Deutsche Besatzungsherrschaft im Osten

: Die 'Endlösung' im Ghetto Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944. Darmstadt 2006 : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ISBN 978-3534191499 520 S. € 74,90

: Judenmord in Zentralpolen. Der Distrikt Radom im Generalgouvernement 1939-1945. Darmstadt 2007 : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ISBN 978-3534202669 408 S. € 79,90

: Deutsche Besatzungspolitik in Polen. Der Distrikt Radom 1939-1945. Paderborn u.a. 2006 : Ferdinand Schöningh, ISBN 978-3506756282 421 S. € 44,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Jochen Arnold, Berlin

In letzter Zeit erschienen zahlreiche Regional- oder Spezialstudien zum Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Die hier anzuzeigenden Bände zeigen jedoch eindrucksvoll, wie lückenhaft das Wissen über die Ermordung der Juden selbst in Polen und der Sowjetunion noch ist – jenen Ländern, die am meisten unter der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gelitten haben. Die Untersuchungen von Andrej Angrick, Peter Klein, Jacek Andrzej Mlynarczyk und Robert Seidel schließen klaffende Lücken. Die ersten beiden Bände sind als Veröffentlichungen der überaus aktiven Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart erschienen. Nach den Studien zum Judenmord in den Distrikten Lublin und Galizien legen Mlynarczyk und Seidel gleichzeitig Untersuchungen zum bislang vernachlässigten Distrikt Radom vor, die sich aufgrund unterschiedlicher Perspektiven und Fragestellungen ausgesprochen gut ergänzen.1 Dabei profitieren alle Bände von den Unterlagen aus osteuropäischen Archiven, die der Forschung seit einigen Jahren in vollem Umfang zur Verfügung stehen. Angrick/Klein berücksichtigen Material aus über zwanzig Archiven, Mlynarczyk und Seidel beziehen auch die polnische Literatur zum Thema ein.

Ein gemeinsames Kennzeichen ist die akribische Darstellung der Herrschaftsstrukturen und Mordaktionen, was dem Gegenstand geschuldet ist – der Rekonstruktion von Verbrechen. Aus diesem Grund stützen sich alle Autoren intensiv auf das Material der Ermittlungsverfahren gegen NS-Verbrecher der Außenstelle Ludwigsburg des Bundesarchivs und versuchen, die in diesen Unterlagen dominierende juristische Perspektive durch zeitgenössische Akten und Erinnerungsberichte zu ergänzen. Insbesondere die Studie zum Judenmord in Lettland ist durch eine minutiöse Darstellung des Ablaufs der Mordaktionen sowie der Konflikte zwischen den beteiligten Dienststellen gekennzeichnet. Trotz der allzu berechtigten Kritik an der geringen Zahl verurteilter NS-Täter zeigt das ausgebreitete Material einmal mehr, wie akribisch die Ermittlungen in den 1960er- und 1970er-Jahren geführt wurden, die zur unverzichtbaren Grundlage für die historische Forschung avancierten.

Andrej Angrick und Peter Klein legen – nach Jahren intensiver und durch andere Projekte unterbrochener Forschung – ihre Studie zum Judenmord in Lettland vor, die als Standardwerk künftige Forschungen inspirieren wird.2 Das besondere Verdienst liegt in einer umfassenden Darstellung des „Mikrokosmos der Täter“. Einer einführenden Darstellung zur Geschichte Lettlands im 20. Jahrhundert folgt die Schilderung der deutschen Vorbereitungen auf den Vernichtungskrieg. Nach den Pogromen und den Massenmorden in den ersten Wochen des deutsch-sowjetischen Krieges wurde Ende Juli 1941 – auf Initiative der Wirtschaftsinspektion und in Vorbereitung der Übergabe des Gebietes an die Zivilverwaltung – die Einrichtung eines Ghettos in Riga vorangetrieben. Ausführlich werden die Interessen und Konflikte zwischen den beteiligten Organisationen bei der Errichtung des „lettischen Ghettos“ in Riga beschrieben, die sich vor allem um die Ausbeutung der Arbeitskraft der Menschen drehten. Die Sicherheitspolizei trat dabei in den Hintergrund und nahm „polizeiliche Aufgaben“ wahr, wozu auch der Mord an kranken und schwachen Menschen zählte, die permanent selektiert wurden. Letztlich wurde die Einrichtung von Ghettos bei der Sicherheitspolizei aber immer als Zwischenlösung betrachtet, der eine völlige „Entfernung“ – also Ermordung – der Juden folgen sollte.

