M. Hochgeschwender: Amerikanische Religion

Titel
Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus


Autor(en)
Hochgeschwender, Michael
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Insel Verlag
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uta Andrea Balbier, Deutsches Historisches Institut Washington, DC

Einige Auswüchse des amerikanischen Protestantismus stoßen im aufgeklärten, seinem Selbstverständnis nach so säkularen Europa auf intellektuelles Naserümpfen: In den so genannten Megachurches kommen sonntäglich Tausende von Gläubigen zusammen und konsumieren multimediales, religiöses Entertainment. Die Kreationisten schaffen eigene Erlebnisparks und Museen, in denen sie die Erschaffung der Erde in sechs Tagen nachstellen und die Evolutionstheorie zu widerlegen versuchen. Auch die aggressive politische Rhetorik der Religiösen Rechten löst jenseits des Atlantiks mehrheitlich Unverständnis und Unbehagen aus.

Tatsächlich sagen diese Phänomene jedoch nur wenig über die spezifische amerikanische Religiosität aus. Sie erklären weder die erstaunlich hohe Zahl von Kirchbesuchen in den USA im Vergleich zu Europa noch die eigentümliche Dynamik einer Religiosität, die das Paradigma der Koppelung von Moderne und Säkularisierung aufzulösen scheint. Nun ist ein beeindruckender Essay erschienen, der die Geschichte des amerikanischen Protestantismus jenseits seiner allzu aufsehenerregenden Extreme erzählt. Michael Hochgeschwender geht es darum, die Genese des amerikanischen Protestantismus im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Transformationskrisen, nationaler Identitätsbildung und marktwirtschaftlicher Selbstkommodifizierung im Kontext der Moderne nachzuzeichnen. Auf faszinierende Weise erzählt er die Geschichte einer Religion, die sich ständig zum Wandel politischen Denkens, zur Veränderung wirtschaftlicher Dynamiken und kulturellen Strömungen positioniert. Diese Religion ist zwar immer system- und marktkonform, aber sie bringt auch eigene Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung und politischer Partizipation hervor. Sie ist von dem Anspruch getragen, die Moderne mit zu gestalten – und es gelingt ihr erstaunlich oft.

Hochgeschwender wählt einen kultur- und gesellschaftshistorischen Zugang, der den Protestantismus nicht in erster Linie in dem die Forschung dominierenden Feld von Religion und Politik verortet, sondern in weiteren gesellschaftlichen und vor allem intellektuellen Zusammenhängen. Diesen Ansatz führt er in seinem einleitenden Kapitel aus. Dort bietet er auch eine klare Definition von Evangelikalismus, Fundamentalismus und Pfingstlertum, die auf eine politische Stigmatisierung dieser Gruppen verzichtet. Hochgeschwender geht es vielmehr um Glaubensinhalte und Glaubenserfahrung, um religiöses und politisches Selbstverständnis, deren Entwicklung und Wandel er in den folgenden, chronologisch geordneten Kapiteln nachspürt. Nach einem Exkurs zur Geschichte der Black Church und des Pfingstlertums verknüpft er seine Ergebnisse im abschließenden Kapitel unter der bezeichnenden Titelüberschrift: „Am Ende eines langen Weges“. Der rote Faden des Essays spinnt sich um die großen Erweckungsbewegungen der amerikanischen Religionsgeschichte, die das Land wellenartig erfassten, und die Frage danach, wie sich der amerikanische Protestantismus in diesem Zusammenhang veränderte und sukzessive von seinen europäischen Wurzeln entfernte.

Hochgeschwender beginnt seine „historische Erzählung“ – wie er sie selbst nennt − mit der Frage nach dem Aufstieg und Fall der Puritaner im zweiten Kapitel. Hier zeigt er, auf welche Weise und unter welchen Bedingungen sich in den puritanischen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen religiöses und politisches Denken verknüpfte. Das puritanische Erbe der USA sieht er dabei in dem Export der englischen parlamentarischen und insbesondere der rechtlichen Tradition in die neue Welt.

Im dritten Kapitel kennzeichnet Hochgeschwender die Herausforderung der puritanischen Tradition durch eine erste Erweckungsbewegung, die in den 1730er- und 1740er-Jahren die Kolonien erschütterte. Die Erweckungsprediger, die ersten Evangelikalen, predigten eine persönliche, spirituelle Religiosität. Sie waren zudem staatsunabhängig und antielitär und ihr Gedankengut half, der Amerikanischen Revolution in den 1770er-Jahren den Weg zu bereiten. Der Evangelikalismus lehnte zudem das Staatskirchentum ab und fand damit seinen Schulterschluss mit den aufgeklärten Staatsgründern, welche im Ersten Verfassungszusatz die strikte Trennung von Staat und Kirche festschrieben.

