resumeé des Autors, ließ die moralische Kraft von Gesetz und Gewissen an alten Frauen und heiratsfähigen Müttern aus (S. 84). Mit dem Rückzug der Justiz aus der Hexenverfolgung stiegen die Anklagen wegen Kindsmord und Abtreibung. Beide Delikte wurden von den 'Experten' (Theologen, Richter und Ärzte) zunehmend restriktiver definiert und verfolgt (S. 91). Findelhäuser wurden zu Instrumenten der Überwachung (S. 98), denn was auf den ersten Blick als ein christlicher Akt der Nächstenliebe und Fürsorge zum Schutz der neugeborenen und ungewollten Kinder erscheint, entpuppte sich in der Praxis als Sackgasse – so verlangten die städtische Einrichtung in Bologna Gebühren, die die armen Frauen in der Regel nicht bezahlen konnten. Auch gewährten sie keine Anonymität, die den Schutz der weiblichen Ehre gesichert hätte (S. 100).

Im zweiten Teil der Untersuchung wendet sich Prosperi den 'Protagonisten' des Falles zu (S. 141f.): Es ist der Versuch, aus dem vorhandenen Material ein individuelles Profil der Beteiligten zu erstellen. Ein recht schwieriges Unterfangen, wie der Autor selbst bekennt, weil von den handelnden Personen nur sehr wenig bekannt ist. Die Geschichte der Mutter, einer aus armen Verhältnissen stammenden Frau, kann Prosperi nur im Kontext des Strafverfahrens und damit aus staatlicher Perspektive heraus beschreiben. Dennoch lässt sich ein Profil erkennen, das als typisch für Kindsmörderinnen gelten kann: Arm und ohne Schutz eines Vaters oder Ehemannes hatten sie durch die ungewollte Schwangerschaft viel zu verlieren – ihre weibliche Ehre. Durch ihre ausweglose Lebenssituation zum Verbrechen veranlasst, waren es vor allem diese Frauen, die von Kirche und weltlichen Obrigkeiten kontrolliert, diszipliniert und kriminalisiert wurden. Vom Vater des Kindes, einem Priester, ist noch nicht einmal ein Name bekannt (S. 127). Trotz der Hinweise von Lucia wurde offenkundig von Seiten des Gerichtes kein Versuch unternommen, den Kindsvater, der Lucia während des Karnevals sexuell genötigt hatte, ausfindig zu machen. Auch wenn Geistliche nicht unter Aufsicht weltlicher Gerichte gestellt wurden, galt ihr sexuelles Fehlverhalten als strafwürdig. Im Zeitalter der Konfessionalisierung verschärfte auch die katholischen Kirche ihre Bemühungen, einen strengeren Moralkodex – Prosperi spricht von Re-Sakralisierung – durchzusetzen, um dem Antiklerikalismus in der Bevölkerung entgegen zu wirken (Habit, Tonsur, Sittenstrenge, 'Moraloffensive',). Beziehungen zu Frauen wurden zwar kriminalisiert, in der Praxis wurden Priester aber, wie offenbar auch im vorliegenden Fall, durch die Privilegien ihres Standes geschützt (S. 134f.).

Die 'Suche' nach dem Kind ist mit ca. 220 Seiten das umfangreichste Kapitel und der Autor macht es dem Leser hier nicht immer leicht, seinen geistesgeschichtlichen Exkursen zu folgen. Dieser Teil bildet jedoch das Herzstück der Studie, in dem Prosperi der Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele nachgeht, denn die Vorstellung von der Beseelung des Menschen bestimmte schließlich die Haltung gegenüber Abtreibung und den vor der Taufe verstorbenen Kindern. Lucia hatte 1709 einen Jungen geboren, nach zeitgenössischen Vorstellungen ein Grund zu großer Freude, galt die Geburt eines Sohnes doch als großes Glück (S. 184). In der Sprache der am Verfahren beteiligten 'Experten' war das getötete Kind jedoch kein Mensch, sondern eine Kreatur. Es wurde nicht als Individuum anerkannt, denn der Sohn war zum Zeitpunkt des Todes nicht getauft (S. 197). Mit der Einführung der Pflichttaufe verfolgte die Kirche das Anliegen, möglichst viele Seelen zu retten und intensivierte damit den Diskurs über den Ursprung der Seele. Die Taufe als die 'zweite Geburt' galt als der wichtigste Schritt ins Leben und in die diesseitige Welt – die Gabe der Seele war erst mit diesem Akt vollzogen. Nur durch die Taufe (und den Eintrag ins Taufregister) bekam ein Mensch seinen Namen und damit seine Seele (S. 239). Die ungetauften verstorbenen Neugeborenen waren daher der systematischen Eingliederung des Menschen in die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten entzogen. Ungetaufte Kinder waren der Verdammnis preisgegebene Kreaturen und durften nicht in geweihter Erde bestattet werden. Die Seele dieser Kinder verblieb in einer Situation der Vorläufigkeit (Limbus) (S. 242). Die "Gabe der Seele" stellte Ärzte und Hebammen, aber auch die Eltern vor große Probleme und Gewissenskonflikte: Was geschah mit tot geborenen Kindern? Rettete man bei Komplikationen die Mutter oder das Kind? In der Praxis führten diese Konflikte zu bizarren Ritualen "zur Korrektur eine unbeliebten Dogmas" (S. 286) wie etwa die Taufe von toten Kindern mittels Wunder (Répit) (S. 279ff.), oder die Taufe ungeborener Kinder im Mutterleib, bei deren Vollzug man den Tod der Mütter in Kauf nahm (S. 332).

