H. Afflerbach u.a. (Hrsg.): Outbreak of World War I

Titel
An Improbable War?. The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914


Herausgeber
Afflerbach, Holger; Stevenson, David
Erschienen
Oxford 2007: Berghahn Books
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
$ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Bender, Sonderforschungsbereich 437, Eberhard Karls Universität Tübingen

Dass der Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Produkt weltpolitischer Spannungen erklärt werden kann, die sich seit der Jahrhundertwende zwischen den europäischen Großmächten aufgebaut hatten, und dass in der Julikrise von 1914 „Entwicklungstrends aufeinander[trafen], die den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nahezu unvermeidlich gemacht haben“, sind in der Forschung etablierte Sichtweisen auf die Vorkriegsjahre. 1 Sönke Neitzel etwa konstatiert mit Blick auf die europäischen Konstellationen seit der Jahrhundertwende, dass es „gemäß damaliger Prämissen kaum“ Alternativen zu einer kriegerischen Konfrontation gegeben habe. Zwar müsse nicht von einer „Zwangsläufigkeit“ gesprochen werden – „die konkrete geschichtliche Entwicklung sollte als ein Bündel offener Optionen verstanden werden, die an zahlreichen Punkten auch eine andere Wendung hätten nehmen können“; dennoch resümiert Neitzel, sei es „kaum vorstellbar, dass die europäische 'Urkatastrophe' hätte verhindert werden können – wenn man die damaligen Konstellationen berücksichtigt“. 2

Der vorliegende Sammelband, dessen Beiträge sich mit diesem „Bündel offener Optionen“ beschäftigen, ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im Oktober 2004 aus Anlass des neunzigsten Jahrestages des Kriegsausbruches in Atlanta stattgefunden hat. 3 Die Vorgabe der Herausgeber Holger Afflerbach und David Stevenson an die Beiträger ist es, der These von der Zwangsläufigkeit des Krieges mit einem Wechsel der historischen Perspektive die Frage gegenüberzustellen, wie wahrscheinlich ein Kriegsausbruch mit Blick auf die Konstellationen innerhalb der europäischen Politik und die Wahrnehmungen der Zeitgenossen tatsächlich gewesen sei. Die Herausgeber vertreten hierbei einen ungewöhnlichen Standpunkt: Nicht nur könne der Erste Weltkrieg eben nicht als die unvermeidbar gewordene Klimax multilateraler Spannungen betrachtet werden, dessen Ausbruch sei mit Blick auf die Vorkriegsjahre sogar dezidiert unwahrscheinlich gewesen – „an abrupt departure from previous trends in European political culture, not their continuation or automatic outcome“. Die „political culture“ der Vorkriegsjahre, die als Untersuchungsfeld abgesteckt wird, solle hierbei über die Politik hinaus als „'mindset' of contemporaries“ verstanden werden, also ein „ensemble of conventions, interests, customs, expectations, unspoken assumptions, hopes and fears diffused among the millions of people who shaped the fundamental and distinctive characteristics of the political environment“ (S. 2).

Die 18 Beiträge des Sammelbandes – ergänzt durch ein Vorwort des ehemaligen US-Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers Jimmy Carter – decken den vorgegebenen und beinahe maximal weit definierten Untersuchungsrahmen mit einer Vielzahl von Einzelaspekten ab. Dies gilt auch für die methodischen Herangehensweisen und das jeweilige Erkenntnisinteresse: Beiträge, die politische und militärische Entscheidungsprozesse interpretieren, stehen neben solchen, die sich mit subjektiven Wahrnehmungen und zeitgenössischen Einschätzungen der Kriegswahrscheinlichkeit beschäftigten, die These von der Zwangsläufigkeit des Kriegsausbruches an der Untersuchung von Einzelaspekten widerlegen möchten oder die Alternativen eines Kriegs und Chancen für den Frieden in den Jahren vor 1914 diskutieren. Sich bei der Lektüre einen geraden Weg durch diese vielgestaltigen Ansätze und Perspektiven zu bahnen, fällt nicht immer leicht. Die Zusammenstellung der Beiträge, die zu fünf thematisch gegliederten Teilen zusammengefasst sind, hilft nur bedingt.

An der in der Einleitung aufgeworfenen Frage, wie wahrscheinlich der Ausbruch des Weltkrieges gewesen sei, scheiden sich die Meinungen der Beiträger. Bereits der erste Beitrag von Paul W. Schroeder, der sich den Entscheidungsprozessen der politischen Eliten Österreich-Ungarns im Jahr 1914 zuwendet, markiert eine Abkehr von der dem Band übergeordneten These, der Kriegsausbruch sei ein Bruch mit den Trends der Vorkriegszeit gewesen. Schroeder interpretiert die Eskalation der Krise nach dem Attentat von Sarajevo als Folge von Veränderungen des europäischen Beziehungsgeflechts in der Vorkriegszeit. Nach 1890 seien die Normen imperialistischer Politik in den Umgang der Großmächte in Europa selbst eingesickert. Mit der Fokussierung des Balkans als Schauplatz des politischen Ringens der Mächte hätten sich diese veränderten Formen der Politik nach 1907 zunehmend gegen Österreich-Ungarn gerichtet, dessen Vorgehen in der Julikrise Schroeder als „rational choice and response to its situation“ verstanden wissen will (S. 26). Auch andere Beiträger argumentieren – wenn auch in abgeschwächter Form und von anderen Perspektiven kommend – in eine ähnliche Richtung. Ute Frevert blickt in ihrem Beitrag auf männliche Konzepte von Ehre und Schande und deren Einfluss auf die Entscheidungsträger des Juli 1914. Satisfaktionsmentalität und die geschlechterspezifisch konnotierte Vorstellung, Ehre verteidigen zu müssen, hätten in der Krisensituation einen Krieg zwar nicht unausweichlich gemacht, eine friedliche Beilegung des Konflikts aber deutlich erschwert.

