A. D'Arcangelis: Die Jenischen - verfolgt im NS-Staat 1934-1944

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Titel
Die Jenischen - verfolgt im NS-Staat 1934-1944. Eine sozio-linguistische und historische Studie


Autor(en)
D'Arcangelis, Andrew
Erschienen
Anzahl Seiten
594 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Opfermann, Aktives Museum Südwestfalen, Siegen

Andrew D’Arcangelis thematisiert in seiner „sozio-linguistischen und historischen Studie“ mit Jenischen einen Bevölkerungsteil, der bislang nur spärlich historiografische und soziolinguistische Aufmerksamkeit erfuhr.1 Die Rede ist von jenen marginalisierten Gruppen, die seit dem späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit neben Betteljuden und „Zigeunern“ als migrierende Armut und „herrenloses Volk“ aus der Mehrheitsbevölkerung und seit der Industrialisierung als vagierende Sub- oder Lumpenproletarier beschrieben wurden. Im Ergebnis des zweifachen Zugangs sind zwei Arbeiten in einer entstanden: „Argots und Argotsprachen“ sowie „Die Verfolgung im NS-Staat“.

Im Sprachteil legt D’Arcangelis einen Literaturüberblick über eine Reihe von Sondersprachen vor, von russischen, US-amerikanischen oder mexikanischen „Gaunersprachen“ über das Shelta der irischen Pavee bis hin zum mitteleuropäischen Rotwelsch. Zum Hauptthema Rotwelsch kompiliert er Auszüge aus den bekannten Quellen vom Spätmittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts und referiert teilweise Quelleninhalte, die ganz überwiegend Friedrich Kluges Rotwelschdokumentation von 1901 entnommen sind.2 Abgesehen von Robert Jüttes Untersuchung zum „Liber Vagatorum“ von 1988 3 geht er auf die jüngere Sondersprachenforschung kaum ein.4

D’Arcangelis versucht, über die Tradierung von Wortbeständen zu einer jahrhundertealten Sprachträgergruppe zu kommen, die „ein sprachliches, genealogisches, historisches, soziales und/oder kulturelles Kontinuum“ (S. 2) bilden würde. Im Fazit des NS-Teils sagt er es auch so: Es gebe „vom Spätmittelalter bis in das 20. Jahrhundert [...] eine gewisse generische Kontinuität unter den Rotwelsch-Sprechern“ (S. 389). Die genetische Kontinuität umgeht er, sie schaut jedoch deutlich aus seinem „Kontinuum“ heraus. Auch wenn er das eher notleidende Wort vom „Volk“ im Sinne von „ethnos“ vermeidet, als welches jenische Interessenvertreter neuerdings Jenische gerne gesehen haben möchten, bewegt er sich im Kontext einer biologisch und sprachlich-kulturell konstruierten separaten Ethnizität, wenn er über die allgemeine Feststellung einer konstanten und hermetischen „Nichtsesshaftigkeit“ nicht hinausgeht, von einer jahrhundertelangen „Reproduktion der Nichtsesshaftigkeit und damit der Weitergabe des Sprachguts über familiäre Strukturen“ ausgeht (S. 197) und von allem anderen absieht. So gelangt D’Arcangelis zu einer Minderheit gleich Roma und Sinti, über die er dann im zweiten Teil seiner Arbeit als über eine distinkte Opfergruppe verfügen kann.

Das genealogische Kontinuum familiärer Tradierung dürfte sich indessen kaum nachweisen lassen. Rotwelsch- bzw. Jenischsprecher bildeten keine historisch und soziokulturell einheitliche Sprechergruppe, sondern eine in sich differenzierte Population rechtlich, ökonomisch, sozial Ausgeschlossener mit Übergängen in die ortsfeste Mehrheitsbevölkerung. Kleinster gemeinsamer Nenner war die gesellschaftliche Deklassierung. „Jenisch“ ist ungeeignet zur „soziolinguistischen“ Konstruktion einer jahrhundertealten Gruppe. Es ist keine Sprache im engeren Sinn. Es hat keine selbständige Grammatik, Syntax und Lautung, besteht aus einem eingeschränkten Sonderlexikon des Deutschen in zahlreichen lokalen Ausprägungen und mit mehr oder weniger fremdsprachlichen Entlehnungen.

