Cover
Titel
Voices in Ruins. West German Radio Across the 1945 Divide


Autor(en)
Badenoch, Alexander
Erschienen
Hampshire 2007: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Ulrich Wagner, Forschungsstelle Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland, Hans-Bredow-Institut für Medienforschung, Hamburg

Forschung zum Rundfunk in Westdeutschland in der Nachkriegszeit – das bedeutete über viele Jahre hinweg institutionsgeschichtliche Arbeiten, die der Übernahme und Weiterentwicklung eines neuen Rundfunksystems in der alliierten Besatzungszeit und in den Jahren der Adenauer-Republik nachspürten. Kontinuitäten über den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ hinweg zeigten sodann Studien zu den Mitarbeitern an den Sendern auf. Im Einzelnen geschah dies in kommunikatorgeschichtlichen Fallstudien, übergreifend verband 2006 Christina von Hodenberg dies mit der Frage nach der Rolle der westdeutschen Journalisten in ihrer Studie zur schrittweisen Herausbildung einer neuen westdeutschen Medienöffentlichkeit.1 In den 1980er- und 1990er-Jahren kamen programmgeschichtliche Arbeiten hinzu, die erstmals Programmstrukturen und größere Mengen an Programmangeboten auch daraufhin untersuchten, welche Sinn- und Orientierungsangebote, welche sprachlichen Verständigungsregeln und Interpretamente dem Publikum für zentrale Fragen dieser Nachkriegsjahre gegeben wurden. Herangehensweisen vor dem Hintergrund der deutschen Kulturwissenschaften oder der angloamerikanischen cultural studies vermisst man in dieser deutschen Forschungstradition weitgehend – Studien mit solchen Ansätzen richteten sich bislang fast ausschließlich auf den Rundfunk im „Dritten Reich“ und in der DDR.2

Auf diese Forschungslandschaft trifft eine Publikation, die 2008 im britischen Verlag Palgrave Macmillian erschienen ist und die dieser Tage von der International Association for Media and History (IAMHIST) mit einem der alle zwei Jahre vergebenen Preise ausgezeichnet wird. Alexander Badenochs „Voices in Ruins“ ist eine instruktive Studie zur Rolle des Radios in den ersten Nachkriegsjahren in den westlichen Besatzungszonen, die in vielerlei Hinsicht anregend für die deutschsprachige Medien- und Zeitgeschichtsforschung sein dürfte. Badenochs kompakt erzählte und kurzweilig zu lesende Darstellung basiert auf seiner Dissertation, die – unter dem Titel „Echoes of Days: Reconstructing National Identity and Everyday Life in the Radio Programmes of Occupied Western Germany 1945-1949“ – im September 2003 an der University of Southampton angenommen und für die Buchveröffentlichung überarbeitet und erweitert worden ist.3 Damit legt der amerikanische Medienhistoriker Badenoch, der mittlerweile in Utrecht (Niederlande) lehrt, seine Erkenntnisse nun systematisch vor.

Seine Ausgangsfrage gilt den zentralen „collective narratives“ (S. 5) der westdeutschen Gesellschaft, an deren Herausbildung das Leitmedium Rundfunk entscheidend beteiligt ist. Das Radio versteht er als einen „mediator“, das zum einen „collective frameworks of time and space“ liefert, zum anderen fest in der alltäglichen Lebenswelt der Nutzer verankert ist: „at issue are not immediate, but mediated experiences and spaces“ (S. 2). Es geht Badenoch um das Zusammenspiel von privat und öffentlich, von „practices of everyday life“ (S. 1) und „national stories“ (S. 220) und somit um „the dominance of a medium that both transgresses and helps to define such boundaries had profound implications for the way Germans came to imagine themselves and the nation(s) that would emerge“ (S. 1). Damit ist sein Anspruch hoch gesteckt, nämlich ein Beispiel für eine „long-term history of broadcasting“ (S. 233) vorzulegen und eine Fallstudie zur medienvermittelten raum-, zeit- und genderbezogenen Identitätsbildung zu geben.

