A. Pistiak u.a. (Hrsg.): Zu Heinrich Heines Spätwerk "Lutezia"

Titel
Zu Heinrich Heines Spätwerk "Lutezia". Kunstcharakter und europäischer Kontext


Herausgeber
Pistiak, Arnold; Rintz, Julia
Erschienen
Berlin 2007: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
390 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Marie-Ange Maillet, Université Paris VIII, Saint-Denis

Lutezia, das umfangreichste Buch Heinrich Heines, erschien in Deutschland im Rahmen der Vermischten Schriften im Jahre 1854 und ein Jahr später, mit dem Titel Lutèce, in Frankreich – wo das Werk gleich einen sensationellen Erfolg genoss, wie Heine ihn schon lange nicht mehr erlebt hatte. Anfang der fünfziger Jahre hatte sich der Dichter, seit 1848 in seiner „Matrazengruft“ liegend, vorgenommen, eine Auswahl aus Zeitungsartikeln und -korrespondenzen zu den französischen politischen, sozialen und kulturellen Zuständen, die er im wesentlichen zwischen 1840 und 1843 für die Augsburger Allgemeine Zeitung verfasst hatte, zu einem eigenständigen künstlerischen Werk zu versammeln. Bei dieser „Hundearbeit“1, wie sie Heine nannte, wurden manche Artikel in den Text einbezogen, die der Zensur wegen nie hatten veröffentlicht werden können, und andere, deren Ton stark hatte gemildert werden müssen, wurden drastisch umgearbeitet – wobei die inzwischen vergangenen Jahre und die politischen Umwälzungen in Frankreich und Deutschland den Dichter zu manchen Akzentverschiebungen verleiteten, die bei der Beschäftigung mit diesem Werk stets berücksichtigt werden müssen.

Das Buch Lutezia, als „daguerreotypisches Geschichtsbuch“2 verstanden, das der Nachwelt ein treues Bild von dem Autor und seiner Zeit liefern sollte, bezeichnete Heine in seinem Zueignungsbrief an den Fürsten Pückler-Muskau zugleich als „ein Produkt der Natur und der Kunst“3. Diese programmatischen Worte nahmen die Herausgeber des vorliegenden Bandes als Motto, als sie 2006 anläßlich des 150. Todestags des Dichters das erste größere internationale Symposium zum Thema Lutezia organisierten – ein Unternehmen, auf das man sich freuen kann angesichts der Tatsache, dass Lutezia, wenn es auch „in zahlreichen literaturwissenschaftlichen Darstellungen Hochschätzung“ erfährt, jedoch „weder in den öffentlichen Gesprächen über Heine noch in den spezifischen Diskursen der Heineliteratur besondere Aufmerksamkeit“ (S. 10-11) genießt. Durch das Symposium sollten also in erster Linie neue Anregungen zur Lektüre des Werkes gefunden und damit Zugang zu einer vertieften Rezeption verschafft werden.

Den offenen, nicht immer akademischen Ton der Gespräche findet der Leser in den Akten des Symposiums wieder, die beinahe alle Beiträge umfassen. Eröffnet wird der Band durch einen Essay von Volkmar Hansen, dem Herausgeber der Lutezia-Bände der Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA), der dem Leser einen panoramischen Einblick in Heines Pariser Bild anbietet. Die übrigen Beiträge werden dann unter vier Sektionen präsentiert. Die erste, die beinahe die Hälfte der Aufsätze enthält, schliesst unter dem Titel „Ästhetik/ Literaturkritik“ wertvolle Reflexionen zu den Themen Literatur, Musik und Kunst ein. Als Beispiele seien hier u.a. Roland Berbigs Essay zum „Personnage“ und zur dramaturgischen Struktur des Werkes 4, oder die mit bewunderndswerter Akribie geführte Untersuchung von Margaret A. Rose über Heines Beziehung zur Lithographien-, Karikatur- und Gravürenkunst seiner Zeit und zum Thema der Interbildlichkeit 5, so wie Sabine Bierwirths Analyse von Heines Naturästhetik 6 genannt. In der Sektion „Philosophie/Religion“ wird dann der Schwerpunkt auf Heines Beziehung zum Judentum u.a. im Hinblick auf die Damaskus-Affäre gelegt, während unter den Rubriken „Zeitgeschichte“ und „Ausblicke“ unterschiedliche politische Fragen behandelt werden: z.B. untersucht Bodo Morawe detaillert und sehr überzeugend die vom Autor angewandten Taktiken zum Unterlaufen der Zensur anhand seines Diskurses zur Republik 7, während sich Daniel Azuelos der Gestalt Heines als politisierendem Dichter widmet 8 und Renate Stauf den Widerspruch zwischen der offenen Form von Heines Berichterstattung und seinem Versuch einer Kontigenzauflösung der Geschichte herausarbeitet. 9

