F. Hentschel: Bürgerliche Ideologie und Musik

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Titel
Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776-1871


Autor(en)
Hentschel, Frank
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Campus Verlag
Anzahl Seiten
539 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Boisits, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Musikgeschichte im Dienste bürgerlicher Identität: Das ist das Thema einer umfangreichen Studie, die dem Zusammenhang von musikhistorischem Denken und Politik nachgeht und zu diesem Zweck deutschsprachige Musikgeschichten aus dem 19. Jahrhundert auf die ihnen zugrunde liegenden „Tiefenstrukturen, Denkmuster, Stereotype und Ideologien“ (S. 18) hin untersucht. Zahl und Bedeutung der herangezogenen Quellentexte sorgen für einen repräsentativen Querschnitt. Neben Werken zur allgemeinen Musikgeschichte (Johann Nikolaus Forkel 1788/1801, Karl Christian Friedrich Krause 1827, Wilhelm Christian Müller 1830, Raphael Georg Kiesewetter 1834, Gustav Schilling 1841, Franz Brendel 1851, Joseph Fröhlich 1862, August Wilhelm Ambros 1862-1868, Paul Frank alias Carl Merseburger 1863, Joseph Schlüter 1863, August Reißmann 1863f. und Arrey von Dommer 1868) werden auch andere musikalische Schriften (Johann Karl Friedrich Triest 1801, Johann Anton Friedrich Justus Thibaut 1825, Wilhelm Heinrich Riehl 1853/1859) herangezogen.

Teil I untersucht das ästhetische Urteilsfundament, dessen sich Musikgeschichtsschreibung explizit oder implizit bedient. Ersteres ist allerdings, wie Hentschel herausarbeitet, nur bei Forkel der Fall, der seiner Musikgeschichte den Versuch einer Metaphysik der Tonkunst vorausschickte. In ihm legt Forkel ganz in der Tradition rationalistischer Ästhetik Schönheit als objektive Eigenschaft von Gegenständen fest. Dieser letztlich normative Begriff des Schönen dient ihm als Maßstab, um den „richtigen“ Gang der Musikgeschichte erkennen zu können. Forkels Nachfolger begründeten ihr allerorts anzutreffendes musikästhetisches Urteil dagegen nicht mehr – „sie fällten es“ (S. 49). Dass ihre Bewertungen dennoch breite gesellschaftliche Akzeptanz fanden, lag nach Hentschel an ihrer Autorität, an deren Festigung und Steigerung die Musikhistoriker fleißig mitgearbeitet hätten, vor allem aber daran, dass sie im Rahmen bürgerlicher Identitätsfindung gebraucht wurden: als Mitarbeiter an einem Bildungsideal, in dessen Rahmen Musik eine eminente Rolle spielte und das nicht zuletzt der sozialen Abgrenzung nach oben und unten diente. Die Autoren verstanden es dabei, ihren Gegenstand zu erhöhen, indem sie der Musik gerne Attribute wie „wahrhaft“ oder „göttlich“ beilegten, deren Herkunft aus Metaphysik, Erkenntnistheorie oder Theologie nicht nur die Musik, sondern mit ihr wohl auch die Musikhistoriker nobilitieren sollte. Die aus heutiger Perspektive gelinde gesagt oft kuriosen Einschätzungen einfach abzutun, gehe allerdings am Eigentlichen vorbei. Denn „[e]twas, das theoretisch und philosophisch als Nonsens erscheint, ist dies noch lange nicht mit Blick auf seine gesellschaftliche Funktion.“ (S. 85) Das Urteil, das etwa Beethovens Musik „deutsche Tiefe“ attestiert, wird wohl nicht zu verifizieren sein, seine Bedeutung im Prozess bürgerlicher und nationaler Selbstvergewisserung ist aber evident.

Hentschel unterscheidet innerhalb der den Musikgeschichten zugrunde liegenden Denkmustern zwischen „Tiefenstrukturen“, die wie der Fortschritts- und Emanzipationsgedanke „den eigentlichen historischen Plot steuerten“ (S. 12), und „Leitmotiven“, die wie Nationalismus, bürgerliche Moral und christliche Religion erst „bei der Ausarbeitung des Textes ins Spiel kamen“ (S. 12). Dahingestellt mag bei dieser Unterscheidung in „Tiefenstrukturen“ und „Leitmotiven“ bleiben, ob letztere tatsächlich nur als Oberflächenphänomene zu betrachten sind. Jedenfalls geben diese Denkmuster eine Grundstruktur vor, die dabei helfen soll, „den empirischen Ansatz zu wahren, ohne sich in den Quellen […] zu verlieren“ (S. 312). Letzteres ist wohl nicht immer gelungen, was bei dem Umfang des Buches und der Tendenz, ausgiebig aus den Primärquellen zu zitieren, wohl auch kaum zu vermeiden war.

