Titel
Shaky Ground. The Sixties and Its Aftershocks


Autor(en)
Echols, Alice
Erschienen
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
₤ 12,50; $ 17,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Bührer, Institut für Sozialwissenschaften, Technische Universität München

Während die Neue Kulturgeschichte in der Bundesrepublik meist mit schwerstem Theoriegepäck daherkommt, demonstrieren amerikanische Vertreter dieser geschichtswissenschaftlichen Fachrichtung und der benachbarten „Cultural Studies“ - etwa George Lipsitz oder Greil Marcus -, dass es durchaus anders geht, ohne dass darunter gleich der Erkenntnisgewinn leiden muss. Zu diesem Kreis zählt auch die in Los Angeles lehrende Alice Echols, die bei uns bereits mit einer Biografie über Janis Joplin in Erscheinung getreten ist. Einen repräsentativen Überblick über das Spektrum an Themen, mit denen sie sich bisher beschäftigt hat, vermittelt dieser Sammelband, der etwa zur Hälfte bereits an anderer Stelle veröffentlichte Aufsätze enthält, die jedoch in ihrer Mehrzahl für den Nachdruck überarbeitet wurden.

Die insgesamt 15 Beiträge hat die Autorin zu drei Themenkomplexen zusammengefasst: Im ersten rekapituliert sie die soziokulturellen Bewegungen im Amerika der „Sixties“ und deren Ursprünge und Vorläufer in den 50er Jahren und verknüpft damit einige Überlegungen, wie das Jahrzehnt neu „kartographiert“ und damit vollständiger als bisher erfasst werden könnte. Die Texte des zweiten Teils befassen sich mit den Themen Feminismus, „sexuelle Freiheit“ und „Identitätspolitik“ und spiegeln in erster Linie die entsprechenden inneramerikanischen Debatten wider. Zum Abschluss widmet sich Echols der „popular culture“, insbesondere der Popmusik, angefangen vom Siegeszug der Diskomusik in den siebziger Jahren über Funk bis zum musikalische Grenzen überschreitenden Folk-Rock-Jazz Joni Mitchells. Ihre Aufmerksamkeit gilt dabei vor allem dem soziokulturellen und mentalen Wandel, der in bestimmten Musikstilen seinen Ausdruck fand.

Für die Diskussion in der Bundesrepublik sind die Aufsätze des ersten Themenblocks zweifellos am interessantesten, zumal die einschlägige Forschung die kulturelle Dimension der sechziger Jahre gerade zu „entdecken“ beginnt. 1 Die amerikanische Kulturhistorikerin begann nämlich schon vor einigen Jahren damit, den Blick nicht nur auf die politischen Bewegungen zu richten, sondern die Gegenkultur in die Geschichte dieses Jahrzehnts zu integrieren und zu entmystifizieren. Davon zeugen Arbeiten über die Hippie-Gegenkultur in San Francisco, über die Ursprünge etwa der Bürgerrechtsbewegung und des Feminismus unter der Eisenhower-Regierung, über den Zusammenhang zwischen „Frauenbefreiung“ und politischem Radikalismus in den Sechzigern sowie vor allem ihre Vorschläge für ein „remapping of the sixties“.

Eine solche „Neuvermessung“ müsste nach Echols’ Ansicht unter anderem eine „narrative Dezentrierung“ der Neuen Linken zur Folge haben, die „Frauenbefreiung“ als Inbegriff eines „sixties movement“ anerkennen, den Radikalismus der sechziger Jahre in die Entwicklung der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg einbetten, also beispielsweise nach dem Verhältnis zwischen offiziellen und oppositionellen Diskursen und der „popular culture“ fragen, und schließlich die Rolle der Geschlechterbeziehungen in den Umbrüchen der sechziger Jahre stärker betonen. Verschiedentlich weist sie dabei auf die Anfänge mancher der bislang als charakteristisch für diese Dekade wahrgenommenen Strömungen und Tendenzen in den Fünfzigern hin – eine Diagnose, die in der Forschung zur Bundesrepublik ebenfalls mehr und mehr Unterstützung findet. Allerdings warnt Echols vor einer auch hierzulande neuerdings zu beobachtenden Neigung, die Unterschiede einzuebnen, und lässt keinen Zweifel daran: „...although the fifties gave rise to the sixties in all sorts of unexpected ways, the fifties weren’t the sixties“ (S. 60).

Gänzlich neues Terrain betritt Echols mit ihrer Analyse der Disko-Welle in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Sie macht nicht nur auf deren Ursprünge in der „gay community“ und in der afro-amerikanischen Subkultur aufmerksam, sondern erklärt daraus zum Teil auch die Ablehnung, die diese zunächst ausschließlich „schwarze“ Musikrichtung in der männlich und „weiß“ geprägten Rockszene erfuhr: „Feminism and gay liberation also threatened to turn the world upside down in the ‚70s“ (S. 164) – und dies vor dem Hintergrund wachsender wirtschaftlicher Probleme und einer damit verbundenen Verunsicherung im Arbeitermilieu. Selbst einstige Anhänger progressiver oder radikaler Gruppen reagierten zwiespältig auf diese neuen Strömungen, die ihre politische und kulturelle Hegemonie gefährdeten: Die Disko-Welle, so das überraschende Fazit, sprach somit vor allem jene an, die nicht in die Rock-Kultur der Sechziger integriert waren: Minderheiten, Homosexuelle, Frauen.

Obgleich der Sammelband auch einige schwächere Arbeiten enthält und mitunter doch zu stark auf die Entwicklungen in den USA fixiert bleibt – insgesamt besticht er durch eine Fülle anregender Überlegungen, die für die Forschung über „1968“ und die sechziger Jahre in der Bundesrepublik durchaus von Nutzen sein können. Insbesondere die bislang nur in Ansätzen praktizierte Untersuchung gegen- und subkultureller Phänomene, wie sie etwa Kaspar Maase und Uta G. Poiger für die fünfziger Jahre vorgelegt haben 2, verspricht gerade für das nachfolgende Jahrzehnt neue Erkenntnisse über Dimensionen und Wirkungsweisen der „kulturellen Revolution“.

Anmerkungen:
1 Vgl. den „Forschungsbericht 1968“ in H-Soz-u-Kult vom 12.12.2002.
2 Vgl. Kaspar Maase, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992; Uta G. Poiger, Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley 2000.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension