Titel
Deutsche Juden in Amerika. Bürgerliches Selbstbewusstsein und jüdische Identität in den Orden B'nai B'rith und Treue Schwestern, 1843-1914


Autor(en)
Wilhelm, Cornelia
Reihe
Transatlantische Historische Studien 30
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Melanie Henne, Lehrstuhl für Nordamerikanische Geschichte, Universität Erfurt

Mit ihrer Arbeit zu den jüdischen Orden „B’nai B’rith“ und „Unabhängiger Orden Treue Schwestern“ in Amerika liefert Cornelia Wilhelm nicht nur eine detaillierte Organisationengeschichte, sondern bietet darüber hinaus vielfältige Anknüpfungspunkte sowohl zur Migrationsforschung, zur Religionsgeschichte, als auch zur amerikanisch-jüdischen Geschichte. Sie vertritt die These, dass „der Orden in den USA dazu beigetragen [hat], eine zivile, ‚säkulare’ jüdische Identität in der bürgerlichen Öffentlichkeit außerhalb der religiös gebundenen Sphäre der Synagoge zu etablieren“ (S. 339). In ihren Analysekapiteln geht Wilhelm chronologisch vor. Dabei arbeitet sie überzeugend insbesondere das bürgerliche Selbstverständnis der Orden sowie verschiedene Phasen ihrer Entwicklung heraus, wobei eine Stärke auch in der detaillierten Schilderung der verschiedenen Strömungen innerhalb der Orden und der daraus resultierenden Meinungsverschiedenheiten liegt. Dies ermöglicht, die Vielschichtigkeit jüdischer Bewegungen aufzuzeigen.

In einem einleitenden ersten Kapitel stellt die Autorin Grundzüge jüdischen Lebens in den USA von 1820-1850 dar und bettet damit die Gründung der Orden in die Migrationsgeschichten deutscher Juden ein. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf den Migrationserfahrungen der „Old immigrants“ und der Fragestellung, wie sie in den USA Gemeinschaft lebten, erste Gemeinden gründeten und ihr Leben organisierten.

Die Gründung des Orden B’nai B’rith 1843 versteht Wilhelm als einen „Ausdruck religiöser Modernisierung“ (S. 47). In ihrem ersten Analysekapitel liegt ein Schwerpunkt auf der Organisationsform des Ordens und seinem Selbstverständnis. Hier werden insbesondere das Logenwesen und die Funktion von Ritualen und das Geheimhaltungsgebot thematisiert. Letzteres bot ethnischen und religiösen Minderheiten einen Schutzraum, in dem demokratische Praktiken erlernt und erprobt werden konnten. Der Orden vertrat aufklärerisches Gedankengut, sah sich dem Prinzip der „Brüderlichkeit“ verpflichtet und verlangte von seinen Mitgliedern einen moralisch tadellosen Lebenswandel und hatte sogar die Entwicklung der Persönlichkeit der Mitglieder als Anliegen. Daraus resultierte auch die Ordensstruktur, die durch ein mehrstufiges System charakterisiert war, innerhalb dessen die Mitglieder je nach persönlichem Entwicklungsgrad aufsteigen konnten. Der Orden erfüllte vielfältige Funktionen: Auf der lokalen Ebene trug er im Wesentlichen zur Netzwerkbildung und Stärkung der jüdischen Community bei, indem er sich auch in sozialen Bereichen engagierte, beispielsweise durch die Gründung eines Witwen- und Waisenfonds. Auf nationaler Ebene wurden auch Fragen zur Organisation des Judentums und seiner Repräsentation diskutiert.

Der Orden B’nai B’rith nahm ausschließlich männliche Mitglieder auf. Den Ehefrauen der Mitglieder war es lediglich gestattet, an sozialen Veranstaltungen teilzunehmen. Dies wurde damit begründet, dass sie zum einen keiner „moralischen Schule bedürften“ (S. 87) und zum anderen nicht die Fähigkeit besäßen, Kritik zu üben, was in den Logen unerlässlich sei. In diesem Kontext untersucht Wilhelm die Entstehung des „Unabhängigen Ordens Treuer Schwestern“ 1846. Der Orden bot jüdischen Frauen einen geschützten Raum, um „Frauen auf ihre öffentliche Rolle vorzubereiten“ (S. 92). Gleichzeitig stellte er ein Unterstützerinnen-Netzwerk auch auf finanzieller Ebene dar.

Im dritten Teil geht Wilhelm der Funktion des Ordens „B’nai B’rith“ als nationale jüdische Organisation nach und beleuchtet dessen Rolle bei der Entstehung einer „bürgerlichen amerikanisch-jüdischen Identität“, die in der Zivilgesellschaft verankert war. Zur Sprache kommt die Entwicklung und Ausbreitung des Ordens auf nationaler Ebene durch Logenneugründungen, wobei die Entstehung eines säkularen jüdischen Netzwerkes nicht zuletzt im Zusammenhang mit der wachsenden Binnenmigration verstanden wird. Die regionale Ausbreitung, stark anwachsende Mitgliederzahlen und die daraus resultierende Demokratisierung stellten die Ordensstrukturen vor neue Herausforderungen. Wilhelm arbeitet hier besonders überzeugend die verschiedenen Strömungen des Ordens heraus, zeichnet Spannungen zwischen den einzelnen Distrikten nach und setzt dies immer wieder in Bezug zu den unterschiedlichen Strömungen der religiösen Reformbewegung im amerikanischen Judentum.

