M. Reitmayer u.a. (Hrsg.): Unternehmen am Ende des "goldenen Zeitalters"

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Titel
Unternehmen am Ende des "goldenen Zeitalters". Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive


Herausgeber
Reitmayer, Morten; Rosenberger, Ruth
Reihe
Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 16
Erschienen
Anzahl Seiten
S. 338
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Judt, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Morten Reitmayer und Ruth Rosenberger machen ihre lesenswerte Einleitung zu dem Sammelband über "Unternehmen am Ende des 'goldenen Zeitalters'" mit Eric Hobsbawns Einteilung des 20. Jahrhunderts in die Abschnitte des "Katastrophenzeitalters" der ersten Jahrhunderthälfte, des "Goldenen Zeitalters" von 1945 bis 1973/74 und des anschließenden "Erdrutsches" auf. Die Frage, welcher Abschnitt wirtschaftshistorisch der markanteste, derjenige mit den einschneidendsten Veränderungen war, lässt sich nicht so leicht beantworten, wie es zunächst den Anschein hat. Zweifellos haben sich die Katastrophen der Hyperinflation, der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs genauso unauslöschlich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt wie der Boom der Nachkriegsjahrzehnte. Doch der in den 1970er-Jahren beginnende Strukturwandel in den modernen Volkswirtschaften ist mit so großen gesellschaftlichen Umbrüchen verbunden, dass eher diese Periode als die wichtigste in der Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts anzusehen ist: Das Verschwinden ganzer Industriebranchen, der Bedeutungsgewinn des Dienstleistungssektors, die Computerisierung des öffentlichen (und später auch privaten) Lebens und die damit verbundenen Veränderungen in der Qualifikation der arbeitenden Bevölkerung markieren diese Umwälzungen.

In den 14 Aufsätzen werden von den meisten Autoren vor allem die 1970er-Jahre beleuchtet, wobei die Entwicklung aus drei Perspektiven betrachtet wird: Die erste wendet sich den "Produzenten" zu, die zweite der "Politik", ehe schließlich "Semantiken" diskutiert werden. Indem die Herausgeber ihren Autoren einen "Auftrag" mit auf den Weg gaben, nämlich sich mit Boltanskis und Chiapellos These vom "neuen Geist des Kapitalismus"1 auseinanderzusetzen, also seiner – wie es Manfred Grieger formuliert – "Neuerfindung" über die "Mobilisierung des bis dahin ungenutzten Innovationspotenzials" des Managements und der anderen Beschäftigten eines Unternehmens (S. 31), erhielten die Aufsätze eine gemeinsame Klammer, die das Lesen dieser Sammlung zu einem Gewinn werden lässt. Allerdings ist es bedauerlich, dass sich der Band im wesentlichen mit Wandlungsprozessen in der Bundesrepublik befasst und andere Länder (Frankreich, DDR und Polen) nur ergänzend betrachtet werden.

Trotzdem demonstriert schon der umfangreichste Abschnitt zu den Produzenten, wie mit einer klugen Auswahl von zu behandelnden Unternehmen die Vielfalt von Wandlungsprozessen gezeigt werden kann. Griegers nur wenige Jahre behandelnde Analyse des Volkswagenkonzerns 1968-1976 zeigt den wichtigsten deutschen Automobilhersteller in der Konfrontation mit mehreren Prozessen des Strukturwandels: dem Trend von einem "Ein-Marken"- und "Ein-Typen"-Hersteller zu einem Autoproduzenten mit mehreren Marken und unterschiedlich dimensionierten Fahrzeugen, der zudem die Herausforderungen der ersten Ölkrise annehmen musste. Stefanie van de Kerkhoff zeichnet über einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten den Wandel in der Organisationsstruktur des Wehrtechnik-Konzerns Rheinmetall nach, der ganz wesentlich von "äußeren" Umständen beeinflusst wurde: Das wichtige Rüstungsunternehmen der NS-Zeit konnte seine Produktion nach 1945 nur unter veränderten Besitzverhältnissen (der Bund hielt die Aktienmehrheit) und zunächst nur mit der Herstellung ziviler Güter wieder aufnehmen. Die Entstehung der Bundeswehr und die Übernahme durch Röchling brachte die Rückkehr zur wehrtechnischen Fertigung, die ab Mitte der 1960er-Jahre auch den Wiedereinstieg in das frühere Kerngeschäft (Geschützrohre, Lafetten und die entsprechende Munition) ermöglichte. Andererseits setzte das Unternehmen die Diversifizierung seiner Produktpalette gerade auch bei zivilen Gütern von den 1960er- bis zu den 1980er-Jahren fort und kehrte erst Ende der 1990er-Jahre zur Konzentration auf die Kernkompetenzen zurück.

Armin Müller wendet sich mit der Villinger Kienzle Apparate GmbH wiederum einem Unternehmen im Niedergang zu. Der Abstieg war jedoch nicht dem Beharren auf veralteten Produktlinien geschuldet, sondern dem durchaus unternehmerisch sinnvollen, aber letztendlich zu späten Einstieg in die Fertigung von Büromaschinen und Computern. Die meisten Standorte der deutschen Büromaschinenindustrie lagen nach 1945 auf dem Gebiet der DDR, und die dortigen Produzenten vernachlässigten bereits seit den 1950er-Jahren die internationalen Entwicklungen hin zu elektronisierten Datenverarbeitungsgeräten, an die westdeutsche Unternehmen anzuknüpfen gedachten. Für Kienzle bedeutete das, sich mit der modernen Bürotechnik auf einem höchst dynamischen Markt mit vielen Anbietern und längere Zeit nicht miteinander kompatiblen Computersystemen zu bewegen. Der Niedergang von Kienzle spiegelt dabei die Geschichte der gesamten westdeutschen Computerindustrie, die spätestens mit der Durchsetzung der finanzmarktgesteuerten Globalisierung sowohl in der Produktion als auch in der Entwicklung von Hardware gegenüber internationalen Konkurrenten ins Hintertreffen geriet.