Methodisch geht Andrew D’Arcangelis im historischen Teil ähnlich wie im Sprachteil vor. Er untersucht eine größere Zahl von rassehygienischen Schriften der Jahre 1934 bis 1944 zur „Zigeuner"- und „Asozialenbekämpfung“. Ob bzw. inwieweit der Fachdiskurs sich in einen Normierungsdiskurs fortsetzte und ob bzw. inwieweit dieser sich in tatsächlicher Normierung niederschlug, interessiert ihn nicht. Die Realgeschichte der Verfolgung schließlich spielt nur ganz am Rande eine Rolle.

Die abgehandelte Literatur ist keine Entdeckung. Es sei jedoch laut Autor bislang ein wesentlicher Gesichtspunkt unbeachtet geblieben: Aussagen zu Jenischen. Diese seien von der zeitgeschichtlichen Forschung „mit den Roma und Sinti verwechselt“ worden, nachdem sie im Nationalsozialismus wie diese als „Zigeuner“ qualifiziert worden seien (S. 203). „In der Tat befassen sich alle referierten Schriften mit nichtsesshaften Gruppen oder deren Nachkommen. Damals [im Nationalsozialismus, U.O.] subsumierte man sie unter dem Oberbegriff ‚Zigeuner’“ (S. 288). Sein erneuter Durchgang ergibt dann, dass „Jenische“ kein Thema waren – mit der einen gewichtigen Ausnahme des für die Kategorienbildung wie für die praktische Erfassung der „Zigeuner“ verantwortlichen Leiters der Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle, Robert Ritter. Dieser habe „den ‚Zigeuner‘“ in drei Hauptgruppen gegliedert: „stammechte Zigeuner“, „jenische Landfahrer“ und das „Mischlingsgeschlecht“ der „jenischen Zigeunermischlinge“ (S. 295). D’Arcangelis folgt dem und spitzt zu. Die einzig relevanten Gruppen der „Nichtsesshaften“ seien „die Romanisprecher und die rotwelsch sprechenden deutschen Landfahrer“ (S. 390). Alle „Mischlinge gehören vermutlich einer von diesen Sprachgruppen an.“ (S. 295) Spätestens mit dem Gesetz vom 8. Dezember 1938 zur „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus“ sei von „rassischer Verfolgung aller, die als Zigeuner bestimmt“ worden seien, zu sprechen. Unter dem Rubrum „Zigeuner“ seien Jenische wie Juden, Roma und Sinti Hauptopfergruppen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gewesen. Sie hätten als „Maßstab“ für „Asozialität“ (S. 389) gegolten. Sie seien sowohl „wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit“ als auch individuell „auf Grund ihrer sozialen Lage“ verfolgt worden (S. 372). Die Größenordnung lasse sich aber weder ermitteln noch schätzen. Da jedoch Ritters Forschungsstelle die Objekte ihrer Untersuchungen zu 90 Prozent als „Mischling“ einstufte, nach D’Arcangelis darunter zahlreiche „Jenischsprecher“, müsste deren Anteil an den Deportierten hoch gewesen sein.

Allerdings findet sich D’Arcangelis definitorischer Ausgangspunkt, der „Oberbegriff Zigeuner“ als Sammelkategorie für alle „Nichtsesshaften“, weder in der NS-Literatur noch in NS-Rechtsvorschriften. Ritters „jenische Zigeunermischlinge“ treten allein bei ihm und nur vereinzelt auf, „jenische Landfahrer“ sind insgesamt eine Seltenheit. Der Oberbegriff war der des „Asozialen“. „Zigeuner“ meinte mit ethnisch-rassischem Inhalt stets allein Roma und Sinti, während die als „deutschblütig“ gewerteten „Landfahrer“, also D’Arcangelis’ „Jenische“, als „nach Zigeunerart herumziehend“ beschrieben wurden und nachdrücklich aus der Kategorie „Zigeuner“ herausgenommen waren. Nichtsesshaftigkeit oder Sprache („Jenisch-„/Romanessprecher“) waren für die NS-Experten höchstens Hilfskriterien. D’Arcangelis‘ Deutung der Ritterschen „Mischlinge“ als „vermutlich“ entweder Romanes- oder Jenischsprecher ist völlig aus der Luft gegriffen.

