Titel
Rabbiner Michael Sachs. Judentum als höhere Lebensanschauung


Autor(en)
Schad, Margit
Reihe
NETIVA. Wege deutsch-jüdischer Geschichte und Kultur. Studien des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts 7
Anzahl Seiten
463 S.
Preis
68,00 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Pelger, München

Der Ehrentitel „Ha-Gaon ha gadol“ – großer Gelehrter des jüdischen Glaubens – wurde dem Rabbiner Michael Sachs (1808-1864) von seinen Anhängern bei der Beerdigung auf dem Berliner jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee verliehen (S. 118). Dass diese höchste Auszeichnung für rabbinische Gelehrte auf dem Grabstein des plötzlich Verstorbenen innerhalb jüdischer Kreise nicht nur auf Zustimmung, sondern auch vehemente Kritik stieß, zeigt aus der biographischen Rückschau ganz symbolisch, welche schwierige Position Sachs zwischen Orthodoxie und Reformbewegung als Prediger und Wissenschaftler seiner Zeit einnahm. Denn einerseits wurde von neuorthodoxen Kreisen angezweifelt, inwiefern Sachs, als Vorkämpfer des ‚positiv-historischen’ Judentums, mit Leben und Werk in der Tradition der babylonischen Talmudgelehrten gestanden habe. Andererseits hatten die Anhänger Sachs den Titel in bewusster Überhöhung zu seinem reformfreudigeren Gegenspieler Samuel Holdheim (1806-1860) gewählt, der auf seinem gleich benachbarten Grabstein ‚nur’ als „rabban“ – ehemals der Titel des Präsidenten des hohen Rates Sanhedrin – bezeichnet worden war.

Margit Schad beschäftigt sich in vorliegender Studie erstmals ausführlich mit dem Leben des Rabbiners und Wissenschaftlers Michael Sachs. Damit widmet die Autorin einer der bedeutendsten „middle-of-the-road figures“ (Michael A. Meyer) des deutschen Judentums eine systematische Biographie, die dem zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Prediger und Gelehrten einen angemessenen und eigenständigen Platz in der Geschichte des modernen Judentums und seiner religiösen Strömungen zuweisen soll. Zurecht macht Schad das Vergessen von Sachs an zwei Forschungsdesideraten fest: wurde der deutsch-jüdischen Predigt, ebenso wie der mit ihr im Austausch stehenden Wissenschaft des Judentums, nach wie vor nicht die verdiente Anerkennung in der deutschen Religions- und Geistesgeschichte zuerkannt, fällt beim biographischen Beispiel Sachs zudem verstärkend eine Vernachlässigung der Erforschung der Geschichte der jüdischen Gemeinde Berlins, in der Sachs seit 1844 als Rabbiner wirkte, ins Gewicht. Neben diesen allgemeinen Vernachlässigungen der Forschung, die auch andere jüdische Persönlichkeiten im Schatten deutscher Kulturgeschichte verschwinden lassen, erkennt die Autorin des Weiteren eine bewusste Verdrängung des Rabbiners und Wissenschaftlers Sachs aus dem kulturellen Gedächtnisses aufgrund ideologischer Strategien (S. 12). Und tatsächlich ist es nicht einfach, Sachs historisch zu verorten. Dies liegt vor allem daran, dass er seine Stellung zwischen Orthodoxie und Reform weder organisatorisch noch theoretisch festigte. Stattdessen entwickelte er, wie Schad detailliert und aufschlussreich darstellt, sein „System Sachs“ aus philologischen Untersuchungen zur Talmudsprache, Liturgie, Bibelauslegung und Religionsphilosophie.

Was aber macht Sachs aus heutiger Sicht überhaupt betrachtenswert? Er gehörte jener Generation junger Juden im deutschsprachigen Raum an, die nach der Wende zum 19. Jahrhundert erstmalig, etwa durch die Möglichkeit des Studiums, von der zunehmenden rechtlichen Gleichstellung profitierten, zugleich aber durch althergebrachte sowie neue Ressentiments weiterhin von wesentlichen Bereichen der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen blieben und nach einem neuen, modernen Selbstverständnis zwischen Tradition und Emanzipation suchten. Aus dem schlesischen Groß-Glogau stammend wurde Sachs wie viele seiner Zeitgenossen von der kulturellen und wissenschaftlichen Strahlungskraft Berlins angezogen. Hier sollte die Begegnung mit der klassischen Philologie und ihrem charismatischen Lehrer an der Universität August Boeckh (1785-1867) sowie dem bereits in der Berliner Gesellschaft weit bekannten Vorkämpfer der jungen Wissenschaft des Judentums Leopold Zunz (1794-1886) entscheidenden Einfluss auf Sachs weiteren Lebenslauf nehmen. Denn von nun an näherte er sich auf philologischen Pfaden einem neuen Religionsverständnis, das sich zwischen historisch-kritischer Methode und traditioneller Gesetzestreue bewegte.

Schad folgt dieser selbstbewussten, konfrontativen und durchaus streitbaren Persönlichkeit auf ihrem Lebensweg als „Rabbiner“, „Prediger“ sowie „Übersetzer und Gelehrter“ – so die systematisch-biographische Kapiteleinteilung des Buches – und markiert dabei immer wieder die Unwegsamkeiten mit denen der jüdische Intellektuelle zu kämpfen hatte und die schließlich auch zum Vergessen seiner Persönlichkeit führten. Dabei wirkte Sachs als Pionier. Nach seiner Rückkehr aus Prag, wo er als Religionslehrer und Prediger tätig war, trat er in der preußischen Hauptstadt als erster promovierter Rabbiner die Stelle des Rabbinatsassessoren an. Gegen alle Widerstände gelang es Sachs die deutsche Predigt und einen gemäßigten Kurs in der Alten Synagoge einzuführen. Eine gemäßigte Reform mit gesichertem Fortbestand sollte ihm aber aufgrund der eigenwilligen Haltung des Gemeindevorstandes nicht gelingen.