Marius Herzog beschreibt, wie sich der Gasehersteller Linde von einem "dezentral organisierten Familienunternehmen zum divisionalisierten Managerkonzern" (S. 119) entwickelte, was vermutlich verhindern half, dass das Unternehmen in einem sich international verändernden Marktumfeld unterging. Schließlich thematisiert Laurent Commaille die Krise der französischen Eisen- und Stahlindustrie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, die nicht nur Parallelen zu ähnlichen Krisen in den Stahlindustrien vieler Länder aufwies, sondern ein originär französisches Element hatte: Der Niedergang betraf ein "französisches Modell", innerhalb dessen in engem Zusammenwirken von Unternehmen und Staat die Unternehmensinteressen sozialen und politischen Belangen untergeordnet und immer wieder neue Industrieanlagen errichtet, Standorte aufgeteilt und technisch überholte Einrichtungen erhalten worden waren.

Der zweite Abschnitt fasst den Begriff der "Politik" sehr weit: Tim Schanetzky kommt mit seiner Analyse der Handlungsoptionen der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik der 1970er-Jahre dem Begriff im engeren Sinne noch am nächsten. Intentionen und Ergebnisse der Politik der sozialliberalen Koalition in Bonn vor dem Hintergrund zweier Ölkrisen und des langsamen Ersatzes keynesianischer durch angebotstheoretische Ansätze markierten einen eher mühsamen Übergang für westdeutsche Unternehmen. Bei Manuel Schramm geht es um die Organisation des Wissenstransfers in beiden deutschen Staaten zwischen – auch im Falle der Bundesrepublik – öffentlichen Forschungseinrichtungen und den Unternehmen vor dem Hintergrund der Ziele und Resultate der Hochschulreformen, die jeweils offiziell den Bedürfnissen der Wirtschaft entgegenkommen sollten, aber von den Unternehmen eher skeptisch betrachtet wurden. Vor diesem Hintergrund wird auch Friederike Sattlers Aufsatz zur Ausbreitung kompensatorischer Netzwerke in der DDR und Polen besonders interessant. Diese Netzwerke sollten helfen, nach dem Ende der Reformbemühungen in den 1960er-Jahren wissenschaftlich-technische Neuerungen voranzubringen, die den Übergang vom extensiven zum intensiven Wachstum der Volkswirtschaften begleiteten. Sie konnten helfen, die seit Beginn der 1970er-Jahre wieder verstärkte zentrale Lenkung der Wirtschaft ein Stück weit zu umgehen.

Stephanie Tilly und Werner Bührer gehen schließlich auf zwei wichtige Interessenvertreter der westdeutschen Industrie ein. Tillys Text zum Verhältnis von Industrie, Politik und Brancheninteressenverband liefert einen weiteren Beitrag zur im ersten Abschnitt schon thematisierten Automobilindustrie, Bührer wendet sich dem Erneuerungsprozess im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) zu. Der Machtantritt einer Bundesregierung unter SPD-Führung bedeutete für die westdeutschen Unternehmen eine "Veränderung der politischen 'Großwetterlage'" (S. 240), der zudem vom Aufkommen neuer sozialer Bewegungen begleitet war. Insbesondere der BDI beobachtete die allgemeine "Politisierung" der Gesellschaft mit Unbehagen, weil man die Entstehung einer "Grundhaltung in der Bevölkerung" gegen Unternehmer und Marktwirtschaft (S. 243) befürchtete. Mit selbst in die Diskussion eingebrachten Themen wie "Freiheit" und "Demokratie" bemühte sich der BDI auf seine Weise um den "neuen Geist des Kapitalismus", der diesen gleichsam neu legitimieren sollte.

Im letzten Abschnitt wird dieser neue Geist anhand sich wandelnder Unternehmer- und Unternehmensbegriffe (Susanne Draheim), des wachsenden Einflusses von Unternehmensberatern (Werner Plumpe), des Übergangs zu einer offensiven Medienpolitik der westdeutschen Unternehmen (Werner Kurzlechner) und schließlich des Bildes vom Konsumenten als Unternehmer (Jan-Otmar Hesse) noch einmal aus einer ganz anderen Perspektive beleuchtet. Sammelbände mit ganz unterschiedlichen Aufsätzen, die zudem zum Teil aus Konferenzbeiträgen entstanden, leiden zuweilen darunter, dass die diese Tagungen begleitenden – und die Beiträge vergleichenden – Diskussionen nur eingeschränkt aufgenommen werden können. Hier aber hilft die gelungene Auswahl der Beiträge weiter, weil verschiedene Autoren einzelne Themen von verschiedenen Seiten betrachten. So war es für den Rezensenten gewinnbringend, beim Lesen die Aufsätze von Grieger und Tilly oder jene von Schanetzky und Bührer einander gegenüberzustellen.

Anmerkung:
1 Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006.

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