F.-R. Hausmann: "Deutsche Geisteswissenschaft" im Zweiten Weltkrieg

Titel
"Deutsche Geisteswissenschaft" im Zweiten Weltkrieg. Die "Aktion Ritterbusch" (1940-1945)


Autor(en)
Hausmann, Frank-Rutger
Reihe
Schriften zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 1
Erschienen
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 50,11
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Geschichte diverser wissenschaftlicher Disziplinen während der nationalsozialistischen Zeit ist in einer Vielzahl von Arbeiten, sei es zur inhaltlichen Entwicklung einzelner Fächer, sei es zur Geschichte einzelner Universitäten, behandelt worden. Vieles ist allerdings noch nicht untersucht worden, wie sich in den jüngsten Kontroversen über die Rolle von Historikern wie Theodor Schieder und Werner Conze gezeigt hat, die in der Bundesrepublik zu führenden Repräsentanten ihres Faches aufgestiegen sind. Die Konzentration auf die moralische, politische und disziplingeschichtliche Bewertung dieser "Fälle" überschattet dabei leicht, wieviel in diesem Zusammenhang an neuen Erkenntnissen über die Forschungsorganisation im NS-System zutage gefördert worden ist.

Der "Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften" ist in einschlägigen Arbeiten zwar wiederholt erwähnt worden - u.a. in Michael Katers Buch zum "Ahnenerbe" (1974), Volker Losemanns Buch zur Althistorie (1977), den Arbeiten von Karen Schönwälder (1992) und Ursula Wolf (1996) zur Geschichtswissenschaft, von Michael Stolleis (1994) zur Rechtsgeschichte während der Nazi-Zeit - , bisher aber noch nie systematisch untersucht worden. Diese Aufgabe hat mit Hausmann nun ein Romanist unternommen. Ihm gelingt es, auf Grund der (zumeist allerdings unergiebigen) Befragung von Zeitzeugen, der Auswertung weniger erhaltener Akten und besonders der Erschließung zahlreicher nachgelassener Briefbestände dieses Großunternehmen in seinem ganzen Umfang darzustellen.

Die Initiative zum "Kriegseinsatz" ging nicht von staatlichen oder parteiamtlichen Stellen aus, sondern kam aus den Geisteswissenschaften selbst, die nach Beginn des Krieges ihren unentbehrlichen Beitrag für den deutschen Sieg und die danach erwartete Neuordnung Europas (anfangs mit Blick auf Westeuropa) nachweisen wollten. Wieweit dabei nicht nur die Konkurrenz mit der Medizin, den Natur- und Technikwissenschaften im Kampf um Ressourcen, sondern auch die Erinnerung an die - von Geisteswissenschaftlern auf beiden Seiten getragenen - Propagandaschlachten zwischen Deutschen und Westmächten zu Beginn des Ersten Weltkriegs eine Rolle spielte, wird zwar gelegentlich angedeutet, aber nicht näher beleuchtet. Klar ist, daß man wissenschaftliche, nicht publizistische Arbeiten vorlegen wollte.

Spiritus rector des Unternehmens war der Jurist Paul Ritterbusch, geb. 1900, Parteigenosse seit 1932, Ordinarius in Kiel seit 1933, Rektor ebendort 1935-1941, gestorben - durch Selbstmord - am 26. April 1945. Das Projekt ist erstmals auf einer Konferenz der deutschen Hochschulrektoren am 11. November 1939 erörtert worden. Ritterbusch wurde am 3. Februar 1940 vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) mit der Durchführung beauftragt; seit Mai 1941 nahm er (bei gleichzeitiger Versetzung mit seiner Professur an die Berliner Universität) diese Aufgabe als Ministerialdirigent im REM wahr. Angesichts der Schwäche des REM und seines Ministers Rust im Machtgefüge des nationalsozialistischen Staates war Ritterbuschs Durchsetzungsvermögen erstaunlich. Interventionen des "Amtes Rosenberg" konnten ihn ebensowenig hindern wie Einwände des NS-Dozentenbundes wegen der Heranziehung von "Wissenschaftlern ... ohne Rücksicht auf ihre weltanschauliche Haltung" (43). Zu enger Kooperation kam es dagegen mit Unternehmungen des "Ahnenerbes" und seines "Kurators" Walther Wüst (zugleich Rektor in München). Der SD-Mann Hans Erich Schneider, ein ehemaliger Mitarbeiter des "Ahnenerbes", hat übrigens Ende 1944 ein Konzept für einen "Totalen Kriegseinsatz der Wissenschaft" entwickelt, das wie eine Kopie des Projektes von Ritterbusch aussah (jener Schneider, der nach dem Krieg unter dem Namen "Schwerte" eine wissenschaftliche Karriere als Germanist machte und schließlich Rektor der TH Aachen war).