Im November 1941 befahl Himmler die „Liquidierung“ des Rigaer Ghettos. Der Höhere SS- und Polizeiführer Ostland, Friedrich Jeckeln, bereitete den Massenmord nach einem erprobten System vor, das einen permanenten Zufluss von Opfern gewährleistete: In Marschblöcken wurden jeweils 500 bis 1000 Menschen zu vorher ausgehobenen Gruben in dem Wald von Rumbula geführt, einige Kilometer von Riga entfernt. Im Wald mussten sich die Männer, Frauen und Kinder ausziehen und wurden in kleinen Gruppen in die Gruben geführt, wo sie sich auf zuvor bereits Erschossene legen mussten. Am Abend des 30. November 1941, dem ersten Tag des ungeheuerlichen Mordens, waren bereits 14.000 Menschen tot. Beobachtende Offiziere der Wehrmacht protestierten in Berlin, und gleichzeitig, so stellte man im Reichssicherheitshauptamt fest, gab es auch im Deutschen Reich Wehrmachtsstellen oder Offiziere, die „in auffälliger Weise“ für jüdische Bürger intervenierten, was lediglich in der Empfehlung mündete, die Morde „in unauffälliger Form“ vorzunehmen (S. 169f.). Insgesamt wurden in diesen Tagen 27.800 Menschen ermordet, um im Ghetto Platz für die eintreffenden deutschen Juden zu schaffen. In den folgenden Monaten wurden über 15.000 Personen aus Deutschland, Wien, Prag und Brünn nach Riga deportiert, die u.a. das – bislang kaum bekannte - Konzentrationslager Salaspils aufzubauen hatten.

Der zweite Teil der Studie beschäftigt sich vor allem mit der Zwangsarbeit der Deportierten, der Verwertung des Vermögens der Ermordeten und den divergierenden Interessen der deutschen Organisationen bei der Ausbeutung der Arbeitskraft, die das Massenmorden lediglich verzögerten. Himmler, so die These, habe die „Ghettojuden“ zu Häftlingen des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS gemacht, um ihre Ermordung gegen alle Widerstände durchsetzen zu können (S. 481). Ausführlich behandelt wird auch die „Blechplatz-Aktion“ im Oktober 1942, die sich gegen organisierte Fluchten aus dem Ghetto und den Aufbau eines systematischen Widerstands durch Angehörige des jüdischen Ordnungsdienstes richtete. Ebenso wie Robert Seidel beschreiben Angrick/Klein abschließend die schwierige Verfolgung und Bestrafung der Täter nach dem Krieg.

Als Resultat der Untersuchung verschiedener Lager sind die unterschiedliche Behandlung durch Kommandierende und die radikalen Wechsel im Verhalten bemerkenswert: der Prügelnde konnte gleichzeitig auf „Tanzvergnügungen“ jüdische Lieder singen. Auf diese Weise wird neuerlich ein beängstigendes Licht auf die „normalen Männer“ (Christopher Browning) geworfen. Auf die ausführliche Beschreibung der deutsch-sowjetischen Verhandlungen zum Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 hätte man dabei zugunsten einer intensiveren Behandlung der Geschichte des Antisemitismus’ in Lettland verzichten können. Welche Rolle spielten die – gerade im Nordgebiet – belegten Proteste seitens der Wehrmacht gegen die „wilden“ Morde im Sommer 1941? Wünsche der Wehrmacht und der Zivilverwaltung führten offenbar zu einer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Interessen und zur zwischenzeitlichen Aufgabe der beabsichtigten Ermordung der Juden, und es stellt sich – wie auch bei der Studie Robert Seidels (siehe unten) – die Frage, ob die Proteste wirklich immer vornehmlich utilitaristisch motiviert waren.