Der Autor macht immer wieder deutlich, dass metaphysische Vorstellungen über die Seele nicht ohne Bezüge zu sozialen und politischen Auseinandersetzungen der jeweiligen Gegenwart entstehen. Während im Mittelalter die Gabe der Seele noch an das Vorhandensein eines voll ausgebildeten Körpers geknüpft wurde, galt im 17. Jahrhundert bereits nach dem dritten Tag der Empfängnis der Embryo als beseelt (Thomas Feyens, 1567-1631). Die Seele bedürfe, so die Erkenntnis, nicht der menschlichen Form, sie gehe vielmehr dieser voraus und schaffe sie erst (S. 357). Auch dieser Paradigmenwechsel blieb nicht folgenlos für den weiblichen Körper und für das ungeborene Kind: Eine medizinisch-juristische Kultur war auf dem Vormarsch, die der zunehmenden staatlichen Kontrolle den Weg ebnete (S. 336). Die Frage der Entwicklung vom Fötus zum Menschen gewann unter den gesellschaftlichen Bedingungen (Reformation) eine neue Dynamik. Abtreibungen und auch die Tötung von missgestalteten Neugeborenen wurden rigoros verfolgt.

Im dritten und letzten Teil nimmt der Autor schließlich die letzte Phase des Lebens von Lucia in den Blick und beschreibt die Verurteilung und Hinrichtung der Kindsmörderin (S. 413ff.). Im Fokus der Betrachtung steht die Versöhnung. Dies ist, vergegenwärtigt man sich das Spektakel einer Hinrichtung, zunächst eine ungewöhnliche Zuspitzung. Mit der Verkündigung des Urteils begann jedoch eine eigentümliche Metamorphose der Täterin: Lucia wurde den 'Tröstern' übergeben, die ihr in ihrer letzen Nacht vor der Hinrichtung geistlichen Beistand leisteten (S. 422f.). Die Delinquentin wurde durch diese Tröster seelsorgerisch betreut und spirituell auf den Tod vorbereitet. Lucia war ein 'dankbare' Delinquentin, denn durch ihre echte Reue wurde sie trotz der schändlichen Tat wieder Teil der (menschlichen) Gesellschaft. Ihr Leben war der Preis für diese Gnade. Aufgabe der Tröster war die Bekehrung und damit die Versöhnung des Verurteilten mit der Gesellschaft, bei Erfolg wurde auch der Leichnam dieser Sünder christlich bestattet. (S. 470) Dieses traditionelle Bündnis von weltlicher Obrigkeit und karitativen Einrichtungen löste sich zur Zeit der Hinrichtung Lucias jedoch bereits auf: Beide Körper, sowohl Lucias als auch der ihres Kindes, erhielten kein christliches Begräbnis, sondern wurden der Anatomie zur Verfügung gestellt. Wurden Geburt und Tod lange Zeit von Übergangsriten geregelt und begleitet, waren sie nunmehr nur noch punktuelle Handlungen die von spezifischen Bedürfnissen und Interessen (Justiz, Wissenschaft) geleitet wurden (S. 475).

Das Erzählkonzept Prosperis, anhand eines historischen Einzelfalles Grundüberzeugungen vom Beginn des menschlichen Lebens in seinen historischen und gesellschaftlichen Dimensionen auszuleuchten, ist beeindruckend. "Die Gabe der Seele" ist unzweifelhaft ein 'großes' Buch. Prosperi vermag in seiner eingängigen Sprache dem Leser das Leben Lucias und ihres getöteten Kindes für einen kurzen Augenblick näher zu bringen. Das erklärte Ziel, vom Typus der Kindsmörderin in der Frühen Neuzeit zur authentischen Person zu gelangen (S. 476), das heißt die dunklen Bewohner der Kriminalarchive – mehrheitlich Angehörige der Unterschichten – in ihrer unmittelbaren Realität zu erkennen, kann auch er nicht wirklich einlösen (S. 483). Der Autor eröffnet dem Leser einen kenntnisreichen Einblick nicht nur in die Welt des 18. Jahrhundert, er rekapituliert darüber hinaus (zuweilen etwas erschöpfend und redundant) die akademischen und theologischen Diskurse über die Frage nach Ursprung und Ende des Lebens, jenem Leben, dem Lucia Cremonini 1709 nach der Geburt ein trauriges Ende setzte. Die mikrohistorisch angelegte Konzeption der Untersuchung verdeckt jedoch nur mühsam das Ungleichgewicht zwischen den wenig bekannten Fakten des Falles und der kenntnisreichen und beeindruckenden Diskussion der Fragen von Geburt und Leben, Sterben und Tod, die sich jede Epoche von neuem stellt.

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