A. Doßmann u.a.: Architektur auf Zeit

Cover
Titel
Architektur auf Zeit. Baracken, Pavillons, Container


Autor(en)
Doßmann, Axel; Wenzel, Jan; Wenzel, Kai
Erschienen
Berlin 2006: b_books
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 14,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Klose, Graduiertenkolleg "Mediale Historiographien", Bauhaus-Universität Weimar

Als „Henry Ford der Architektur“ hatte Walter Gropius in die Geschichte eingehen wollen und sich dafür eingesetzt, die architektonische Moderne als eine strukturelle Revolution zu begreifen.1 Tat sich die Architekturgeschichtsschreibung schon schwer damit, den Teil seines Erbes in ihre Register aufzunehmen, der sich unter dem Stichwort Industrialisierung zusammenfassen lässt: Vorfertigung, Standardisierung, Modularisierung, so verweigerte sie sich geradezu einer Anerkennung des anderen großen modernen Zusammenhangs, den der Name Henry Ford aufruft: Mobilität.2 Zwar ist die Forderung, flexible, schnelle, variable und mobile Lösungen für wechselhafte Umstände und „nomadische Lebensformen“ zu schaffen, ein Grundthema der Moderne. Zwar unterschreitet die Halbwertszeit neu errichteter Gebäude heutzutage oftmals die durchschnittliche Lebenszeit sogenannter temporärer baulicher Lösungen. Doch der Begriff der Architektur bleibt auch in Zeiten der wechselseitigen Annäherung des „Dauerhaften“ und des „Provisorischen“ meist an Ideen von Ewigkeit und Monumentalität gebunden. Abgesehen von schillernden Randfiguren wie Buckminster Fuller oder der Gruppe Archigram war die mobile Architektur nie ein Feld, auf dem man als Architekt zu großer Bekanntheit gelangen konnte. Die mobilen und temporären Bauten werden in der Regel von anderen konstruiert, hergestellt und gebaut. Darum handelt es sich bei dem Überblickswerk, das im letzten Jahr unter dem Titel „Architektur auf Zeit. Baracken, Pavillons, Container“ im Berliner Verlag b-books erschienen ist, um einen Fall der Auseinandersetzung mit anonymer Geschichte: Industrielle Unternehmen, Institutionen und Verwaltungen sind es, die mit den einzelnen provisorischen Architekturen verbunden werden können, nicht Künstlerarchitekten.

„Wenn sich eine Stadtverwaltung Ende des 19. Jahrhunderts drei transportable Lazarettbaracken angeschafft hat, um beim Ausbruch einer Epidemie schnell reagieren zu können, ist das dann für die Architekturgeschichte der Moderne nicht ebenso wichtig wie die neuartigen Stahlkonstruktionen Gustave Eiffels, die zur selben Zeit entstanden?“ (S. 23) Mit dieser Frage provozieren die Autoren des Buches, der Historiker und Kulturwissenschaftler Axel Doßmann, der Künstler und Publizist Jan Wenzel und der Kunsthistoriker Kai Wenzel, nicht nur die tradierte Architekturgeschichtsschreibung. Was das Buch über den Status einer – auch schon mehr als lobenswerten – Beseitigung architekturgeschichtlicher Blindflecken noch hinaushebt, ist seine Konzentration auf die Entstehung moderner Machttechnologien. Denn von der transportablen Holzbaracke, die erstmals in den Kolonialkriegen des ausgehenden 19. Jahrhunderts systematisch zum Einsatz kam, bis zum heutigen Containerlager spannt sich eine bauliche Tradition, die eng verbunden ist mit der Entwicklung moderner ordnungs- und biopolitischer Regierungstechniken, mit Foucault gesprochen, der „Kunst der räumlichen Verteilung von Menschen“.3

Das Buch analysiert einerseits in präzisen Einzelfallbeschreibungen den Einsatz von temporären Architekturformen wie Containern, Baracken, Lagern, Pavillons, Messekiosken, Triumphbögen, Tribünen, Werbeaufstellern, Barrikaden und Polizeiabsperrungen, wobei es sich beispielhaft auf eine deutsche Großstadt – Leipzig – konzentriert. Andererseits stellt es in übergreifenden Essays die historischen, politischen und konzeptuellen Zusammenhänge her. Dazu zeigt es eine Fülle von Bildmaterial: Von den Containerfotografien der Künstlerin Betty Pabst über die zum Teil sensationellen Nachkriegsaufnahmen aus dem Archiv des Leipziger Dokumentarfotografen Karl Heinz Mai – die in ihrer Intensität an Fotos von Walker Evans aus dem Amerika der Great Depression erinnern –, bis zu Bildern aus verschiedensten Archiven und apokryphen Quellen der Literatur mobiler Architektur. Der Band lässt sich fast wie ein Katalog lesen; man wünscht sich, die Ausstellung zum Buch möge noch stattfinden. Denn es handelt sich um Abbildungen einer unsichtbaren Architektur, die auf das Engste mit der Geschichte, bzw. den Geschichten unseres Landes verbunden ist.

