Chr. Meyer: Außen- und Sicherheitspolitik der Niederlande

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Titel
Anpassung und Kontinuität. Die Außen- und Sicherheitspolitik der Niederlande von 1989 bis 1998


Autor(en)
Meyer, Christoph
Reihe
Niederlande-Studien Kleinere Schriften 10
Erschienen
Münster 2007: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
€ 13,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Koll, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wirtschaftsuniversität Wien

Die Niederlande gehören in der internationalen Politik nicht zu den ‚global players’. Dennoch blieben sie von den Umbrüchen, die mit dem Fall von Berliner Mauer und Eisernem Vorhang verbunden waren, nicht unberührt. Besonders die Einbindung in transatlantische und europäische Institutionen wie NATO, EG oder die Westeuropäische Union sowie die Nähe zu und die Abhängigkeit von dem größer gewordenen Deutschland zwangen Den Haag seit dem Herbst 1989 dazu, mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Erlöschen der Blockbildung zwischen Ost und West die eigene Außen- und Sicherheitspolitik zu überprüfen. Fühlte man sich veranlasst, die internationale Positionierung der Niederlande konzeptionell neu zu formulieren? Sah man eine Notwendigkeit, sich angesichts des gewandelten weltpolitischen Kontextes von bis dahin gültigen politischen und militärischen Strategien zu verabschieden? Oder war die niederländische Außen- und Sicherheitspolitik seit dem Zusammenbruch des Ostblocks von dem Ziel getragen, traditionelle Orientierungen prinzipiell beizubehalten und lediglich punktuell zu modifizieren? Mit anderen Worten: Schneiderte man in Den Haag ein neues Gewand für die Zeit nach der Wende, oder goss man alten Wein in neue Schläuche?

Schon mit dem Titel „Anpassung und Kontinuität“ gibt Christoph Meyer seine Antwort: Die niederländische Außen- und Sicherheitspolitik des dritten Kabinetts des Christdemokraten Ruud Lubbers (1989-1994) und des ersten Kabinetts des Sozialdemokraten Wim Kok (1994-1998) bewegte sich nach 1989 in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung im Rahmen bewährter Muster, verschob aber in manchen Details Akzente. Was das konkret heißt, untersucht Meyer in dem vorliegenden Band, der aus einer Diplomarbeit am Zentrum für Niederlande-Studien der Universität Münster hervorgegangen ist.

Um die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität angehen zu können, bietet das Buch eingangs einen gerafften und sehr guten Überblick über die wichtigsten Entwicklungen der niederländischen Außen- und Sicherheitspolitik zwischen 1945 und 1989 (Kap. 2). Angesichts des beachtlichen Umfangs, den dieses Kapitel mit seinen 30 Seiten aufweist, wäre es fast berechtigt gewesen, den Untertitel auf den Zeitraum 1945 bis 1998 auszuweiten. Dass man dieser Versuchung widerstanden hat und mit dem Zeitraum 1989 bis 1998 lediglich jene Periode aufgenommen hat, zu der hier eigene Quellenarbeit geleistet wird, ehrt Verfasser und Verlag. Eine solche Bescheidenheit ist für den Buchmarkt geradezu vorbildlich zu nennen.

Für die Zeit des Kalten Krieges unterscheidet Meyer drei Phasen: Erstens gaben die Niederlande zwischen 1945 und 1949 die Neutralitätspolitik, zu der sie 1839 ebenso wie Belgien von den damaligen europäischen Mächten verpflichtet worden waren, auf und integrierten sich vorbehaltlos in den westlichen Teil der bipolaren Nachkriegswelt; in diese Phase fällt auch der Verlust jener Kolonie, die 1949 als unabhängige Republik Indonesien anerkannt wurde. Zweitens galt zwischen 1949 und 1971 in der niederländischen Außen- und Sicherheitspolitik unbestritten der Primat des Atlantizismus, dem letztlich sogar die Europapolitik untergeordnet wurde. Drittens wandte man sich zwischen 1971 und 1989 stärker den europäischen Partnern zu, ohne jedoch die transatlantische Ausrichtung in irgendeiner Weise aufzugeben. Diese drei Phasen zeichnen sich Meyer zufolge im Hinblick auf die Grundlinien niederländischer Außen- und Sicherheitspolitik durch eine ausgesprochene Kontinuität aus: „Alle Regierungen verfolgten unabhängig von ihrer politischen Couleur einen atlantischen Kurs, in dessen Rahmen sie nach der ökonomischen Integration Europas strebten. Beide Aspekte dienten unmittelbar eigenen Interessen [...].“ (S. 52)

In Kapitel 3 wendet sich Meyer dem letzten von drei Kabinetten von Ruud Lubbers zu, das zur Zeit des Umbruchs in Osteuropa amtierte. Charakteristisch für diese Periode waren neben dem Zusammenbruch des Sowjetsystems und der damit einhergehenden Überwindung des Ost-West-Gegensatzes die Vereinigung Deutschlands sowie eine neue Dynamik im europäischen Integrationsprozess, eine Dynamik, die bereits durch die Einheitliche Europäische Akte (1986) vorbereitet worden war und mit dem Vertrag von Maastricht (1992) eine neue Qualität und Intensität erreichte. Als weitere außenpolitische Herausforderungen kamen besonders die Krise um Kuwait und der Beginn des Zerfalls von Jugoslawien dazu. Dass gerade Jugoslawien zu einem Feld für die Teilnahme an Friedensmissionen wurde, hat sich später für das niederländische Kontingent ‚Dutchbat III’ auf unangenehme Weise mit dem Massaker in der UN-Enklave Srebrenica (11. Juli 1995) verbunden.