Jacek Andrzej Mlynarczyk beginnt mit einer Beschreibung der Lebensbedingungen und der Beziehungen zwischen der jüdischen und christlichen Bevölkerung in der Region Kielce. Er stellt den ausgeprägten Antisemitismus in den 1930er-Jahren und das Bestreben des polnischen Staates vor, die Juden nach Madagaskar auszusiedeln. Im zweiten Teil seiner Studie beschreibt er die Entwicklung der Mordpolitik, beginnend mit den Maßnahmen der Militär- und Zivilverwaltung in den Jahren 1939/40, dem Aufbau der Besatzungsstruktur bis zur systematischen Isolierung und Ausbeutung der Juden. Dabei bietet er wie auch Robert Seidel eine überaus detaillierte Übersicht zum Aufbau der deutschen und der jüdischen Institutionen. Er verbindet in seiner Darstellung – anders als der auf den Besatzungsapparat konzentrierte Seidel – die Perspektiven von Tätern, jüdischen und polnischen Opfern, Mitläufern, Kollaborateuren und Widerständlern zu einem Gesamtbild der Mordpolitik, die den Umfang des Schreckens und die Ausweglosigkeit für die in Ghettos Gesperrten vor Augen führt. In Weiterführung neuerer Forschungsansätze werden die jüdischen Institutionen – etwa die Judenräte, der Ordnungsdienst oder Hilfswerke – im Spannungsfeld zwischen der Mitwirkung an Verbrechen und der Rettung Einzelner sowie die Beteiligung christlicher Polen an der Verfolgung oder Rettung jüdischer Menschen beschrieben. Von Angehörigen des Judenrates, die ihr Leben im Einsatz für ihre Gemeinde verloren bis zu „Profiteuren der Entrechtung“ (S. 227), die positiv wirken oder auch Juden in Lager verschicken lassen konnten und aufgrund ihrer intimen Kenntnisse im Ghetto gefürchtet waren.

Der zweite Teil schließt mit einem Kapitel zum Verhalten der jüdischen und christlichen Bevölkerung ab. Gerne hätte man dabei mehr über das Verhalten der polnisch-jüdischen Bevölkerung in den ersten Kriegstagen erfahren. Knüpfen sich doch daran – wie beim Angriff auf die Sowjetunion – Thesen zur Wahrnehmung der Juden durch die Besatzer, die eine Überprüfung und eingehende Widerlegung verdienen. Im dritten Teil der Studie wird die Ermordung der Juden im Distrikt Radom im Rahmen der „Aktion Reinhard“ behandelt, die Vorbereitungen auf den verschiedenen Ebenen, die Räumung der Ghettos und die Ausplünderung der in die Vernichtungslager deportierten Menschen. Auch hier spiegelt Mlynarczyk die Politik und Methoden der Besatzer an der Wahrnehmung und dem Verhalten der Opfer, wiederum ergänzt durch einen Abschnitt über die Reaktionen der christlichen Polen. Im abschließenden Teil beschäftigt er sich schließlich mit den jüdischen Zwangsarbeiterlagern im Distrikt.

Die christlichen Polen standen dem Schicksal der jüdischen Bürger – begünstigt durch die fortschreitende Ghettoisierung und dem Verschwinden aus dem Stadtbild – überwiegend desinteressiert gegenüber, hatten sie doch selbst unter den schweren Lebensbedingungen zu leiden. Nach der Auflösung der Ghettos ab Sommer 1942 retteten sich erstaunlich viele Menschen in die Wälder, in nicht wenigen Fällen gelang nahezu der Hälfte der Juden die Flucht. Auf Hilfe gegen die Jagdkommandos der deutschen SS- und Polizeiverbände und ihrer einheimischen Helfer konnten sie allerdings nicht rechnen. In den letzten beiden Jahren der Besatzung tobte ein grausamer Überlebenskampf, ein bellum omnium contra omnes, bei dem Rücksichten nur selten genommen wurden. Die Kriegslage und die damit verbundene Verschlechterung aller Lebensumstände brachte niederste Instinkte sowohl bei den sich jeder moralischen Bindung ledig fühlenden Besatzern wie den im Überlebenskampf stehenden Unterdrückten zutage.