In seiner Lehre vertrat Sachs die Einheit von Gesetz und Ethik. Nach seiner Auslegung, die sich auf die Anschauungen der Propheten sowie Plato und Hegel gründete, wird die kultische Vorschrift als zunächst notwendiges Gesetz durch die göttliche Stimme im Menschen (daimonion) zu dessen „innerstem Eigentum“ und schließlich zur instinktiven Eingebung (S. 66f.). Vorbilder für diesen Gedankengang fand er in den Schriften jüdischer Gelehrter aus dem spanischen Mittelalter, mit denen er sich intensiv beschäftigte und die auch die Forderung nach der Torafrömmigkeit in seinen Predigten nachhaltig beeinflussten. Zugleich hebt Schad die Entdeckung des dialogischen Prinzips in Sachs' Religionsethik hervor, mit dem er das Judentum zur höheren Lebensanschauung erklärte und die späteren Gedanken Martin Bubers von einem dialogischen ‚Ich und Du’ zwischen Mensch und Gott bereits vorwegnahm (S. 431f.). Im Sinne der ‚positiv-historischen’ Judentums lehnte Sachs den göttlichen Ursprung mündlicher Lehre ab, hielt aber an der Autorität der Halacha (gesetzliche Vorgaben) fest und erkannte zudem die zu seiner Zeit oft unterschätzte Bedeutung der Aggada (erzählerische Tradition). Nach seiner Auffassung bedeutete die fortwährende Auslegung im jüdischen Schrifttum einen Reflexionsprozess, der das Judentum in der kulturellen Auseinandersetzung immer wieder zu sich selbst führe.

Schließlich sollte für Sachs die Predigt „Leben“ und „Wirklichkeit“ sein. Als passionierter Redner gelang es ihm seine Gemeinde derart in den Bann zu ziehen, dass man ihn sogar als „Cicero von Berlin“ bezeichnete (S. 311ff.). Inhalt seiner Predigten war die Aufforderung der Gemeindemitglieder zur Selbstveränderung. Entsprechend seiner Religionslehre sollte ein jeder durch die Ausrichtung an seinem „höheren Selbst“, dem ihm innewohnenden Göttlichen, zu einer höheren Lebensanschauung gelangen. Doch verharrte Sachs bei seiner Seelsorge nicht im Theoretischen sondern engagierte sich in seiner Gemeinde auch in zahlreichen sozialen Projekten.

Margit Schad leistet Grundlagenarbeit und lässt in ihrer detaillierten Biographie Sachs als bedeutende Persönlichkeit der Geistes- und Religionsgeschichte im 19. Jahrhundert erscheinen. Allerdings stellt sich dem Leser abschließend die Frage, inwiefern das Leben und Werk von Sachs jene Ausnahme darstellte, als die sie Schad immer wieder hervorhebt. Natürlich wird man die Feststellung, dass Sachs trotz seiner Verflechtungen mit den „jüdischen und nichtjüdischen Auseinandersetzungen seiner Zeit“, „trotz aller Abhängigkeiten eine religiöse und weltanschauliche Haltung ‚sui generis’ inkorporiert“ (S. 14), bei Betrachtung der (jüdischen) Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert kaum anzweifeln. Doch es bleibt offen, an welcher Größe sich die Bezeichnung Sachs’ als „die eigenwilligste Persönlichkeit der ‚mittleren’ Strömung“, als „Eklektiker und Querdenker, der im Lager des ‚positiv-historischen’ Judentums Besonderheit und Eigenständigkeit bewahrte“, bemisst (S. 425). Würde diese, oder eine der jeweiligen religiösen Ausrichtung entsprechende Bezeichnung, nicht auch auf andere Persönlichkeiten zutreffen? Denn schließlich bestätigt in der jüdischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts die Ausnahme nicht die Regel, sondern sie war, aufgrund der religiösen, sozialen und kulturellen Herausforderungen, die Regel. Unterschiedliche Vorstellungen über religiöse Ausrichtungen, fehlende programmatische Festschreibungen und vor allem kaum vorhandene organisatorische Strukturen machten die jüdische Wissenschaft und Religion zu einem vielstimmigen Unternehmen, das von einem heterogenen Kreis getragen wurde, dessen genuines Interesse schließlich die Erforschung und der Erhalt des Judentums war. Eine umfassende, systematische Untersuchung dieses ganz eigenen und so bedeutenden Teils deutscher Geistes- und Kulturgeschichte bleibt eine Herausforderung an die historische Forschung und könnte hervorragend auf Arbeiten, wie der vorliegenden, aufbauen.1

Anmerkung:
1 Aufgrund der vorgebrachten Komplexität ihrer Entwicklung im 19. Jahrhundert herrscht bei der Erforschung jüdischer Geistes- und Religionsgeschichte traditionell ein biographischer Zugang vor und bleibt auch sinnvoll. Dennoch gibt es darüber hinaus besonders hervorzuhebende, weiterführende Ansätze einer systematischen Annäherung. Siehe Christian Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere?, Tübingen 1999.

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