M. Cattaruzza: L'Italia e il confine orientale 1866-2006

Titel
L'Italia e il confine orientale 1866-2006.


Autor(en)
Cattaruzza, Marina
Reihe
Saggi 661
Erschienen
Bologna 2007: Il Mulino
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 27,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans Lemberg, Philipps-Universität Marburg

Einer deutschen Leserschaft ist das historische Problem der „Ostgrenze“ insbesondere im deutsch-polnischen Bereich weitgehend vertraut. Die Situation der italienischen Ostgrenze, in vielem vergleichbar, tritt indes seltener ins Bewusstsein. Die seit den 1990er-Jahren aufgeblühte Konjunktur von Forschungsergebnissen über Grenzen in der Geschichte hat für diese Region in dem hier anzuzeigenden Buch über „Italien und die [gemeint ist: seine] Ostgrenze“ eine neue Frucht gebracht.

Seit Dennison I. Rusinows Oxforder Arbeit von 1969 über „Italy’s Austrian Heritage“ 1 war eine lange Zeit vergangen, bis 2004 Rolf Wörsdörfer seine bahnbrechende Studie über den „Krisenherd Adria“ 2 vorlegte. Wenn jetzt die Berner Ordinaria für Neueste Allgemeine Geschichte Marina Cattaruzza in einer synthetischen Darstellung das „confine orientale“ für die große und wechselvolle Zeitspanne von der Gründung des italienischen Nationalstaates 1866 bis zum „Ende der Nachkriegszeit“ mit der weitgehenden Aufhebung der italienisch-slowenischen Grenze im Rahmen der europäischen Regelungen 2005-2008 ausführlich abhandelt, dann geschieht das nicht nur, um die gerade in dieser Region zwischen Friaul und Dalmatien häufig wechselnden Grenzverläufe und Grenzpartner (Habsburgermonarchie, SHS-Staat, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten, verschiedene Besatzungsmächte und Partisanenmilizen) in ihrem Wandel und mit ihren Bestimmungsfaktoren darzustellen. An diesem Thema exemplifiziert Frau Cattaruzza vielmehr ein zentrales Problem der nationalen Identitätsfindung Italiens, den Weg zum Faschismus und die Redemokratisierung Italiens nach 1945, vor allem aber das Generalthema der „Grenznationalismen“. Die Autorin ist für dieses Thema durch ihre profunden Kenntnisse der Geschichte Österreich-Ungarns im 19. und 20. Jahrhundert, insbesondere aber der Sozial- und Nationalitätengeschichte der triestinisch-dalmatinischen Region geradezu prädestiniert.

Der Grundakkord der vorliegenden Monographie wurde von Marina Cattaruzza schon vier Jahre zuvor mit einem Sammelband angeschlagen 3; auch damals waren es „entgegengesetzte Identitäten an der nordöstlichen Adria“, an denen das für die Forschung relativ neue Thema erarbeitet wurde. Der Schwerpunkt bei der jetzt vorgelegten Monographie liegt, anders als bei früheren Studien, auch auf der italienischen Nationsidee, die in der „Befreiung der unerlösten Gebiete“ eines ihrer Hauptziele sah. Absicht der Autorin war es, die „komplexe Rekonstruktion eines spezifischen historischen Wandels“ zu leisten, in der „auch die Diplomatiegeschichte ihren Platz findet“ (S. 13). So entstand ein höchst einleuchtendes, multiperspektivisches Bild.

