E. Mändl Roubíčková: "Langsam gewöhnen wir uns an das Ghettoleben"

Cover
Titel
"Langsam gewöhnen wir uns an das Ghettoleben". Ein Tagebuch aus Theresienstadt, herausgegeben von Veronika Springmann und Wolfgang Schellenbacher


Autor(en)
Mändl Roubíč ková, Eva
Erschienen
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Juliane Brauer, Potsdam

„Ich habe nie daran gedacht, mein Tagebuch zu veröffentlichen. In Theresienstadt war ich oft so voll von Eindrücken, dass ich mich einfach jemanden anvertrauen musste“ (S. 10), schrieb Eva Mändl Roubíčková im Vorwort zu ihrem nach mehr als 60 Jahren publizierten Tagebuch. Auch wenn Roubíčková daran zweifelt, dass ihre Aufzeichnungen heute noch von Interesse seien, so sind es genau solche Tagebücher, die mit ihren genauen Beobachtungen alltäglichen Geschehens unverzichtbar sind, um Mechanismen von Ausgrenzung und Stigmatisierung zu begreifen, um Einblick in den ansonsten so schwer zugänglichen Kosmos nationalsozialistischer Lager zu bekommen. Lange lagen und liegen solche authentische Zeugnisse im Verborgenen. Heute, da es kaum mehr lebende Zeitzeugen gibt, wird es umso vordringlicher, diese Aufzeichnungen sowohl dem interessierten Laienpublikum als auch den historisch Forschenden zugänglich zu machen. Darin ist das Verdienst der Herausgeberin Veronika Springmann zu sehen.

Eva Mändl Roubíčková stammt aus einer deutschsprachigen jüdischen Familie, die bis zum Münchner Abkommen im September 1938 im Sudetenland lebte und anschließend in Prag versuchte, ein neues Leben aufzubauen. Sie war fast zwanzig Jahre alt, als sie mit ihren Aufzeichnungen begann. Das Tagebuch ist in zwei Teile untergliedert. Vom 1. Januar 1941 bis zum Abtransport nach Theresienstadt am 16. Dezember 1941 dokumentierte Roubíčková die alltäglichen Bemühungen ihrer Familie und Bekannten, im von den Deutschen besetzten Prag Fuß zu fassen. Der zweite, weitaus umfangreichere Teil umfasst ihre Zeit im sogenannten Ghetto Theresienstadt. Die Aufzeichnungen enden am 5. Mai 1945 mit einem „Schluss! Konec!“ (S. 207). Roubíčková schrieb das Tagebuch in deutscher Stenografie. Ihr Mann übersetzte es in den 1960er-Jahren ins Tschechische. 1998 erschien eine englische Übersetzung des Tagebuches.1 Im Jahre 2005 überließ Roubíčková ihre Aufzeichnungen der Herausgeberin Veronika Springmann, die mit der nun vorliegenden Publikation das außergewöhnliche Tagebuch einem deutschsprachigen Lesekreis zugänglich macht.

Veronika Springmann verweist zu Recht auf die Mehrfachbedeutung des Tagebuches. Für die Zeit der deutschen Besetzung Prags gibt es kaum ein vergleichbares zeitnahes Dokument. Weiterhin umfasst das Tagebuch als einziges bis auf wenige Wochen die gesamte Zeit der Existenz des Ghettos. Nicht zuletzt findet sich hier eine weibliche Perspektive auf den Alltag in Theresienstadt.2 Angesichts dieser historischen Relevanz überrascht die Entscheidung, das Tagebuch in einem Literaturverlag herauszugeben. Auffallend zurückhaltend sind zum einen der editorische Umgang mit dem Manuskript und zum anderen die wissenschaftliche Kommentierung. So werden zwar die ungenauen Datierungen Eva Mändl Roubíčkovás von der Herausgeberin korrigiert und kleinere editorische Eingriffe vorgenommen. Diese erscheinen jedoch im Prager Teil zu verhalten. So hätten diesen Eintragungen mit ihren zwar sehr genauen, aber zugegebener Maßen unvermittelten und gewöhnungsbedürftig knapp formulierten Beobachtungen sowie den wiederholenden Angaben zu alltäglichen Verrichtungen stärkere Eingriffe gut getan. Die Kommentierung lässt eine umfangreiche und genaue Recherche der Herausgeberin erahnen, ist jedoch knapp gehalten und im Sinne der historischen Einordnung erweiterungsbedürftig.3 So bleibt beispielsweise ungeklärt, warum Roubíčková soviel Respekt, ja sogar Furcht vor der sogenannten Kultusgemeinde hatte, die sie öfter erwähnt, welche Funktion also diese Institution in Prag für die jüdische Bevölkerung hatte.