Die Finanzierung zahlreicher Tagungen sowie der Druckkosten für die Publikationen wurde von der DFG vorgenommen, in unbürokratischer Weise durch Pauschalüberweisungen an die für die einzelnen Fächer verantwortlichen "Spartenleiter" und die beteiligten Verlage (für Geschichte und Altertumwissenschaft: Koehler & Amelang in Leipzig); auf Gutachten wurde verzichtet; in Einzelfällen wurden noch kurz vor Kriegsende Stipendien mit geplanten Laufzeiten bis 1946 vergeben. Die Gesamtkosten werden von Hausmann auf etwa eine halbe bis eine dreiviertel Million RM geschätzt.

Mit der Organisation als Großbetrieb dank Drittmittelförderung, zahlreichen Tagungen, Sammelpublikationen, Öffentlichkeitsarbeit (durch Tagungsberichte und Rezensionen in Tageszeitungen und Fachzeitschriften, großzügige Verteilungen von Freiexemplaren an Schulen und Parteistellen, Ausstellungen), Interdisziplinarität etc. zeigt der "Kriegseinsatz" viele Züge eines "modernen" Wissenschaftsbetriebs und könnte - auch wegen der personellen Kontinuitäten - insofern prägend auf die Nachkriegsentwicklung gewirkt haben, wie Hausmann z.B. hinsichtlich der von Theodor Mayer begründeten Fachtagungen deutscher Mediävisten bemerkt. (Die letzte von Mayer im "Kriegseinsatz" organisierte Besprechung fand im Januar 1945 in Braunau am Inn statt, im Geburtshaus des "Führers").

Der Ausstoß an Publikationen der beteiligten Fächergruppen (Altertumswissenschaft - einschließlich Alter Geschichte - , Anglistik, Geographie, Germanistik, Geschichte - einschließlich Vorgeschichte und Rechtsgeschichte - , Kunstgeschichte, Orientalistik, Philosophie, Romanistik, Staats-, Völker-, Zivil- und Arbeitsrecht) ist beachtlich: 43 Monographien, 24 Sammelbände mit 300 Einzelbeiträgen. Die jeweiligen Organisatoren waren mit Erfolg darum bemüht, eine möglichst große Zahl von Professoren und Nachwuchskräften aller deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen heranzuziehen. Ungeklärt ist, warum einige, im Sinne des NS-Regimes hervorgetretene, prominente Figuren wie Alfred Bäumler, Martin Heidegger, Ernst Krieck, Karl Alexander von Müller und Heinrich Ritter von Srbik fehlen. Carl Schmitt dagegen hat Ritterbusch beraten und trat als Starredner, der sein neues "Völkerrechts"-Konzept der "Großraumordnung" vorstellte, nicht nur bei Juristen, sondern auch bei Historikern und Romanisten auf. Die Entbindung von politischen Funktionen 1936/37 1, die Schmittianer so gern als Existenzbedrohung deuten, hat seiner Reputation im Wissenschaftsbetrieb keinen Abbruch getan; im übrigen hat Schmitt 1941 bis 1944 seine Vorstellungen von internationalem Recht auch mit von deutschen Auslandsvertretungen geförderten Vorträgen in Frankreich, Belgien, Spanien, Portugal, Ungarn und Rumänien verbreiten können 2.