Schon für die Ära zwischen Staatsgründung Italiens und Erstem Weltkrieg weist Marina Cattaruzza ein Geflecht von Aspekten nach, die mit der Ostgrenze verbunden waren. Die italienische Regierung befand sich nach 1866 in einer Zwickmühle: Die nach dem Anschluss Venetiens opportune Annäherung an Wien war an eine Dämpfung der Irredenta-Bewegung in Italien gebunden, die andererseits nicht ganz unterdrückt werden konnte, da der italienische Staat auf der Idee des Nationalismus beruhte. So erstarkte dennoch die Subkultur der Irredenta-Vereine, die sogar über eine Märtyrerfigur verfügte: Guglielmo Oberdan. Ähnlich wie die Polen in den preußischen Ostprovinzen wurden die slawischen Nachbarn Italiens im späten 19. Jh. durchaus verächtlich angesehen – hier aufgrund der Überzeugung, dass das Zivilisationsträgertum den Italienern zugekommen sei. Im „Irredenta-Diskurs“ wirkten die Behauptung der Italianität der „unerlösten“ Gebiete und die Vorstellung der „natürlichen Grenze“ (Alpenhauptkamm und Julische Alpen) zusammen. Triest war einer der wichtigsten Zielpunkte des italienischen imperialistischen Nationalismus, obwohl es zunächst auch hier Kräfte gab, die weder zur italienischen noch zu den slawischen Nationalbewegungen neigten. Erst nach der Annexion Bosniens und der Herzegowina (1908) gab Rom seine Zurückhaltung weitgehend auf und begann, entschiedener die Auslandsitaliener in Österreich-Ungarn zu fördern. Entsprechend radikalisierte sich der nationale Konflikt an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg.

Gleichzeitig mit dem Vorrücken des italienischen Nationalstaates nach Venetien erstarkten auch die Nationalbewegungen der Südslawen; die italienisch-slowenisch-kroatische Kontakt- und Überschneidungszone radikalisierte sich im Ersten Weltkrieg zunehmend, zumal die Alliierten im Zusammenhang mit dem Kriegseintritt Italiens Ende April 1915 auf alliierter Seite beiden Lagern Zukunftsversprechen machten, die sich bei Kriegsende nicht vereinen ließen.

Auf diesem Boden entstand der Konflikt zwischen zwei Siegern: Italien und dem SHS-Staat. Für Italien, den vermeintlich „betrogenen Sieger“, wuchs gerade an der Ostgrenze der „Grenzfaschismus“; die d’Annunzio-Episode in Fiume exemplifizierte das besonders drastisch. Parallel dazu schafften es die staatlichen Instanzen zunächst, nach längeren Verhandlungen im italienisch-jugoslawischen Vertrag von Rapallo 1920 eine für fast zwei Jahrzehnte dauerhafte Grenzregelung zu schaffen. Gleichwohl konnten, wie Cattaruzza zeigt, Fiume wie Bozen in der Folgezeit als „Exerzierplätze der Machtergreifung des Faschismus“ (S. 165) gelten: hier wurde erprobt, was im Marsch auf Rom und im faschistischen System im gesamten Staat verwirklicht wurde. Da Italien nicht zum Minderheitenschutz verpflichtet war, unterwarf der faschistische Staat in Südtirol wie auch in Julisch Venetien Schule, Presse, Vereinswesen der Minderheiten einer radikalen Italianisierung.

Im Zweiten Weltkrieg rutschte Italien durch seine ebenso hastigen wie erfolglosen Nachfolgefeldzüge nach den Hitlerschen Anfangssiegen in die Rolle eines deutschen Satelliten. Marina Cattaruzza breitet das Panorama von Kollaboration und Widerstand im nur zwei Jahre existenten italienischen Besatzungsgebiet Jugoslawiens aus. Nach der Kapitulation Italiens vom September 1943 und der Katastrophe der italienischen Militärstrukturen entstand in Julisch Venetien, in Istrien und Dalmatien zunächst eine Art von Niemandsland mit einem Chaos verschiedenster Machtgruppen und Einzelaktionen, deren Darstellung meisterhaft gelungen ist: Wehrmacht, SS, Tito-Partisanen, Militär der Republik von Salò, nationale oder kommunistische regionale Kampfgruppen aller Seiten: Kroaten, Italiener, Slowenen; italienische Antifaschisten usw. Diese anderthalb Jahre waren gekennzeichnet von Massenmorden und Vertreibungen, um faits accomplis für die künftige jugoslawisch-italienische Grenze zu schaffen. Nach der deutschen Kapitulation war diese Phase noch nicht zu Ende (monatelange Besetzung von Triest durch Tito-Partisanen); sie war geprägt durch Basisbewegungen (Nationalisten, Kommunisten, kriminelle Banden), aber darüber auch zunehmend durch das sich neu formierende, traditionell etwas übersichtlichere internationale System mit westalliierten Truppenteilen.

