Titel
Forschen für Stalin. Deutsche Fachleute in der sowjetischen Rüstungsindustrie 1945 - 1958


Autor(en)
Mick, Christoph
Reihe
Abhandlungen und Berichte / Deutsches Museum; N.F. 14
Erschienen
München u.a. 2000: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Uhl, Institut für Zeitgeschichte - Außenstelle Berlin

Der Transfer von militaerischer Hochtechnologie aus Deutschland in die Sowjetunion nach 1945 gehoert zu den spannendsten Kapiteln der modernen Technikgeschichte. An der Schnittstelle von Politik, militaerischer Nutzung, sicherheitspolitischer Relevanz, wissenschaftlichem Fortschritt, technologischer Innovation und Wissenschaftsfoerderung angesiedelt, bekommt das Thema seine besondere Relevanz durch den Ost-West-Konflikt und den bisher unbefriedigenden Stand der Forschung als Ergebnis der restriktiven Archivnutzungspraxis in der UdSSR, die erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion veraendert, wenn auch nicht grundsaetzlich liberalisiert wurde.

Hier liegt zunaechst die Bedeutung dieser Pionierstudie von Christoph Mick. Er hat unter den schwierigen Bedingungen der russischen Archivpraxis das komplexe Thema des Technologietransfers von West nach Ost fuer die Forschung weiter geoeffnet und damit Zeit- und Technikhistoriker sowie Kommunismusforscher auf neue relevante Bestaende in russischen Archiven aufmerksam gemacht. Mick ist es dabei gelungen, in grossem Umfang bisher unbekanntes (und zum Teil wohl auch schon wieder unzugaengliches) Material zu erschliessen, disparate Informationen aus sehr unterschiedlichen Dokumentenbestaenden zu verknuepfen sowie Entscheidungs- und Entwicklungszusammenhaenge grenzueberschreitend zu rekonstruieren.

Das Ergebnis ist eine Studie, welche die technologischen, grosstechnisch-industriellen, staatsorganisatorischen und aussenpolitischen Aspekte des Transfers von militaerischer Hochtechnologie aus Deutschland in die UdSSR von 1945 bis 1958 ueberzeugend rekonstruiert. Dabei liegt in der integrativen Betrachtung dieser Problemfelder der entscheidende, sehr betraechtliche Mehrwert, den die Untersuchung erzeugt. So aufschlussreich die Klaerung von Einzelkomplexen (interalliierte Konflikte beim Technologietransfer, Aufbau eines umfangreichen sowjetischen Forschungsnetzes in der SBZ, Nachkriegseinsatz deutscher Experten in der UdSSR und seine Wirkungen etc.) auch sein mag - erst aus der Zusammenschau dieser Komplexe erschliessen sich die Rationalitaeten und Resultate des ruestungsindustriellen Handelns der Sowjetunion beim Transfer von militaerischer Hochtechnologie.

Zu den wichtigen Einsichten von Mick gehoert, dass die nach Kriegsende in der SBZ errichteten sowjetischen Forschungseinrichtungen eine wesentlich groessere Rolle fuer den Technologietransfer gespielt haben als bisher angenommen. Allein in den vier Konstruktionsbueros des Ministeriums fuer Luftfahrtindustrie der UdSSR in Dessau, Stassfurt, Halle und Berlin beschaeftigten sich mehr als 8000 deutsche und sowjetische Fachleute mit dem Nachbau von zahlreichen Flugzeugen und Triebwerken, die in den letzten Kriegsmonaten auf deutscher Seite entwickelt worden waren. Auf dem Sektor der Raketenentwicklung waren die Zahlen aehnlich hoch: Mitte 1946 arbeiteten mehr als 7000 deutsche und rund 1000 sowjetische Ingenieure, Techniker und Konstrukteure an der Rekonstruktion deutscher Fernlenkwaffen wie der "V-2". (S. 51-65)

