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Titel
Metropole und Verbrechen. Die Gerichtsreportage in Berlin, Paris und Chicago 1919–1933


Autor(en)
Siemens, Daniel
Reihe
Transatlantische Historische Studien 32
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
444 S.
Preis
€ 54.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Behrends, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die Öffentlichkeit in der Metropole der Zwischenkriegszeit steht im Mittelpunkt der Studie von Daniel Siemens, der den Rahmen des Vergleiches weit steckt: mit Berlin, Paris und Chicago als Fallstudien unternimmt er den Blick über die Grenzen der europäischen Geschichte hinaus und begibt sich auf das transatlantische Parkett. Dabei beschäftigt er sich sowohl mit der Mediengeschichte – der Tagespresse als lokaler Instanz – als auch mit der Frage, wie die Arbeit der Justiz in den verschiedenen Gesellschaften wahrgenommen wurde. Siemens interpretiert die Gerichtsberichterstattung als Teil einer Inszenierung von Gerechtigkeit, die auch dazu diente, die moralische Ordnung der Metropole wiederherzustellen bzw. zu bestätigen. Um das umfangreiche Material aus der Hochzeit des Zeitungswesens zu bewältigen, hat sich der Verfasser einige auflagenstarke „Qualitätszeitungen“ ausgewählt, in denen er wiederum die Berichterstattung über ausgewählte Kriminalfälle verfolgt. Die Studie ist jedoch weit mehr als eine vergleichende Geschichte der Gerichtsreportage in drei faszinierenden Metropolen. Es handelt sich vielmehr um einen hervorragend recherchierten, flüssig geschriebenen und in der Interpretation weiterführenden Beitrag zu einer Geschichte der Hochmoderne.

Im Anschluss an die Einleitung bespricht der Verfasser die Entwicklung der Gerichtsberichterstattung in der Tagespresse seiner drei Vergleichsfälle. Er bezeichnet sie als zentrales Genre, das jedoch nach nationalen und lokalen Traditionen stark variierte. Deutsches Feuilleton, amerikanische news und französische faits divers prägten den jeweils eigenen öffentlichen Umgang mit Gerichtsverfahren. Während die Presse in Chicago und Berlin sensationsverliebt war, blieb die Berichterstattung in Paris sachlicher geprägt. Diese unterschiedlichen Traditionen gingen mit einer eingeschränkten gegenseitigen Wahrnehmung einher. Obwohl Sensationsprozesse die Öffentlichkeit in Berlin und Chicago oft dominierten, blieben sie doch vornehmlich lokale Medienereignisse. Weiterhin untersucht Daniel Siemens die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Justiz in der Presse gestaltete. Dabei gelingt es ihm zu zeigen, dass die Berliner Presse sich in besonderem Maße als Kritiker der Justiz zu profilieren verstand. Während in Berlin Justizreformen in der liberalen Presse angemahnt wurden, beschränkte sich ein Teil der Chicagoer Berichterstattung bereits darauf, wieder law and order zu fordern. In transatlantischer Perspektive zeigt sich hier die Ungleichzeitigkeit der Reformbewegungen und ihrer Unterstützung durch die Öffentlichkeit. In Chicago, zu Beginn des Jahrhunderts ein Zentrum innovativer Justizreform, war vor dem Hintergrund der Kriminalitätswelle der zwanziger Jahre die Forderung nach Repression wieder populär. Der Autor betont, dass eine „Vertrauenskrise“ in die Justiz ein spezifisches Phänomen der Weimarer Gesellschaft war, wobei unklar bleibt, ob dies auch über Berlin hinaus zu belegen wäre.

Im vierten Abschnitt seiner Studie diskutiert der Verfasser die Einflüsse von Kriminologie, Psychiatrie und Eugenik auf den öffentlichen Diskurs. Es handelt sich um ein Jahrzehnt, in dem die Psychologie gegenüber der Justiz an Deutungsmacht gewann. Auf der Basis ihrer vermeintlichen Erkenntnisse artikulierten Eugeniker und Kriminologen weitreichende Forderungen. Die Hoffnung auf eine „wissenschaftliche“ Zurückdrängung von Kriminalität war weit verbreitet. Trotz verschiedener Überschneidungspunkte stellt der Autor die Differenzen der nationalen Diskurse heraus, so wurde beispielsweise die forensische Psychiatrie national recht unterschiedlich wahrgenommen. Deutlich streicht er heraus, dass von einer besonderen Affinität der deutschen Öffentlichkeit zu radikalen kriminalbiologischen oder eugenischen Positionen keine Rede sein könne. Vielmehr wird betont, dass es allgemein im Westen eine „Kultur der Eugenik“ gegeben habe, die jedoch in Berlin nicht ausgeprägter war als in Paris oder Chicago. Außerdem stellt Siemens fest, dass eugenische Positionen im Umgang mit Verbrechen vergleichsweise marginalen Status hatten: Es handelte sich klar um Minderheitenpositionen.

Schließlich wird im vierten Abschnitt des Buches das Medienspektakel sensationeller Mordprozesse untersucht. Siemens führt aus, dass die Sensationsprozesse in seinem Untersuchungszeitraum solche Verfahren waren, bei denen die Öffentlichkeit Schwierigkeiten hatte, das Geschehen zu verstehen. Es handelte sich in der Regel um Täter aus der Oberschicht, deren Motive im Dunkeln blieben. Sie boten die Möglichkeit, die Rolle des Individuums in der modernen Gesellschaft zu problematisieren. In Chicago und Berlin erreichte die Prozessberichterstattung eine Intensität, die in Paris nicht zu beobachten war. Hier bleibt die Frage offen, warum in der deutschen und amerikanischen Metropole eine weitaus größere Affinität für den Kitzel der Kriminalität bestand als in Paris.

Abschließend widmet sich die Untersuchung den crimes passionels amoureux. Auch hier handelte es sich um ein bedeutendes Thema großstädtischer Öffentlichkeiten. Leidenschaftlich diskutierten die Zeitgenossen den Zusammenhang zwischen Liebe, Gewalt und öffentlicher Ordnung. Zugleich ließen sich anhand der vorgestellten Fälle die Änderungen im Verhältnis zwischen den Geschlechtern thematisieren. Der rasche Wandel zur Moderne erforderte es, dass die Grenzen der Selbstverwirklichung im privaten Bereich neu verhandelt wurden. Siemens’ Studie zeigt, dass diese Fragen in unterschiedlichen nationalen Kontexten relevant waren. Er stößt damit auf das Terrain einer Geschichte der Hochmoderne vor, die für unterschiedliche Ausprägungen moderner Entwicklungen offen ist, aber vornehmlich die gemeinsamen Herausforderungen im Auge behält. Diese Perspektive macht der Verfasser auch in seinem Resümee stark: letztlich seien nicht die lokalen Konflikte – wie der Diskurs über „politische Justiz“ in Berlin oder das gangland im Chicago der Prohibition – von übergeordnetem Interesse. Vielmehr sei es möglich gewesen, anhand des Themas zu zeigen, wie Metropolen in unterschiedlichen politischen und kulturellen Kontexten gesetzliche und moralische Normen öffentlich verhandelten. Daniel Siemens betont, dass keine deutsche Sonderentwicklung im Umgang mit Verbrechen festzustellen sei. Dies allein ist ein herausragender Befund. So ist es gelungen, auf der Grundlage einer vergleichenden Studie zum Umgang mit Verbrechen in der Metropole Detlev Peukerts Paradigma der „Krisenjahre der klassischen Moderne“ in neues Licht zu tauchen.

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