Rez. MA: A. Vauchez (Hg.): Encyclopedia of the Middle Ages

Titel
Encyclopedia of the Middle Ages.


Herausgeber
André, Vauchez; in collaboration with Barrie Dobson and Michael Lapidge
Erschienen
Cambridge 2001: James Clarke
Anzahl Seiten
2 Bde., XXIV, 1624 S. mit Abb., Farbtafeln
Preis
£195.00 / € 340,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Enno Bünz, Historisches Seminar der Universität Leipzig

Dieses zweibändige Mittelalterlexikon ist bereits 1997 in einer französischen und 1998/99 in einer italienischen Ausgabe erschienen. Schon aufgrund seines Umfangs stellt es natürlich keine Alternative zum zehnbändigen "Lexikon des Mittelalters" (1980 - 1999) dar, und zumindest vom Umfang her kann es auch nicht an dem zwölfbändigen amerikanischen "Dictionary of the Middle Ages" (1982 - 1989) gemessen werden. Unübertroffen bleibt auch das vielbändige "Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder fra vikingetid til reformationstid", das trotz seines ungeheuren Informationsgehalts außerhalb Skandinaviens leider noch immer zu wenig bekannt ist und auch im vorliegenden Lexikon nicht zitiert wird. Einen enzyklopädischen Anspruch wie die genannten Nachschlagewerke erhebt die "Encyclopedia of the Middle Ages" allerdings auch nicht, die in "nur" zehnjähriger Arbeit erstellt worden ist.

Mit 600 Gelehrten hat dazu eine stattliche Schar von Mitarbeitern beigetragen, die ganz überwiegend dem frankophonen und anglophonen Bereich entstammen. Dabei ist es gelungen, z.T. namhafte Autoren zu gewinnen, von denen hier nur Françoise Autrand, Joseph Avril, Philippe Contamine, Anne J. Duggan, Robert Fossier, Jean Gaudemet, Jean-Philippe Genet, Anne-Marie Jayez, Ruedi Imbach, Jean-Loup Lemaitre, Jean-Marie Martin, Agostino Paravicini Bagliani, Michel Parisse, Jean Richard, Pierre Riché, Bertrand Schnerb und Jacques Verger stellvertretend genannt seien. Mit den französischen Historikern Joseph Morsel und Martial Staub haben auch zwei Kenner der deutschen Geschichte des Spätmittelalters mitgewirkt. Das Mitarbeiterverzeichnis (S. 1582-1592) nennt zugleich die bearbeiteten Lemmata, so dass ersichtlich ist, welche Themenbereiche von anerkannten Fachleuten bearbeitet und welche weniger erfahrenen und weniger ausgewiesenen Wissenschaftlern übergeben worden sind. Entsprechend ungleichgewichtig ist das Ergebnis. Die im Folgenden anzusprechenden Probleme dürften im wesentlichen mit der disparaten Autorenauswahl zusammenhängen. Mediävisten aus dem deutschsprachigen Raum sind übrigens nicht nur in der absoluten Minderzahl, sondern sie sind insgesamt auch nur mit wenigen Artikeln betraut worden (z.B. Hagen Keller, Werner Maleczek, Franz Neiske und Gerhard Theuerkauf). Einen Maßstab für die unbestreitbaren Leistungen der Mittelalterforschung in Deutschland, Österreich und der Schweiz wird man daraus gewiss nicht ableiten können. Vielmehr drängt sich die Frage auf, ob diese Leistungen von der Mediävistik in den anderen europäischen Ländern bislang auch ausreichend zur Kenntnis genommen worden sind. Das vorliegende Lexikon gibt jedenfalls Anlass, daran zu zweifeln.