Auch Gelehrte mit deutlicher Distanz zum Regime wurden eingeladen und nahmen teil, so der Historiker Gerhard Ritter mit seinen, ambivalent wirkenden, Thesen über "Machtstaat und Utopie" oder der Rechtshistoriker Heinrich Mitteis. Gerade der für die Organisation der Mediävistik zuständige, im Vergleich zu seinem Neuzeit-Kollegen Walter Platzhoff (Rektor in Frankfurt) viel aktivere, Theodor Mayer (Rektor in Marburg) hat eine Einladungspolitik betrieben, an die sich verschiedene Historiker, die sich seinerzeit in prekärer Lage befunden hatten, nach dem Krieg - durch Ausstellung von "Persilscheinen" - dankbar erinnern sollten. Manchmal wurde auch Druck ausgeübt, so auf den Romanisten Werner Krauss (1942 wegen seiner Mitgliedschaft in der Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack verhaftet; in der DDR der führende Repräsentant seines Faches), der, wenn er sich auch aus Selbstschutz zur Teilnahme entschlossen haben sollte, wohl doch sinnvolle Arbeit in diesem Rahmen für möglich hielt.

Sieht man davon ab, daß einige einschlägige "Kandidaten" aufgrund persönlicher Animositäten nicht eingeladen wurden oder nicht teilnahmen, so haben sich offensichtlich nur ganz wenige der Mitarbeit aus politischen oder wissenschaftlichen Gründen entzogen, so der Altphilologe Karl Reinhardt unter einem durchsichtigen Vorwand 3. Wieweit die von vielen erhoffte Freistellung vom Wehrdienst wegen ihrer "kriegswichtigen" Tätigkeit tatsächlich erfolgte, wird nicht klar; wahrscheinlich scheint dies jedoch nicht. Immerhin haben einige der wichtigsten Organisatoren auf Grund ihres spezifischen "Kriegseinsatzes" das Kriegsverdienstkreuz erhalten.

Die inhaltliche Würdigung der Publikationen muß ambivalent ausfallen. Der Verfasser gibt einen Überblick über sämtliche Fachgebiete, scheut im Einzelfall vor deutlichen Urteilen nicht zurück, zeigt aber Zurückhaltung, wenn es um die Bewertung nach fachwissenschaftlichen Kriterien geht; nur seinem eigenen Fachgebiet, der Romanistik, widmet er eine ausführliche Darstellung. Es entsteht ein ausgewogenes Gesamtbild: die politische Stoßrichtung der Tagungen ist unverkennbar, wenn sich Historiker wie Fritz Hartung, Theodor Mayer, Walter Platzhoff und Fritz Rörig (unter Beteiligung von Carl Schmitt) unter dem Titel "Das Reich und Europa" einer Legitimierung deutscher Hegemonie widmen, wie sie parallel auch von Völkerrechtlern betrieben wurde, Zivil- und Arbeitsrechtler Vorarbeiten für ein neues "völkisches" Gesetzbuch anstelle des BGB durchführen, Altertumswissenschaftler den Gegensatz von "Rom und Karthago" auf "rassische" Gründe zurückführen wollen 4.

Aber ebenso evident ist, daß in diesem Kontext auch eine Reihe von fachwissenschaftlich gediegenen Arbeiten erschienen, die mitunter die Zielsetzung der Unternehmen ignorierten bzw. konterkarierten, wenn z. B. der Althistoriker Matthias Gelzer - ganz anders als Fritz Schachermeyr und Fritz Taeger - in der "Rassenfrage" Fehlanzeige meldete. Das Bemühen um Einbindung einer möglichst großen Zahl von Wissenschaftlern führte zudem dazu, daß viele schlichtweg die Themen behandelten, an denen sie ohnehin arbeiteten (z.B. die Romanisten) und in einigen Disziplinen (wie der Altertumswissenschaft) gigantische Arbeitspläne entworfen wurden, die sämtliche Gegenstände des Faches einschlossen.