Das vierte Kapitel fokussiert auf den nächsten Entwicklungsschub im amerikanischen Evangelikalismus, der im Zuge der zweiten großen Erweckungsbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts stattfand. Die Erweckungsprediger betonten nun gemäß dem Fortschrittsoptimismus ihrer Zeit die soziale Gestaltungskraft der Religion. Außerdem söhnten sie die Religion mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem aus: Sie predigten nicht länger Armut und Zurückhaltung, sondern deklarierten den Erwerb von Wohlstand als erstrebenswert. Diese Verbindung von Religion, demokratischem Engagement und Marktkonformität gab dem Evangelikalismus ein genuin amerikanisches Gesicht.

Das fünfte Kapitel befasst sich mit der Erweckungswelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die mit dem protestantischen Fundamentalismus einen neuen religiösen Akteur die gesellschaftliche Bühne der USA betreten ließ. Der Fundamentalismus entstand aus theologischen Debatten um die Interpretierbarkeit der Bibel sowie aus einem antizipierten Verlust protestantischer Deutungsmacht über eine zunehmend entdifferenzierte und entzauberte Welt. Das antielitäre Erbe der früheren Erweckungsbewegungen verband sich in ihm mit einem scharfen Antiintellektualismus, der sich besonders im populären Kampf gegen die Evolutionstheorie widerspiegelte.

Nach dem Abflauen der ersten fundamentalistischen Erweckung Mitte der 1920er-Jahre, trat erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts − stimuliert durch die liberalen Supreme Court Urteile der Jahre zwischen 1962 und 1973 – eine weitere, neofundamentalistische Erweckungsbewegung hervor. Hochgeschwender zeigt in seinem sechsten Kapitel, wie sich diese religiöse Strömung in den so genannten „cultural wars“ zum politischen Akteur wandelte und sich eindeutig in den Dienst der Republikanischen Partei stellte. Damit entfernte sie sich von ihrem anti-etatistischen, evangelikalen Erbe und steuerte in eine religiöse Sackgasse, so Hochgeschwenders Argument: Als politischer Handlanger der Republikanischen Partei gewann der Neofundamentalismus nie unabhängiges Gestaltungspotential.

Der Frage, wer die evangelikale Szene zukünftig wieder mit spirituellem Leben füllen könnte, geht der Autor in seinem siebten Kapitel nach. Hier stellt er zwei alternative Sonderwege des amerikanischen Protestantismus vor: die Black Church und das Pfingstlertum. Hochgeschwender kennzeichnet die Black Church als in einem Spannungsfeld aus sozialem Engagement und moralischem Konservatismus gefangen. Zudem weist er auf die Strukturkrise der Black Church hin, deren Mitglieder parallel zu ihrem sozialen Aufstieg häufig zum „weißen“ Mittelklasse-Evangelikalismus überlaufen. Viel höher schätzt er demgegenüber das zukünftige Gestaltungspotential des Pfingstlertums ein. Dies ist mit der Betonung der individuellen Spiritualität und medialen Inszenierbarkeit nicht nur eine durch und durch amerikanische Religion, sondern hat sich weit über Südamerika hinaus bereits als Religion der Globalisierung bewiesen.

Teilweise ist der Weg, den man an Michael Hochgeschwenders Seite in das Herz des amerikanischen Protestantismus beschreitet, beschwerlich. Der Autor – selbst nicht nur Kulturhistoriker, sondern auch Theologe – gibt ein zügiges Marschtempo vor. Der Facettenreichtum des Essays, der ebenso sicher durch theologische Kontroversen, politische Theorie, die Spezifika der amerikanischen politischen Wirtschafts- und Populärkultur führt, lässt die Leserin teilweise außer Atem geraten. Doch wer sich auf Hochgeschwenders Schrittgeschwindigkeit einlässt, gewinnt viel. Der Essay besticht vor allem durch die Verbindung von aufgeklärter Intellektualität und Hochachtung vor Religiosität, die sich keineswegs ausschließen müssen. Mit dieser Haltung liegt er ganz auf der Linie seines Verlagshauses, dem neugegründeten Verlag der Weltreligionen. Hochgeschwenders offene Anerkennung für den Anspruch des Evangelikalismus, die Moderne mit zu gestalten, für seine Dynamik und sein gesellschaftliches und kulturelles Schaffenspotential im 19. Jahrhundert verbindet sich mit einer ebenso deutlichen Kritik an den intellektuellen Defiziten der Kreationisten, an der widersprüchlichen Verbohrtheit der Neofundamentalisten, die zwar die Abtreibung ablehnen, die Todesstrafe jedoch befürworten, und an der Bigotterie und Homophobie vieler Evangelikaler des 20. Jahrhunderts. Es ist auch diese ungeschönte politische Bissigkeit, die diesen Essay so faszinierend, inspirierend und lesenswert macht. Wer zukünftig über amerikanische Religiosität mitreden will, wird an diesem Essay nicht vorbeikommen.

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