„Ohne temporäre Architekturen hätte sich das 20. Jahrhundert nicht so dynamisch entfalten können. Denn worum geht es in der Moderne? [...] Es geht um ‚schneller sein’: schneller als andere Armeen, andere Staaten, andere Firmen“ schreiben Doßmann, Wenzel und Wenzel (S. 24). Industrialisierter Materialfluss und provisorische Architektur treffen sich nicht erst in der multifunktionellen Anwendbarkeit des Containers am Ende des 20. Jahrhunderts. Vielmehr haben sie eine gemeinsame Wurzel in der militärischen Logistik des 19. Jahrhunderts. So war die „Fliegende Baracke“ aus vorproduzierten Wandtafeln, wie sie seit den 1880er-Jahren unter anderem im sächsischen Niesky produziert wurde, ursprünglich eine militärische Entwicklung für Kriege und Katastrophen, bevor sie zivile Karriere machte: Modulare Systeme für Krankenhäuser, Schulen, Arbeitsämter, Jugend- und Armenfürsorge, für Kinder-, Ferien- und Genesungsheime, für Durchgangs- und Flüchtlingslager ermöglichten den überlasteten Verwaltungen der rasend anwachsenden Kommunen um 1900, schnell und vergleichsweise preiswert Räume zur Verfügung zu stellen. Als sozialstaatliche Raumordnungsmaßnahme wurde die Baracke zum ersten architektonischen Massenprodukt der Moderne. Da sich im Dritten Reich das Lager zum raumordnungspolitischen Normalfall entwickelte und mit ihm die Baracke zu einem vorherrschenden Architekturtypus, ist diese Architekturform bis heute eng mit den Gräueln des Nationalsozialismus verbunden. Ihre Stigmatisierung führt allerdings dazu, dass strukturell vergleichbare, neuere Formen temporärer schneller Besetzungen von Raum erst gar nicht in diesem historischen Zusammenhang gesehen werden; als ob eine „Containersiedlung“ per se unschuldiger wäre als ein „Barackenlager“.

Was der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily hinter dem Anglizismus ›Camp‹ für die einzurichtenden EU-Außenlager in nordafrikanischen Küstenregionen zu verbergen suchte und was im Gefolge einer Hochkonjunktur der von Giorgio Agamben vorgenommenen philosophischen Interpretation des Lagers als „nomos der Moderne“ in den letzten Jahren zu einem undifferenzierten Allgemeinplatz zu verkommen drohte, wird durch konkrete lokale Untersuchungen deutlich und fassbar.4 Vom „Barackenlager für Kriegsgefangene 1941 bis 1945“ über das „Quarantänelager für Flüchtlinge 1945 bis 1948“, Barackenlager für „Gastarbeiter“ (sogenannte „Italiener-Dörfer“) in den 1960er- und 1970er-Jahren bis zum „Lager für Asylbewerber, 1994 bis 2005“ spannt sich eine – verdrängte – Kontinuität der Lager; nicht nur in Sibirien oder Guantanamo Bay, sondern hier, in Deutschland. Der Zustand „erstarrter Mobilität“, wie es Tom Holert und Mark Terkessidis in einem in den Band integrierten Gespräch ausdrücken, ist zur Normalität eines immer größeren Anteils der Weltbevölkerung geworden; Menschen, die in Lagern aller Art auf die Entscheidung über ihren zukünftigen Status warten, während sie sich in einem für das Lager konstitutiven Zustand der Verstetigung von Übergangslösungen befinden. Dabei ist auffällig, wie die Einschränkung von Mobilität immer wieder ausgerechnet mit Hilfe „mobiler Architekturen“ durchgesetzt wird. Dauer hat seit der Moderne nur die auf Dauer gestellte Veränderung. Provisorische Architekturen befinden sich sozusagen im Kern dieser paradoxen Entwicklung.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Wenn aus dem ungeheuer materialreichen und durchweg spannend zu lesenden Buch kein großer Wurf einer alternativen Architekturgeschichte der Moderne geworden ist, so liegt das an einer Beschränkung, die zugleich seine Stärke ausmacht. Wiewohl ihre Texte große Thesen zu Moderne und provisorischen Architekturen nicht schuldig bleiben, ist es den Autoren nämlich vor allem daran gelegen, im Geiste einer sorgfältig recherchierenden Mikrohistorie die großen Zusammenhänge an kleinen Details zu entwickeln. Denn, wie sie im einleitenden Essay betonen, es ist „der konkrete Gebrauch, nicht die Architektur oder Technik ‚an sich‘, der wichtige Schlüsse auf die Gesellschaft zulässt“(S. 30). Herausgekommen ist aus dieser interdisziplinären Zusammenarbeit im Geiste des architektonisch-räumlich-sozialen Details ein Buch, das unbedingt lesenswert ist. Gerade für die Teile der Medien-/Kulturwissenschaften und der zeitgeschichtlichen Forschung, die sich mit den macht-/räumlichen Wirkungen von Architekturen in der Moderne beschäftigen, müsste es zur Pflichtlektüre ausgerufen werden, weil es nicht, wie so viele andere Veröffentlichungen dieser Richtung, das historische Detail zugunsten einer großen historiographischen These übergeht.

Anmerkungen:
1 Vgl. Nerdinger, Winfried, Der Architekt Walter Gropius, Berlin 1996, S. 15f.
2 Für einen Überblick über die Geschichte mobiler bzw. temporärer Architektur in deutscher Sprache eigentlich nur: Ludwig, Matthias, Mobile Architektur: Geschichte und Entwicklung transportabler und modularer Bauten, Stuttgart 1998; im englischsprachigen Raum einschlägig: Kronenburg, Robert, Houses in Motion: The Genesis, History, and Development of the Portable Building, London 1995, sowie weitere Publikationen desselben Autors.
3 Vgl. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1977, S. 181.
4 Vgl. Agamben, Giorgio, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002.

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