Hauptziel des sowjetischen Vorgehens war die Nachentwicklung moderner deutscher Waffensysteme, die in den Augen der sowjetischen Staats- und Parteifuehrung ueber grosse Entwicklungsperspektiven verfuegten. Hierfuer bauten deutsche Fachleute unter sowjetischer Anleitung Entwicklungen aus der Kriegszeit nach oder setzten diese aus noch vorhandenen Einzelteilen zusammen. Gleichzeitig sollte so ein rascher Wissenstransfer von der deutschen auf die sowjetische Seite sichergestellt werden. Die Spezialisten aus der UdSSR studierten folglich in der "Rekonstruktionsphase" die neue Technik am Objekt und machten sich zugleich mit dem benoetigten Forschungs- und Fertigungs-Know-how vertraut. Ergebnis dieser Vorgehensweise war die Bildung arbeitsfaehiger Teams, die spaeter zusammen mit ihren Forschungseinrichtungen in die UdSSR verlegt werden konnten. (S. 316) Diese erste Phase des Technologietransfers verlief, wie Mick in seiner Arbeit herausstreicht, bei allen Siegermaechten aehnlich. Interalliierte Konflikte um das Technologieerbe des Deutschen Reiches fuehrten zugleich zu einer Aufwertung der deutschen Fachleute. Fuer zahlreiche Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler, die in der deutschen Ruestungsindustrie gearbeitet hatten, brachte das Kriegsende deshalb nur einen unwesentlichen Bruch ihrer beruflichen Taetigkeit mit sich. Nach nur kurzer Unterbrechung arbeiteten sie fuer die Siegermaechte wieder an ihren alten Projekten. Diese gewaehrten ihnen dabei die gleichen Verguenstigungen, welche die Spezialisten bereits durch den NS-Staat erhalten hatten. Die Konkurrenzsituation der Alliierten bei der Suche nach deutschen Ruestungsexperten begruendete ebenfalls eine laxe Entnazifizierungspolitik gegenueber den Wissenschaftlern. Auch die UdSSR glaubte beim beginnenden Ruestungswettlauf der ersten Nachkriegsjahre nicht auf den Einsatz nationalsozialistisch belasteter Techniker und Ingenieure verzichten zu koennen. (S. 33-42; 89-91)

Mit der am 22. Oktober 1946 begonnenen Verschleppung von mehr als 2200 deutschen Spezialisten in die UdSSR leitete die Sowjetunion die zweite Phase des Technologietransfers der deutschen Ruestungstechnik ein. Auf Grund der gesichteten sowjetischen Akten kann Mick nicht nur exakte Angaben zur Anzahl und den Einsatzgebieten der deutschen Techniker in der UdSSR liefern. Erstmals gelang es ihm auch, deren Qualifikationsstruktur im interalliierten Vergleich zu untersuchen. Dabei streicht Mick heraus, dass die UdSSR im Gegensatz zu den USA nicht nur an erstklassigen Wissenschaftlern interessiert war. Die nach dem Krieg komplizierte Situation der sowjetischen Forschung und Wirtschaft verlangte in der Sowjetunion den Einsatz kompletter deutscher Arbeitsgruppen. Deshalb wurden nicht nur Spitzenwissenschaftler, sondern auch zahlreiche gut qualifizierte und ausgebildete Ingenieure sowie Facharbeiter in die Sowjetunion verbracht. Fuer die praktische Umsetzung der technischen Entwuerfe der deutschen Wissenschaftler waren sie in der UdSSR zunaechst unverzichtbar. (S. 93-110)

Nach dem Ende der zweiten Phase des Transfers der deutschen Ruestungstechnik, die den Abschluss der Rekonstruktion der deutschen Waffenmuster und deren praktische Erprobung umfasste, modifizierte die UdSSR das von ihr angewendete Konzept des Technologietransfers radikal. Obwohl die Sowjetunion hoechstes Interesse am wehrtechnischen Know-how des Deutschen Reiches zeigte, belegt Mick mit seiner Untersuchung, dass die UdSSR nie an eine langfristige Verwendung der deutschen Forschungskapazitaeten fuer eigene Waffenentwicklungen dachte.