Wie löst der Autor dies ein? Das Zentrum des Buches bilden – gerahmt von einem einleitenden Essay und einer Zusammenfassung der wichtigsten Thesen – vier Studien. Die erste ist übertitelt mit „Echoes of Days: Finding Everyday Between Exception and Routine“ (S. 34-78) und führt in die strukturbildende Macht dieses Massenmediums ein. Kästchenprogramme rhythmisierten vor und nach 1945 den Alltag und sie verbanden die eigenen Routinen mit der Welt draußen. Den ‚Radio Times’ kam eine synchronisierende Kraft zu; nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und inmitten einer Welt der Zerstörung aber konnten sie vor allem eines leisten, einen Zustand der Normalität zu vermitteln. Dies zeigt Badenoch insbesondere anhand der Funktion der ganze Programmstrecken füllenden Unterhaltungsmusik auf, die er als „a sign of stability“ (S. 65) und als Anschluss an eine „pre-war normality“ (S. 69) interpretiert. Studie Nummer 2 begibt sich auf die Spuren der Stimmen, der Repräsentationen von Persönlichkeiten im akustischen Medium Radio. Unter der Überschrift „Familiar Voices: Representations of Personalities and Pasts” (S. 79-122) werden nacheinander „legitimacy”, „authenticity” and „familiarity” untersucht – Werte, die diese Stimmen im Äther beanspruchten und bei ihren Hörern offensichtlich auch erreichten. Anhand einer Fülle von Dokumenten macht Badenoch deutlich, wie das akustische und rhetorische Auftreten der Radiostimmen dazu diente, konsistente Persönlichkeiten vorzustellen: „Implicitly and explicitly, representations of personalities on the radio formed an important site where narratives of ‚normal’ German identities were produced and contested.“ (S. 80) Nicht ohne Grund wurde in den Nachkriegsjahren das technische Instrument des Mikrophons als „Detektiv der inneren Wahrheit“ interpretiert.

Mit der dritten Studie „Time Consuming: Adressing a Nation of Women” (S. 123-161) behandelt der Autor ausführlicher das Gender-Thema und spürt sowohl „a woman’s place“ als auch „a woman’s time“ nach. Aber nicht nur die Frauen als Adressat spezieller Zielgruppenprogramme sind damit gemeint, sondern es geht ihm um den Versuch, die Familie als zentralen Bezugspunkt von Normalität zu vermitteln. Badenoch arbeitet dabei heraus, wie Frauen vielschichtig als Akteure sowohl in öffentlichen als auch in privaten Räumen gezeigt werden, wie ihre Tätigkeiten als wichtig für die Gesellschaft vorgestellt werden und wie anhand des neuen Frauenbildes von der klugen Konsumentin gleichzeitig ein zentrales nationales „narrative“ vermittelt werden konnte. Die letzte der vier Studien widmet sich schließlich räumlichen Bezügen der Identitätsbildung. In „Re-placing the Nation: Between Home Service and Heimat” (S. 162-218) verfolgt Badenoch vor allem die Herausbildung von regionalen Identitäten und tritt damit der bisherigen Auffassung entgegen, wonach die Sender unter westalliierter Kontrolle keine oder nur wenige auf den Kulturraum bezogenen Sendeangeboten vermittelt hätten. Im Gegenteil diente ein nicht geringer Teil des Programms dazu, anti-nationalistisch zu argumentieren und möglichst nahe an das Bezugsfeld des Publikums heranzukommen. Dass angesichts der weit verbreiteten Erfahrungen von Entwurzelung, Heimkehr, Vertreibung und Flucht neue Images von „Heimat“ aufgestellt werden mussten, wird an den zentralen Chiffren von „home“ und „family“ deutlich, an deren Vermittlung sich das Medium Radio maßgeblich beteiligte. Anknüpfend an die deutsche Entwicklung des Rundfunks in Form von regionalen Sendegesellschaften etabliert sich das Nachkriegsradio als „voice of the Heimat“ (S. 27), freilich mit frappierenden Unterschieden, was den Heimat-Begriff in der Weimarer Zeit, im „Dritten Reich“ und während des Krieges anbelangt. Für die Jahre nach 1945 formuliert Badenoch: „The notion of Heimat integrates geographically and culturally distinct places by creating a sense of a common past that makes an integrated present seem natural.“ (S. 30)