In Kapitel 4 steht dann das erste Kabinett von Wim Kok auf dem Prüfstand, das im September 1995 die „Nota Herijking Buitenlands Beleid“ vorstellte [Note zur Neuausrichtung der Außenpolitik]. Erste Ansätze zu einer moderaten Neuorientierung hatte es bereits unter dem Außenminister Piet Kooijmans gegeben, der noch unter Lubbers im Januar 1993 auf Hans van den Broeck gefolgt war. Das Kabinett Kok vertiefte dann mit ihrer „Herijkings“-Note die Bereitschaft, eine kontinentalorientierte Europapolitik neben die traditionelle atlantische Sicherheitspolitik zu setzen. Damit verbunden war die Absicht, die EU wie auch die WEU als kontinentaleuropäische Organisationen zu stärken, Entscheidungsprozesse eher bilateral und intergouvernemental als supranational zu gestalten und eigene politische und wirtschaftliche Interessen der Niederlande deutlicher als bisher zu akzentuieren. Doch trotz der hohen Erwartungen, die schon der Begriff „Neuausrichtung“ im Titel der Note suggerierte, stellt Meyer in programmatischer Hinsicht eine „Kontinuität zur Vorgängerregierung“ fest (S. 119); eine neue außenpolitische Strategie des ersten Kabinetts von Wim Kok vermag er nicht zu erkennen. Entscheidender aber ist für ihn noch etwas anderes: Die insgesamt gesehen relativ bescheidenen Ziele, die die Note vom September 1995 unter dem anspruchsvollen Titel einer „Neuausrichtung“ benannte, wurden in der Praxis nicht in dem Maße umgesetzt, wie dies die Note selber nahegelegt hatte. Vielleicht wäre es notwendig, den Betrachtungszeitraum über das Jahr 1998 hinaus zu verlängern, um der historischen Bedeutung der Note gerecht werden zu können. Für den von Meyer gewählten Zeitraum jedoch ist auffällig, dass lediglich im Bereich der Organisation und Finanzierung von Sicherheits- und Außenpolitik nachhaltig Neuerungen durchgeführt wurden; in inhaltlicher Hinsicht dominierte demgegenüber die Fortschreibung traditioneller Ziele, die lediglich hier und da modifiziert wurden.

Die eigentliche Zäsur niederländischer Außen- und Sicherheitspolitik bilden somit nicht die Ereignisse ab 1989, sondern die Jahre ab 1945. Mit der Aufgabe der Neutralität, mit der Neuausrichtung der (von Meyer allenfalls gestreiften) herkömmlichen Kolonialpolitik und mit der Bindung an amerikanische und europäische Partner nach dem Zweiten Weltkrieg wurden damals bereits Grundlagen gelegt, die bis heute entscheidend nachwirken. Während die Revolutionen von 1989-1991 für die Länder des Warschauer Paktes und für die Bundesrepublik Deutschland eine große Bedeutung hatten, haben sie in der niederländischen Außen- und Sicherheitspolitik eher zu graduellen Veränderungen geführt, nicht jedoch zu jener Neuausrichtung, die der anspruchsvoll-weitreichende Begriff der „Herijking“ suggeriert.

Mit seiner Darstellung macht Christoph Meyer die Außen- und Sicherheitspolitik eines weniger großen (oder soll man sagen: mittelgroßen oder gar kleineren) Mitgliedslandes von transatlantischen und europäischen Institutionen für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich. In einer soliden Verbindung von Forschungsliteratur und eigenen Quellenstudien gelingt es ihm, seine These von Anpassung und Kontinuität plausibel zu machen. Dabei berücksichtigt er auch innen- und gesellschaftspolitische Entwicklungen, soweit sie für das Verständnis der niederländischen Außen- und Sicherheitspolitik notwendig sind. Auf diese Weise wird wenigstens am Rande erkennbar, inwieweit parteipolitische Präferenzen Auswirkungen auf die Formulierung von Zielen oder Methoden der Außen- und Sicherheitspolitik gehabt haben. Auch Kompetenzgerangel zwischen dem Premierminister, dem Außen- und dem Verteidigungsminister oder das Fehlen einer klaren Richtlinienkompetenz innerhalb der Regierung werden als Faktoren angesprochen, die Rückwirkungen auf den Prozess der politischen Entscheidungsfindung und -durchsetzung gehabt haben. Ein kleines Kapitel der Zeitgeschichtsforschung ist mit diesem handlichen Buch gefüllt.

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