Mit der Gründung der „Union of American Hebrew Congregation“ 1873 entstand auf nationaler Ebene eine zweite jüdische Organisation, die einen Anspruch darauf erhob, das amerikanische Judentum zu repräsentieren. Sie stellte dabei eine explizit religiöse Plattform dar. In diesem Zusammenhang wurde im Orden diskutiert, welche Position dieser als „säkulare jüdische Organisation zwischen religiöser und bürgerlicher Welt im Selbstentwurf einer neuen Judenheit und eines neuen Judentums in Amerika einnehmen könnte und sollte“ (S. 121). In diesem Abschnitt kommt außerdem die Selbstdefinition des Ordens zur Sprache: Wilhelm setzt sich hier detaillierter mit dem schon zuvor erwähnten bürgerlichen Bildungskonzept sowie den unterschiedlichen Sozialeinrichtungen des Ordens auseinander.

Der Entwicklung des „B’nai B’rith“ stellt Wilhelm das Wachstum des „Unabhängigen Ordens Treuer Schwestern“ gegenüber und beschreibt, wie er sich von einem Männergremium, das in der Anfangszeit beratende Funktionen übernommen hatte, emanzipierte. Auch der „Unabhängige Orden Treuer Schwestern“ sah sich demokratischen Prinzipien verpflichtet und hatte das Anliegen, sie seinen Mitgliedern zu vermitteln. Wilhelm kommt zu dem Schluss, dass der Orden den Frauen einerseits neue Handlungsräume eröffnete und eine Plattform darstellte, Formen moderner jüdischer Weiblichkeit zu entwickeln. Andererseits betont sie jedoch auch, dass die Frauen im „Unabhängigen Orden Treuer Schwestern“ dies auf der Basis traditioneller Vorstellungen anstrebten und sich damit von der entstehenden feministischen Frauenbewegung distanzierte, da es ihnen nicht um eine Neudefinition ihrer gesellschaftlichen Stellung oder um politische Partizipation ging.

Im vierten Kapitel sieht Wilhelm den Orden „B’nai B’rith“ in der Phase von 1875-1900 im Umbruch begriffen. Sie konstatiert eine Identitätskrise, die sie nicht zuletzt an Mitgliederverlusten sowie an dem Phänomen der Massenorganisation festmacht. Dabei werden detailliert unterschiedliche Krisenfaktoren berücksichtigt und es wird versucht, sie in Bezug zu den sich wandelnden Beitrittsmotivationen der Mitglieder zu setzen. Auch die Internationalisierung des Ordens kommt hier zur Sprache. Einen weiteren Schwerpunkt stellt die Auseinandersetzung des „B’nai B’rith“ mit der jüdischen Reformbewegung dar. Interessant sind hier auch die Beziehungen zwischen dem „B’nai B’rith“ und dem „Unabhängigen Orden Treuer Schwestern“ im Zusammenhang mit der erneut aufkommenden Diskussion um die Aufnahme weiblicher Mitglieder im „B’nai B’rith“. Im Gegensatz zum „B’nai B’rith“ stellt Wilhelm für den „Unabhängigen Orden Treuer Schwestern“ in diesem Zeitraum eine Phase der Konsolidierung fest und betont dessen Bedeutung für die Entwicklung einer „breiten jüdischen Frauenbewegung“ (S. 292).

In einem fünften, kürzeren Teil wird die Zeitspanne von 1900 bis 1914 behandelt, in der der Orden „B’nai B’rith“ vor der Herausforderung stand, größere Zahlen von osteuropäischen Immigranten zu integrieren. Hier werden insbesondere die Heterogenität des amerikanischen Judentums und die daraus im Orden entstehenden Spannungen deutlich. Osteuropäische Traditionen ließen sich nicht ohne Weiteres in die Ordenstrukturen integrieren, und auch das Selbstverständnis des Ordens als bürgerliche, säkulare Organisation bot vielen osteuropäischen Immigranten nur geringe Identifikationsmöglichkeiten. Zugleich strebte der Orden „sowohl eine Amerikanisierung als auch eine Judaisierung“ (S. 298) der osteuropäischen jüdischen Einwanderer an. Vor dem Hintergrund dieser neuen Massenmigrationsbewegung aus Osteuropa analysiert Wilhelm die Neuausrichtung des „B’nai B’rith“ um 1900, die dem Orden zu neuer Popularität verhalf.

Wilhelms Studie zeichnet sich insbesondere durch ihre detaillierte Analyse umfassender Archivbestände zum „B’nai B’rith“ und den „Unabhängigen Orden Treuer Schwestern“ aus. Diese erlaubt ihr, insbesondere auch die bislang vernachlässigte weibliche jüdische Perspektive in den Blick zu nehmen. Dabei erschließt sie bisher unberücksichtigtes Quellenmaterial, wobei aufgrund der Quellenlage diese Teile wohl weniger umfangreich ausgefallen sind. Stellenweise kommt eine Reflektion der Ergebnisse der Studie in Hinblick auf Theorien zu Migration und Identitätsbildung zu kurz. Wilhelms Studie ist trotz des sehr spezifischen Themas für ein breites Publikum von Interesse, da sie die Entwicklung der Orden „B’nai B’rith“ und „Treue Schwestern“ sowohl in Hinblick auf die jüdisch-amerikanische Geschichte als auch das amerikanische Logenwesen sowie dessen transnationale Bezüge betrachtet und dadurch vielfältige Anknüpfungspunkte an Themenfelder wie die Migrationsforschung oder Religionsgeschichte bietet.

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