Der Autor hat während seiner zahlreichen Forschungsaufenthalte in Deutschland eine stupende Fülle von Material zusammengetragen, darunter Sendemanuskripte und Tonträger, zeitgenössische programmatische Aussagen und Interviews, aber auch scheinbar nebensächliche Quellen wie beispielsweise die Texte der Rubrik „Den möcht’ ich sehen“ in der Programmzeitschrift „Hör zu!“. Aus diesen Mosaiksteinen konturiert er Schritt für Schritt miteinander zusammenhängende Themen und begibt sich solchermaßen interessegeleitet auf die Spur seiner Leitthese von der Normalität in Zeiten der Krise und der Brüche. Dass der Leser dies im Einzelnen nachvollziehen kann und dass hier sehr unterschiedliche Quellen miteinander in Beziehung gebracht werden, stellt die große Leistung dieses Buches dar. Bei dieser anregenden Lektüre fällt freilich der Umstand auf, dass theoretische Überlegungen in der vorliegenden Publikation in den Hintergrund getreten sind. Vermutlich bewusst führt Badenoch Reflexionen auf Methoden und Ansätze in dieser Darstellung nicht ausführlicher aus. So zentrale Begrifflichkeiten wie Narrative/„narratives“, kollektives Gedächtnis/„collective memories“, Repräsentationen/„representations“ und medienvermittelte Identitätsbildung werden theoretisch im Einzelnen nicht näher entfaltet, obwohl die Bibliographie (S. 267-280) viele Publikationen gerade auch der angloamerikanischen Forschungstradition nennt. Dies sollte ein entsprechender Aufsatz einmal nachholen.

Noch ein abschließendes Wort zur Buchgestaltung. Der Verlag legt die Publikation mit festem Einband vor, mit einem lesefreundlichen Satzspiegel und etlichen Abbildungen. Wie viel Überlegungen Autor und Verlag angestellt haben, verdeutlicht das Titelcover. Es zeigt einen Reporter, der 1946 einen Verkehrspolizisten mit einem der charakteristischen Flaschenmikrophone interviewt. Der Schutzmann, ein staatlicher Repräsentant, weist den Weg, doch dieser führt, wie das Verkehrsschild hinter ihm zeigt, in eine „Einbahnstrasse“. Durch diesen Schnappschuss allein wird man schon angeregt zu fragen, ob der Rundfunk helfen wird, auch andere Orientierungen anzubieten – und damit ist man mitten im Buch.

Anmerkungen:
1 Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006; vgl. die Rezension von Marcus M. Payk, in: H-Soz-u-Kult, 15.08.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-114>.
2 Inge Marßolek / Adelheid von Saldern (Hrsg.), Zuhören und Gehörtwerden. Zwischen Lenkung und Ablenkung. I. Radio im Nationalsozialismus. II. Radio in der DDR der fünfziger Jahre, Tübingen 1998.
3 Einige zentrale Aspekte daraus liegen auch schon in zwei Aufsätzen vor: Alexander Badenoch, Making Sunday what it actually should be: Sunday radio programming and the re-invention of tradition in occupied Germany 1945-1949, in: Historical Journal of Film, Radio and Television 25 (2005), No. 4, S. 577-598; ders., Time consuming: Women’s radio and the reconstruction of national narratives in Western Germany 1945-1948, in: German History 25 (2007), No. 1, S. 47-71.

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