Eine Reihe von Beiträgen unterstreicht die Offenheit von Entwicklungen vor 1914, die keine Zwangsläufigkeit in sich getragen, die Möglichkeit eines Kriegsausbruches aber dennoch offen gelassen hätten. Matthias Epkenhans beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem deutsch-britischen Flottenwettrüsten. Dieses sei bereits vor 1914 beendet gewesen – Großbritannien habe seine maritime Vormachtstellung behauptet, dem Deutschen Reich sei das Geld ausgegangen – und die beiden Großmächte hätten einen „modus vivendi“ gefunden (S. 126). Das Flottenwettrüsten könne daher nicht als Grund für den Kriegsausbruch angeführt werden, auch wenn es die deutsch-britischen Beziehungen in seinem Verlauf belastet habe. Jost Dülffer zeigt, dass die Versuche, auf den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 Rüstungsbeschränkungen und -kontrollen zu vereinbaren, weitgehend wirkungslos geblieben sind, während Matthias Schulz mit Blick auf die Kongressdiplomatie zwischen 1815 und 1914 betont, dass es auch unmittelbar vor dem Ausbruch des Weltkrieges eingeübte und etablierte Mechanismen gegeben habe, Krisen und Konflikte mit den Mitteln einer multilateralen Verständigung zu lösen.

Es ist kaum verwunderlich, dass die These von der Unwahrscheinlichkeit des Kriegsausbruches ihren stärksten Advokaten in einem der Herausgeber gefunden hat. Holger Afflerbach untersucht in seinem Beitrag die Verbreitung des Topos des unwahrscheinlichen Krieges vor 1914. Dieser sei im Denken der europäischen Politiker und Militärs verankert gewesen und von der Presse reproduziert worden, während gleichzeitig ein Bewusstsein dafür existiert habe, dass ein zukünftiger Krieg verheerende Auswirkungen haben würde. Selbst während der Julikrise sei der Topos vielfach noch nicht von dem Gedanken abgelöst worden, dass ein Weltkrieg bevorstehen könnte. Roger Chickering unterstreicht in seinem Beitrag zur „Kriegsbegeisterung“ der letzten Juliwoche 1914, die er am Beispiel Freiburgs untersucht, dass die Massenversammlungen „should not be taken as evidence that an inveterate German war enthusiasm made war probable or inevitable“ (S. 200), da es kaum möglich sei, die Motivation und emotionale Disposition derer, die sich auf den Straßen befanden, historisch zu greifen. Frederick R. Dickinson und Fraser J. Harbutt können in ihren Beiträgen zur Wahrnehmung des Kriegsausbruches in Japan und den USA nachzeichnen, dass die kriegerische Eskalation für die außereuropäischen Großmächte überraschend kam und zuvor als weitgehend unwahrscheinlich erachtet wurde.

Eine trennschärfere Differenzierung der Diskussionen von langfristigen Ursachen und akuten Auslösern des Ersten Weltkrieges wäre vielfach hilfreich gewesen, um die Ergebnisse der argumentativ überzeugenden und ausnahmslos informativen Beiträge besser miteinander zu größeren Einheiten verweben und vergleichen zu können. Ob die These von der Unwahrscheinlichkeit des Ersten Weltkrieges dazu geeignet ist, den Ausgangspunkt für eine umfassende Neuinterpretation der Vorkriegsjahre und der Eskalation in der Julikrise darzustellen, muss gerade nach der Lektüre des Sammelbandes offen bleiben. Der mangelnde Konsens über die dem Band vorangestellten Hypothesen macht deutlich, dass sich die untersuchten Entwicklungsstränge der Vorkriegszeit nicht zu einem Gesamtbild vereinen lassen, wenn Wahrscheinlichkeiten ermittelt werden sollen. Einen Konsens zu erreichen war jedoch auch nicht das Ziel der Herausgeber, wie in der Einführung hervorgehoben wird. Das Verdienst des Sammelbandes ist es, ausgewiesene Kenner einer Vielzahl von relevanten Themenbereichen zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges zusammengeführt und eine Diskussionsgrundlage über die Kriegsgründe bereitgestellt zu haben, mit der teleologische und vielfach in die Forschung eingeschliffene Deutungen hinterfragt und durch die erneute Interpretation verschiedener Einzelaspekte aufgebrochen werden können.

Anmerkungen:
1 Wolfgang J. Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918, Stuttgart 2002, S. 22.
2 Sönke Neitzel, Kriegsausbruch. Deutschlands Weg in die Katastrophe 1900-1914, Zürich 2002, S. 196.
3 Vgl. Tagungsbericht An Improbable War. The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914. 13.10.2004-16.10.2004, Atlanta, Georgia (U.S.A.). In: H-Soz-u-Kult, 02.03.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=721>.