Mit ihren detaillierten Eintragungen, die im Prager Teil gewohnte Rituale vermitteln, gewährt Roubíčková dem Leser eine alltagsnahe Binnenperspektive auf ihre eigene Gedanken- und Gefühlswelt, auf Erfahrungen und Handlungsparadigmen ihrer Familie. In Roubíčkovás wiederholenden Beobachtungen werden ihre Koordinaten alltäglichen Lebens in Prag im Jahre 1941 deutlich. Dazu gehört die Sorge und Fürsorge um Bekannte, die sich in gegenseitigen Besuchen und gemeinsam verbrachten Feiertagen niederschlägt. Aber auch Ausflüge und Unternehmungen zählen dazu, die durch die zunehmende Ausgrenzung der Juden aus dem öffentlichen Raum schwieriger werden. Auf der anderen Seite stehen die erfindungsreichen Bemühungen um die Besorgung von Lebensmitteln sowie die fast aussichtslose Suche nach einer Anstellung als „Modistin“.

Besonders interessant ist dieser Prager Teil in Hinblick auf die folgenden Eintragungen im Theresienstädter Ghetto. So wird nur in der Kontinuität der Aufzeichnungen deutlich, wie in den extremen Lebenssituationen des Ghettos das bekannte Alltagsverhalten und erprobte freundschaftliche Verbindungen weiterhin bedeutend waren und damit überlebenswichtig wurden. Die Herstellung einer persönlichen Kontinuität und damit das Festhalten an der eigenen Identität sind als entscheidende Überlebensstrategien Eva Mändl Roubíčkovás zu erkennen. So sind ihre Eintragungen zuweilen wie eine Fortführung der Prager Dokumentation zu lesen. In Formulierungen, wie: „Es ist fast wieder wie in Prag“ (S. 102) oder: „Am nächsten Sonntag war ich bei Eva, es wurde getanzt. Fast jeden Abend war ich bei einem Vortrag“ (S. 161) wird deutlich, wie wichtig und erfolgreich das Anknüpfen an gewohnte soziale Praktiken für das psychische Überleben war.4 Insofern nimmt der gewählte Titel für das Tagebuch „Langsam gewöhnen wir uns an das Ghettoleben“ einen entscheidenden Aspekt der Aufzeichnungen auf.

Seinen dokumentarischen Wert erhält das Tagebuch durch die ausführlichen Schilderungen der unwürdigen Lebensumstände und der Arbeitskommandos, aber auch durch die Beschreibung der abgehenden Transporte nach Polen, der administrativen und persönlichen Vorbereitungen, der Angst um Bekannte und Verwandte. Roubíčková ermöglicht einen ungewöhnlich tiefen Einblick in die Psyche der Menschen, die mit diesen Ängsten und Unsicherheiten leben mussten und sich dadurch veränderten. Kaum ein anderer Bericht aus einem nationalsozialistischen Lager kann so detailliert Aufschluss über physische und psychische Alltagsstrategien geben. Für die in der Forschung zur Alltagsgeschichte der nationalsozialistischen Lager virulent gewordene Frage nach der Wahrnehmung und der Bewältigung der Lebenssituationen, nach den Strategien des Überlebens, sind solche Tagebücher wie das von Eva Mändl Roubíčková unverzichtbar. Daher ist dem Tagebuch eine breite Rezeption sehr zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Roubíčková, Eva, We’re alive and life goes on: a Theresienstadt diary, New York 1998, translated by Zaia Alexander, foreword by Virgina Euwer.
2 Weitere publizierte Tagebücher aus Theresienstadt sind zum einen von Männern geschrieben, die zum anderen nur einen Teil ihrer Haftzeit in Theresienstadt verbrachten. Siehe Heumann, Hugo, Erlebtes – Erlittenes. Von Mönchengladbach über Luxemburg nach Theresienstadt. Tagebuch eines deutsch-jüdischen Emigranten, Mersch 2007; Manes, Philipp, Als ob’s ein Leben wär. Tatsachenbericht Theresienstadt 1942-1944, Berlin 2005 oder Mannheimer, Max, Spätes Tagebuch. Theresienstadt - Auschwitz - Warschau - Dachau, Zürich 2000.
3 In Winfried Meyers ausführlicher wissenschaftlichen Kommentierung des Tagebuches von Szalet, Leon, Baracke 38. 237 Tage in den „Judenblocks“ des KZ Sachsenhausen, Metropol, Berlin 2006, konnte beispielsweise verdeutlicht werden, wie dem Leser die Einordnung und Bewertung dieser Quelle ermöglicht wurde.
4 Die Ausführungen Roubíčkovás bestätigen die These von Christoph Daxelmüller, dass Überlebensstrategien in den Lagern als ein Anknüpfen an gewohnte Praktiken zu verstehen sind. Siehe: Daxelmüller, Christoph, Kulturelle Formen und Aktivitäten als Teil der Überlebens- und Vernichtungsstrategie in den Konzentrationslagern; in: Herbert, Ulrich; Orth, Karin; Dieckmann, Christoph (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager - Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998, S. 983-1005.

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