Die Anordnung Himmlers vom 8. Dezember 1938 (nicht ein „Gesetz“, sondern ein Runderlass) hatte ein letztes Mal zwischen den beiden Subgruppen der „Zigeuner“ – zwischen „rassereinen Zigeunern“ bzw. „Zigeunermischlingen“ – und „nach Zigeunerart Umherziehenden“ unterschieden. Sie beabsichtigte die „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse“ (nicht, wie von D’Arcangelis falsch zitiert, „aus dem Wesen der Rasse“). Bereits die Ausführungsbestimmungen vom 1. März 1939 bestimmten die dritte Gruppe offener und zugleich „rassisch“ klarer abgrenzend als „Nichtzigeuner“. D’Arcangelis übergeht diese Kategorie fast vollständig bzw. übersetzt sie freihändig einschränkend mit „Nichtsesshafte“ (S. 311). Die „deutschblütigen“ „Nichtzigeuner“ (und als solche „geltende“ „vorwiegend deutschblütige Zigeunermischlinge“) waren nun ausgenommen aus den eskalierenden Ausschlussvorschriften und -maßnahmen. Ritters Forschungsstelle baute ein „Zigeunersippenarchiv“ auf. Erst nach dessen Abschluss – die Voraussetzung für die Vernichtungsdeportationen waren jetzt gegeben –, begann der Aufbau eines „Landfahrersippenarchivs“, der über Anfänge nicht hinaus kam.5

Ritters zeitweise abweichende Position im Zigeunerdiskurs, seine Hervorhebung jenischer Landfahrer als ganz besonders „asozial“, hat zu einer entsprechenden Normierung nicht geführt. Das hat auch D’Arcangelis in merkwürdigem Widerspruch zu seiner Gesamtlinie bemerkt: „Das Fehlen einer dritten Gruppe von Nichtsesshaften in späteren Gesetzgebungen ist fraglos ein Beleg dafür, dass es Ritter nicht gelungen ist, die Gesetzgeber davon zu überzeugen, dass die Jenischen eine relevante rassenhygienische Gruppe und Bedrohung darstellen“ (S. 312). Mit eben der Folge, dass sie als Fallgruppe im Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942 bzw. in dessen Ausführungsbestimmungen vom 29. Januar 1943 und, soweit erkennbar, im „Hauptbuch“ des „Zigeunerlagers“ in Birkenau nicht vorkommen. D’Arcangelis lässt diese drei Quellen unerwähnt.

Auch wenn eine gründliche Untersuchung bislang noch fehlt, ist anzunehmen, dass bis mindestens 1938 aus rassehygienischen Motiven neben anderen als „asozial“ Etikettierten auch Jenische bis hin zu Sterilisierung und KZ-Haft verfolgt wurden, und es dürfte Menschen gegeben haben, die entgegen ihrem jenischen Selbstverständnis als „Zigeunermischlinge“ nach Auschwitz deportiert wurden. Andrew D’Arcangelis bringt hierzu einzelne Hinweise. Den Nachweis, dass Jenische als Gruppe und „als Zigeuner“ der Vernichtung anheimfielen, erbringt seine Arbeit nicht. Es ist nach wie vor davon auszugehen, dass dem nicht so war.6 Auf die opferpolitisch wichtige Differenz im Vergleich mit Roma und Sinti reagierten übrigens jenische Interessenvertreter im weiteren Zusammenhang der Mahnmaldiskussion, indem sie eine nachkorrigierte Variante des Auschwitz-Erlasses bzw. seiner Ausführungsbestimmungen auf ihre Website setzten. Dort sind in die Aufzählung der zu deportierenden Fallgruppen im nachhinein „Jenische“ eingefügt worden.7

Anmerkungen:
1 Eine nachbearbeitete Netzversion steht unter: http://www.sub.uni-hamburg.de/opus/volltexte/2004/2247/.
2 Kluge, Friedrich, Rotwelsch. Quellen und Wortschatz der Gaunersprache und der verwandten Geheimsprachen, Straßburg 1901 (Nachdruck Berlin, New York 1987).
3 Jütte, Robert, Abbild und soziale Wirklichkeit des Bettler- und Gaunertums zu Beginn der Neuzeit. Sozial-, mentalitäts- und sprachgeschichtliche Studien zum Liber Vagatorum, Köln, Weimar 1988.
4 Siehe z.B. die von Klaus Siewert (Münster) herausgegebene Zeitschrift „Sondersprachenforschung“ und die in ihrem Umfeld erschienenen Monografien.
5 Zimmermann, Michael, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996, S. 153, S. 436.
6 So auch: Seifert, Oliver, Roma und Sinti im Gau Tirol-Vorarlberg. Die „Zigeunerpolitik“ von 1938 bis 1945 (= Tiroler Studien zu Geschichte und Politik, Bd. 6), Innsbruck, Wien, Bozen 2005.
7http://www.jenischer-bund.org/153222/182001.html.

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