Nach der Pariser Friedenskonferenz von 1946/47 bekam die Triestfrage (diese bildet im Buch den roten Faden) wieder Konturen: Die Zonen A (anglo-amerikanisch besetzt) mit Triest und B (Istrien, jugoslawisch besetzt) wurden eingerichtet; die Zone A wurde auch als Vorposten gegen die sowjetische Bedrohung verstanden. 1954 wurde A italienisch, B jugoslawisch, und die so entstandene neue Grenze wurde 1975 in Osimo bestätigt. Bis dahin hatte das Triest-Thema jahrelang die italienische Öffentlichkeit aufgewühlt; nach Osimo erlosch dieses gesamtitalienische Interesse schlagartig; die Frage der italienischen Ostgrenze geriet also in ein ruhigeres, vor allem zwischenstaatliches Fahrwasser. Gleichwohl blieb Triest weiterhin der Brennpunkt des ausgedehnten Gebietes von den Julischen Alpen bis Istrien.

Nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens sorgten Fragen der Staatensukzession nochmals in Rom für Aufregung; die Darstellung wendet sich zur Gegenwart hin auch verstärkt der Bewegung in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen zu. Triest und der italienischen Ostgrenze eröffneten sich im Rahmen von Pentagonale und Alpen-Adria-Region neue Chancen. Andererseits gab es nach wie vor Spannungen zwischen Triest und Rom.
Wenn die Regierung Berlusconi auf Restitution von ehemals italienischen Immobilien drängte und die Verhinderung des EU-Beitrittes von Slowenien androhte, so mochte das ebenso an deutsch-tschechische Konstellationen in der Ära der Hysterie über die „Benesch-Dekrete“ erinnern, wie auch der in Italien 2004 eingerichtete „Tag der Erinnerung“ an die italienischen Toten und Vertriebenen aus Istrien und Dalmatien in seiner historischen Kontextlosigkeit an die Gefahren einer voraussetzungslosen Selbstbemitleidung deutscher Vertriebenen-Gedenkinitiativen erinnert.

Solche Parallelen liegen auch für frühere Epochen nahe: Die Vergleiche der nationalpolitischen Verhältnisse an der italienischen Ostgrenze mit der hinsichtlich der ethnischen Mischung und der Irredenta-Situation ähnlich strukturierten Nordgrenze (Südtirol bzw. Trentino) und der Parallelität von „Italiani d’oltreconfine“ und „Auslandsdeutschen“ werden zwar ab und zu exemplarisch angestellt, lohnten aber eine ausführlichere Beobachtung; die Verfasserin drängt sogar mit Recht darauf, diesen Vergleich auch auf die analogen Grenzsituationen in den übrigen Nachfolgestaaten auszudehnen (S. 188) – ein lohnendes Feld für künftige Forschung.

In Hinsicht auf die exemplarische Bedeutung dieser Monographie in vielen Hinsichten, auch für die „Grenznationalismen“ in Ostmitteleuropa, wäre angesichts der außerhalb Italiens zu geringen Rezeption italienischer Fachliteratur sogar eine Übersetzung des Buches ins Deutsche oder Englische zu empfehlen; dabei müssten freilich politische Figuren, Lieux de mémoire und dergleichen, die nur der italienischen Leserschaft bei bloßer Nennung ohne weiteres vertraut sind, erläutert und eine mehrsprachige Ortsnamenkonkordanz im dalmatinisch-istrischen Bereich hinzugefügt werden.

Anmerkungen:
1 Dennison I. Rusinow, Italia’s Austrian Heritage, 1919-1946, Oxford 1969.
2 Rolf Wörsdörfer, Krisenherd Adria 1915-1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum, Paderborn 2004. Siehe dazu die Rezension von Sabine Rutar in: H-Soz-u-Kult, 08.12.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-167>.
3 Marina Cattaruzza (Hrsg.), Nazionalismi di frontiera. Identità contrapposte sull’Adriatico nord-orientale 1850-1950 (La ragione degli storici. 4), Soveria Manelli 2003. Hier finden sich Beiträge solch kompetenter Autorinnen und Autoren wie Sabine Rutar, Gianluca Volpi, Vanni D’Alessio, Rolf Wörsdörfer, Glenda Sluga und Gloria Nemec.

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