Die richtige Wahl der Bearbeiter, die Auswahl und Gewichtung der Lemmata, das sind die Kernprobleme, vor denen der Herausgeber eines solchen Nachschlagewerkes steht. Der Horizont des Werkes ist auf den mittelalterlichen "orbis christianus" ausgerichtet, wobei freilich das Judentum und der islamische Kulturkreis nicht ganz vernachlässigt werden sollen, wie Vauchez einleitend betont. Thematisch liegt das Schwergewicht des Lexikons auf den Bereichen der Philosophie, Theologie, Frömmigkeit, Liturgie und Ikonographie. Freilich kann man alles übertreiben. Nicht jedem Mediävisten wird nachvollziehbar sein, warum die Mystikerin Mechthild von Hackeborn auf gut einer Druckseite behandelt wird (S. 931f.) und auch der gleich anschließende Artikel über Mechthild von Magdeburg immerhin noch mehr als eine Druckspalte füllen muss (S. 932f.), die Darstellung einer Landschaft wie Thüringen hingegen mit weit weniger Raum auszukommen hat. Geradezu verblüffend ist es, wenn man bei der Durchsicht der "Encyclopedia" auf Artikel über Klöster wie "Adelhausen" (bei Freiburg, S. 17) oder "Engelthal" (bei Nürnberg, S. 484) stößt, die an sich historisch recht unbedeutend waren, in diesem Nachschlagewerk aber aufgrund ihrer kurzfristigen Rolle in der deutschen Mystik berücksichtigt werden. Wohlgemerkt, die "Encyclopedia" unternimmt den Versuch, auf 1624 zweispaltig bedruckten Seiten das europäische Mittelalter mitsamt Randkulturen darzustellen. Welcher Stellenwert gebührt in diesem Kontext der deutschen Mystik? Das Problem der angemessenen Auswahl und Gewichtung wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass die Stichwörter "Hamburg" (S. 654f.) und "Hanse" (S. 655) gleichermaßen knapp in Spaltenlänge abgehandelt werden mussten. Für die meisten biographischen Artikel stand übrigens durchschnittlich noch weniger Raum zur Verfügung.

Bei der Lektüre mancher Artikel entsteht der Eindruck, dass es keine deutschsprachige Forschung zu diesen Themen gibt. Man schlage nur nach unter "castle", "climate", "fortification", "hospital", "manse", "Marsilius of Inghen", "notary, notariate", "official, officiality", "polyptych", "testament", "textiles", "visit, pastoral" – die Aufzählung ließe sich leicht vermehren. Hier handelt es sich keineswegs um eine bloße Disparität in der Literaturauswahl, sondern dies führt auch dazu, dass manche Artikel inhaltlich unausgewogen sind, – als gehöre die deutsche Geschichte nicht zum europäischen Mittelalter. Bei anderen Stichworten, z.B. "foundation" oder "missi dominici", ist die Literatur völlig veraltet. Im Artikel über die „Hanse“ wird lediglich Dollingers Klassiker von 1964 (!) angegeben, als hätte seitdem in der Forschung Stillstand geherrscht. Auch die Forschung über „Leipzig" und "Lübeck" scheint über das französischsprachige Hanse-Buch von Dollinger nicht hinausgekommen zu sein, wenn man die Literaturnachweise zum Maßstab nimmt. In der Stadtgeschichtsforschung (Artikel "town") scheint sich der deutsche Beitrag zur Thematik nach Meinung des Verfassers in einem älteren Buch von Edith Ennen zu erschöpfen. Über das mittelalterliche Dorf ("village") ist gar kein deutschsprachiger Beitrag zu verzeichnen. Dies gilt auch für andere Artikel wie z.B. "Adalard of Corbie", "collegiate church", "nepotism", "Norbert of Xanten" usw. usf. Der Verfasser des Artikels über "Nicholas of Cusa" scheint weder das grundlegende Quellenwerk "Acta Cusana" zu kennen noch jemals einen Beitrag von Erich Meuthen in Händen gehalten zu haben. Die Erforschung des Niederkirchenwesens (siehe z.B. das Lemma "parish") und des Niederklerus (vgl. den Artikel "parish priest") scheint in den letzten Jahrzehnten im Wesentlichen von französischen Gelehrten geleistet worden zu sein. Jeder Kenner dieser Forschungsbereiche weiß, dass dem nicht so ist. Besonders ärgerlich ist es, wenn kritische Forschungsansätze ausgeblendet werden wie beispielsweise in dem Artikel "Adalbero of Laon" die substantielle Kritik von Otto Gerhard Oexle an der als Literatur zitierten Edition von Claude Carozzi und den daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen über die Dreiteilung der hochmittelalterlichen Gesellschaft. Das Verschweigen kritischer Aspekte ist natürlich kein Zufall, ist doch der Lexikonartikel von Carozzi selbst verfasst worden! Wie Vauchez im Vorwort betont, ist angesichts der "bibliographical explosion" der Mittelalterforschung in den letzten Jahrzehnten nun die Zeit gekommen "to harvest and publish the fruits of this rich growth". Gerade deshalb hätte aber die bibliographische Titelauswahl insgesamt sorgfältiger ausfallen müssen.