Teil II ist zunächst den Tiefenstrukturen gewidmet. Die die Musikgeschichten fundierende Idee von Fortschritt und Emanzipation zeigt sich an der bei allen Autoren mehr oder weniger ausgeprägten Neigung, das Andere – sei es das zeitlich, örtlich oder sozial Fremde – als bloße Vorstufe einer musikalischen Entwicklung zu sehen, deren Telos je nach Geschmack des Autors in der Vergangenheit (Ambros), Gegenwart (Müller) oder auch Zukunft (Triest, Brendel) angesiedelt sein kann. Dieser ethno- wie chronozentrischen Sichtweise entspricht auch der noch im 20. Jahrhundert verschiedentlich geübte Usus, eine Musikgeschichte mit den außereuropäischen Völkern als quasi Vorläufern der eigenen Entwicklung zu beginnen. Ein durch den Historismus im 19. Jahrhundert naheliegender ästhetischer Relativismus sei dagegen nur sporadisch anzutreffen (etwa bei Ambros). Die von den Musikhistorikern aus einer politischen in eine ästhetische Wertkategorie übergeführte Freiheitsgeschichte gipfelte letztlich in der als Idee der absoluten Musik radikalisierten Autonomieästhetik, die somit „als Resultat und Symbol einer […] bürgerlichen Emanzipationsgeschichte“ (S. 307) erscheint. Auch wenn Hentschel einen „monokausalen Begründungszusammenhang“ (S. 17) definitiv ablehnt, entsteht bei der Lektüre schlicht aus der Überfülle der angeführten Beispiele und ihrer Erläuterungen immer wieder der einseitige Eindruck, der (erreichte oder erwünschte) soziale Status der Autoren bzw. ihres Standes wäre eine ausreichende Erklärung für ihre musikhistorischen Urteile.

In Teil III werden die „Leitmotive“ Nationalismus und bürgerliche Lebensführung analysiert. Binäre Oppositionen wie geistig-sinnlich, innerlich-äußerlich oder sittenrein-frivol dienten zur Charakterisierung musikalischer Nationalcharaktere, wobei die eine Seite für die Beschreibung deutscher Musik reserviert war, die andere für jene der französischen, vor allem aber der italienischen. „Nationaletiketten avancierten zu ästhetischen Charakter- und Wertbegriffen; was sie bezeichneten, brauchte nicht mehr eigens expliziert zu werden“ (S. 337). Interessant ist in diesem Abschnitt der Gedanke des sich verselbständigenden und selbst ergänzenden (National-)Diskurses. Er schliff die mitunter erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen Autoren ab und hinterließ bei den Rezipienten ein einheitliches, plakatives und widerspruchsfreies Panorama musikalischer Nationalstereotype. Musikgeschichten vermittelten aber auch bürgerliche Tugend- und Moralvorstellungen. Die Betonung von Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit – etwa an Bach festgemacht – wurde dem gedankenlosen Genussleben des Adels gegenübergestellt. Das Ideal bürgerlicher Lebenspraxis mit seiner sozialen Abgrenzung nach oben und unten ist aber auch dort erkennbar, wo Entkörperlichung, Entsinnlichung, Vergeistigung und Intellektualisierung zu Kriterien „würdiger“ Musik gemacht werden, deren vermeintliches Fehlen – etwa bei Rossini – sich wiederum mit dem Nationaldiskurs überschneiden konnte. So durchzog die Musikgeschichten „ein Netz politisch lesbarer Metaphern, die im Dienst der bürgerlichen Identitätsstiftung standen. Und vieles spricht für die Annahme, dass es gerade diese politischen Bedeutungsschichten waren, die der Musikgeschichtsschreibung ihre Existenzberechtigung verliehen“ (S. 486).

In seinem Buch weist Hentschel somit auf beeindruckende Art und Weise nach, welche Rolle die Musikwissenschaft zu einer Zeit, in der sie im Unterschied zu heute keinerlei Legitimationsprobleme kannte, bei der Konstituierung und Erhaltung bürgerlicher bzw. nationaler Identität spielte.

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