Die fuer die Sowjetunion typische Vorgehensweise bei der Akquisition auslaendischer Technologie, die auf nachholenden Kompetenzerwerb ausgerichtet war, verhinderte, im Gegensatz zu den USA, eine weitgehende Integration der deutschen Wissenschaftler und Technikspezialisten in die sowjetische Scientific Community. Deshalb sank das Leistungsvermoegen der von den Quellen ihres Wissens abgeschnittenen Deutschen rasch und sie wurden in den Augen der Ruestungsministerien der UdSSR zu einer zunehmend kostspieligen Belastung. Aus Geheimhaltungsgruenden lehnte der Ministerrat der UdSSR bis Anfang der 50er Jahre jedoch immer wieder eine Verlegung dieser Wissenschaftler in zivile Bereiche oder eine Rueckkehr nach Deutschland ab. (S. 202-205)

Mick macht in seiner Arbeit ebenfalls deutlich, dass die Ergebnisse des Technologietransfers nicht immer den hochgesteckten sowjetischen Erwartungen entsprachen. Waehrend z.B. in den Bereichen der Raketen- und Flugzeugtechnik durch den Wissenstransfer betraechtliche Modernisierungsschuebe zu verzeichnen waren, blieben in vielen anderen Bereichen langfristige positive Effekte aus. Die Ursache hierfuer lag, so Mick, nicht nur in den Anpassungsschwierigkeiten zweier unterschiedlicher Wissenschaftssysteme oder den besonderen Bedingungen des sowjetischen Plansystems. (S. 180-195) Vielmehr erforderte es die wirtschaftliche Schwaeche der UdSSR, sich beim Technologietransfer auf wenige ausgewaehlte prioritaere Bereiche wie Atom- und Fernlenkwaffen sowie Strahlflugzeuge zu konzentrieren. Hier spielte das sowjetische Kommandosystem seine Staerken bei der Mobilisierung von Forschungskapazitaeten und Produktionsressourcen voll aus. "Unmittelbar mit dieser massiven Konzentration auf wenige Grossprojekte verbunden war aber das Zurueckbleiben in vielen anderen Bereichen. Hier wies das Kommandosystem gegenueber den marktwirtschaftlichen Systemen gravierende Funktionsdefizite auf. [...] So ist es nicht verwunderlich, dass es in vielen nichtprioritaeren Bereichen zu Engpaessen und mangelnder Planerfuellung kam". (S. 201-202) Zu den weiteren Forschungsergebnissen von Mick gehoeren ferner eine genaue Rekonstruktion der am Technologietransfer beteiligten Personenkreise in Wissenschaft, Verwaltung und Politik, praezise Erlaeuterungen der mit der Problematik verbundenen technischen und technologischen Fragen, aber auch eine detaillierte Darstellung der Arbeits- und Lebensbedingungen der deutschen Experten in sowjetischen Diensten. Auch beruecksichtigt der Verfasser die politische Verankerung des Wissenstransfers im sowjetischen Herrschaftssystem und zeigt das polykratische Beziehungs- und Patronagegeflecht der spaetstalinistischen UdSSR auf. Zudem kann Mick, gestuetzt auf neue russische Aktenfunde, unsere bisherigen Kenntnisse ueber den militaerisch-industriellen Komplex in der Sowjetunion wesentlich erweitern. Lediglich die Frage, inwieweit die umfangreichen sowjetischen Demontagen in der SBZ den Technologietransfer beeinflussten, beantwortet der Autor nicht.

Insgesamt handelt es sich bei der Arbeit von Christoph Mick um einen gewichtigen Forschungsbeitrag, der ohne seine intensive Arbeit in russischen Archiven nicht so haette geschrieben werden koennen. Die hochprofessionelle Recherche ueberzeugt ebenso wie die gruendliche und gelungene Verarbeitung der internationalen Literatur sowie die Loesung der methodischen Probleme. Das Buch von Mick ist mehr als nur ein Baustein zum Problem von Wissenstransfer, Wissensaneignung und eigenstaendiger Weiterentwicklung. Wie solche Prozesse des Transfers von Technologie und Wissen im 20. Jahrhundert erfolgten, wird hier beispielhaft dargestellt. Deshalb ist das Buch nicht nur fuer diejenigen unverzichtbar, die sich mit moderner Technikgeschichte beschaeftigen. Auch Zeithistoriker werden an der Arbeit von Christoph Mick kaum vorbeikommen.

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