Nach manchen wichtigen Stichwörtern sucht man vergebens, z.B. communication, manorial system (Grundherrschaft), memoria, printing, Thietmar of Merseburg, Wettin (Wittelsbach fehlt hingegen nicht) u.a.m. Die Geschichte der mittelalterlichen Ostsiedlung wird von den hier federführenden westeuropäischen Mediävisten offenbar nicht mehr als geschichtsrelevant angesehen "to help Europeans of the third millennium identify with an inheritance that still marks their way of life" (Vauchez im Vorwort über den höheren Zweck der Encyclopedia); selbst im Artikel "Slavs" wird nicht auf diesen epochalen Vorgang eingegangen, obschon ein grundlegendes Buch über die Ostsiedlung der französische Mediävist Charles Higounet verfasst hat. Der Artikel "Saxons, Saxony" wird nur den Leser befriedigen können, der sich über das frühmittelalterliche Sachsen informieren will. Die Territorialgeschichte des welfischen Nieder- und des wettinischen Obersachsen wird hingegen nicht thematisiert. Dagegen wird Thüringen ("Thuringia") aber behandelt. In der Übersichtskarte von Deutschland (Band 1, hinterer Buchdeckel) ist Staufen (gemeint ist die Burg Hohenstaufen) irrtümlich im Breisgau, Windesheim (das Kloster der gleichnamigen Kongregation) am Mittelrhein eingezeichnet. München findet sich zwar in der Karte, wird aber im Lexikon nicht behandelt. Über die Auswahl der topographischen Stichwörter (Städte, Klöster, Landschaften) wird man trefflich streiten können, aber es natürlich bedauerlich, dass ein Lemma wie "Heidelberg" (eine der ältesten Universitäten Mitteleuropas) fehlt, während – wie erwähnt – zeitweilige Zentren der Mystik lang und breit gewürdigt werden. In chronologischer Hinsicht wird das Früh- und Hochmittelalter intensiver behandelt als das späte Mittelalter.

Die kritischen Bemerkungen dürfen allerdings nicht überbewertet werden. Lücken wird man selbstverständlich in jedem Nachschlagewerk finden können, das mit einem eng umrissenen Umfang auskommen muss, wie es hier der Fall ist. Manche Einseitigkeiten in der Literaturauswahl werden sich wohl auch in einer überarbeiteten Neuauflage bereinigen lassen. Schwieriger wird es sein, die Kommunikationsprobleme zwischen der westeuropäischen und der deutschsprachigen Mediävistik zu überwinden, die es offenbar gibt. Insgesamt liegt jedoch ein nützliches und übersichtliches, aufgrund des Bandformats allerdings keineswegs handliches Nachschlagewerk vor, das man – ergänzend zum "Lexikon des Mittelalters" – von Fall zu Fall konsultieren wird. Einen Vorzug des vorliegenden Werkes stellen die zahlreichen in den Text integrierten Abbildungen dar, die allerdings nicht immer in optimaler Qualität reproduziert worden sind. Völlig überflüssig sind hingegen die farbigen Abbildungstafeln, die ohne Zusammenhang mit den Lemmata des Lexikons sind.

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