Gerade weil - im Gegensatz zu den innovativen Organisationsformen - eine Reihe von Arbeiten wissenschaftlich eher konservativ ausgerichtet waren, hatten verschiedene Autoren nach dem Krieg keine Bedenken, bereits publizierte oder wegen der Zeitumstände nicht mehr veröffentlichte Arbeiten nach Tilgung einschlägiger Vorworte oder Formulierungen, "zeitentsprechend angepaßt" - so der Völkerrechtler Walter Schätzel 1946 (258) - , zu veröffentlichen. Der von Theodor Mayer herausgegebene Tagungsband, "Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters", ist 1967 kommentarlos nachgedruckt worden - nicht zufällig von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, die sich unter der Leitung des Historikers Ernst Anrich (ehemals Professor an der "Reichsuniversität" Straßburg) liebevoll um jene Geisteswissenschaftler kümmerte, denen auch seit Anfang der fünfziger Jahre die Rückkehr an die Universität nicht geglückt war.

Die personelle Kontinuität zur westdeutschen Nachkriegswissenschaft zeigt sich eindrucksvoll (wenn auch im Prinzip nicht überraschend) in der Liste der Teilnehmer an dem Gemeinschaftsunternehmen, die am Ende des Bandes zusammengestellt ist. In ihr finden sich zahlreiche Namen von höchst angesehenen Vertretern der bundesdeutschen Geisteswissenschaften nach 1945. Eine kleine Auswahl, die notabene keine Bewertung der jeweiligen Beiträge impliziert, genügt: Albrecht Alt, Hermann Aubin, Hans-Georg Gadamer, Arnold Gehlen, Ernst Rudolf Huber 5, Hermann Jahrreiß, Karl Larenz, Theodor Maunz 6, Joachim Ritter, Fritz Schalk, Wolfgang Schadewaldt, Ulrich Scheuner, Franz Wieacker, Benno von Wiese.

Das große Verdienst des Buches besteht in der Rekonstruktion eines organisatorischen Zusammenhangs und personellen Netzwerkes, dessen Bedeutung von den Beteiligten, die in vielen Fällen von diesen Verbindungen in der Nachkriegszeit profitiert haben dürften, verschwiegen oder verdrängt und von Historikern bisher nicht angemessen gewürdigt wurde. Es bietet eine Fülle von Materialien für weiterführende Studien zur Disziplin- und Universitätsgeschichte.

Anmerkungen:

1 Vgl. B. Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich, 2. Aufl., München 1990, 104ff.

2 Vgl. das Material in der - apologetischen - Studie von C. Tilitzki, Die Vortragsreisen Carl Schmitts während des Zweiten Weltkrieges, in: P. Thomissen (Hg.), Schmittiana 6, Berlin 1998, 191-270.

3 Reinhardt hatte als Professor in Frankfurt im Mai 1933 seine Vorlesungstätigkeit wegen der politischen Umstände vorübergehend eingestellt und dies in einem eindrucksvollen Brief dem Preußischen Kultusminister mitgeteilt; abgedruckt in: J. u. R. Becker (Hgg.), Hitlers Machtergreifung, München 1983, 286.

4 Ungeklärt ist, warum dieser Band von Joseph Vogt herausgegeben wurde, und nicht von Helmut Berve, der zuvor das "Neue Bild der Antike" (2 Bde.) ediert hatte. Zu Vogts Rolle und seiner Rivalität mit Berve vgl. D. Königs, Joseph Vogt - ein Althistoriker in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Basel 1995; dazu die Rezension von W. Nippel, Gnomon 70, 1998, 373-375.

5 Huber erhielt allerdings erst 1957 wieder eine Professur an der Hochschule für Sozialwissenschaft in Wilhelmshaven; mit der Eingliederung dieser Hochschule in die Universität Göttingen dann dort 1962 eine ordentliche Universitätsprofessur.

6 Das Bekanntwerden eines Artikels über "Polizeirecht" im Rahmen des "Kriegseinsatzes" führte 1964 zu seinem Rücktritt vom Amt des Bayerischen Kultusministers (251). Daß der Grundgesetz-Kommentator Maunz nebenher Artikel für rechtsradikale Blätter geschrieben hat, ist erst nach seinem Tode (1993) aufgedeckt worden.

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