Dass die Sektionen voneinander nicht streng geschieden sind, sollte dem Leser von Anfang an klar sein: genauso wie die Essays aus der Rubrik „Ausblicke“ auch mit Zeitgeschichte zu tun haben, schliesst die erste Sektion Exkurse in die Gebiete Politik und Geschichte nicht aus.10 Wichtiger aber als die formale Gliederung ist die Feststellung, dass über die Unterschiedlichkeit der Themen hinaus sämtliche Beiträge von Fragen durchzogen werden, die sowohl ästhetische als auch sozial-politische Grundpositionen Heines berühren und für den heutigen Leser von großem Interesse bleiben. Als besondere Leistung ist dem Symposium die Herausarbeitung von Fragen anzurechnen, die an Lutezia als Kunstwerk gestellt werden: Fragen zur Einbeziehung dieses Textes in die Vermischten Schriften, zu Spielen mit Motiven und Metaphern, natürlich auch zu Strategien zur Hintergehung der Zensur, gattungsspezifische Fragen... Nicht immer werden die einzelnen Beiträge den vielfältigen Ansprüchen des Symposiums – d.h. sowohl den künstlerischen Wert Lutezias als auch seine Einbeziehung in den europäischen Kontext zu berücksichtigen und dadurch das Werk auf seine Modernität hin zu befragen – im selben Maße gerecht, oder diese Fragen werden manchmal nicht offen genug problematisiert, so dass der Band, als Ganzes betrachtet, manchmal riskiert, auseinanderzulaufen. Auch kann man bedauern – man mag es als Detail bezeichnen -, dass im Hinblick auf die Sprache keine völlige Einheitlichkeit erzielt wurde und sich ein - trotz deutschen Titels - auf französisch redigierter Artikel in den Band verirrt hat. Es ist aber andererseits ein großes Verdienst Arnold Pistiaks, dessen Engagement für eine breitere Rezeption von Heines Spätwerk sich schon in der von ihm zustande gebrachten Reprint-Ausgabe der Vermischten Schriften manifestiert hat, dass er durch die hier versammelten und insgesamt von hohem wissenschaftlichen Niveau zeugenden Essays ein offenes Forum für neue und gründliche Reflexionen über das Werk geschaffen hat. Daher dürfte dieser Band, sowohl unter den Heine-Spezialisten, als bei einem breiteren Publikum, das mit dem facettenreichen Werk bekannt gemacht werden möchte, Resonanz finden.

Anmerkungen:
1 Brief H. Heines an J. Campe vom 15.04.1854, HSA (Heine Säkulärausgabe), Bd. XXIII.
2 Lutezia, „Zueignungsbrief“, DHA 13/1, S. 19.
3 Ibidem.
4 „Le personnage in Lutezia – Figuration und Personarium in Heines Pariser Berichten über Politik, Kunst und Volksleben“, S. 59-82.
5 „Der Kunstkritiker als „Flaneur“: Heines Betrachtungen über die bildende Kunst in Lutezia“, S. 117-147.
6 „Naturästhetik als Teil der Kunstrevolution – Heines Lutezia als „Produkt der Natur und Kunst.““, S. 41-57.
7 „Höllische Reklame für die Republik – Zur Form-Inhalt-Dialektik der Lutezia“, S. 275- 303.
8 „Heinrich Heine, der politisierende Dichter, und Alexis de Toqueville, der Politiker als Geschichtsphilosoph: Ein Leben zwischen allen Stühlen“, S. 305- 320.
9 „“Werden die Angelegenheiten dieser Welt wirklich gelenkt [...] von der denkenden Vernunft? Oder regiert sie nur ein lachender Gamin, der Gott-Zufall?“ Zum Modernediskurs in Lutezia“, S. 367-381.
10 Siehe dazu Arnold Pistiaks Beitrag „Geschichtliches Material, kunstgemäß organisiert“, S. 175-196.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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