Viele Polen, etwa die polnischen Widerstandsgruppierungen des rechtsnationalen Lagers, knüpften an den radikalen Antisemitismus aus der Vorkriegszeit an und beteiligten sich an Erpressung und Ausplünderung. Polnische Agenten machten für begehrte Belohnungen Jagd auf entflohene Juden und „jüdische Banden“ wurden von allen Widerstandsgruppen in unterschiedlichem Maße und in Abhängigkeit von den jeweiligen Anführern bekämpft. Gleichzeitig gab es viele Polen, die ihre jüdischen Nachbarn versteckten oder sie mit Lebensmitteln versorgten. Dafür war ein rational kaum zu erfassender Mut erforderlich, wurde doch die Aufnahme von geflohenen Juden mit der Todesstrafe bedroht, ganze Familie und völlig Unbeteiligte für Hilfsaktionen erschossen. Angesichts der allerorten herrschenden Gewalt fragt man sich, wer sich aus welchen Motiven überhaupt gegen das mörderische System von Terror und Verrat wendete. Maria Szczecinska aus Staszow etwa, allein stehende Mutter von fünf Kindern, die fünfzehn Menschen fast zwei Jahre versteckte und ihr Überleben sicherte, ist ein strahlendes Beispiel, über das man gerne mehr erfahren würde.3

Robert Seidel behandelt neben der Ausbeutung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung auch weitere Aspekte der Besatzungspolitik, nämlich die wirtschaftliche Ausbeutung des Distriktes, die Verschleppung von Polen zur Zwangsarbeit in das Deutsche Reich sowie die Partisanenbekämpfung. Gab es in den ersten Monaten Zehntausende Polen, die sich aus verschiedenen Gründen – vor allem Arbeitslosigkeit – freiwillig zur Arbeit im Reich meldeten, griff die Besatzungsmacht in dem Maße, wie diese Bereitschaft zurückging und der Druck zur Gestellung von Zwangsarbeitern wuchs, zu Auflagen und Androhung härtester Strafen. Wie bei den Auseinandersetzungen um die Ermordung der Juden standen auch hier die „Kriegsnotwendigkeiten“ im Vordergrund der Konflikte. Wollten die Zivilverwaltung und die durch deutsche Unternehmen oder die Wehrmacht geleitete Wirtschaft die Produktion im Generalgouvernement aufrechterhalten oder gar ausweiten, bemühte sich Hitlers Bevollmächtigter für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, möglichst viele Arbeitskräfte für die Landwirtschaft und die Industrie im Deutschen Reich zu „gewinnen“.

Trotz aller Zwangsmaßnahmen blieb die Verschleppung von Arbeitskräften aber immer hinter den Erwartungen der Besatzer zurück, wenngleich man fragen muss, ob 1944 bei einer Anforderung von 100.000 Arbeitskräften und der tatsächlichen Gestellung von 52.446 wirklich von einem „völligen Fehlschlag“ die Rede sein kann (S. 156). Ein wegweisender Aspekt der Studie ist die Berücksichtigung des Einsatzes von Zehntausenden für die Wehrmacht im „Baudienst“ oder im Transportwesen, ein vernachlässigtes Thema, das eine intensive Erforschung für die verschiedenen Länder unter deutscher Herrschaft verdient. Allein zur Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion sind im Sommer 1941 45.000 Panje-Gespanne mit Fahrern gestellt worden. Bedenkenswert ist dabei die These zur weitgehenden Handlungsfreiheit der Kreis- und Stadthauptleute, der untersten Verwaltungsebene. Die Androhung der Todesstrafe für Sabotageakte wurde allerdings zu dieser Zeit als legitim erachtet. Kann man also ohne intensive Vergleiche anhand solcher Kriterien Zeichen für „Selbstherrlichkeit“ und „Willkür“ Einzelner konstatieren (S. 50-53)? Handelte es sich dabei nicht um eine Übernahme der durch die Wehrmacht ausgegebenen Anordnungen?

Robert Seidel beschreibt die Stufen der „Terror- und Vernichtungspolitik“, die mit Verbrechen der Einsatzgruppen der Sipo und des SD, von Polizei- und Wehrmachtseinheiten in den ersten Wochen des Krieges begannen und zur „Herrschaftsmethode“ avancierten. Verordnungen der Zivilverwaltung boten sukzessive die formale Grundlage für eine Perpetuierung des Terrors durch SS- und Polizeiformationen, die Verhängung von Todesstrafen für kleine Vergehen oder die Einführung des Prinzips der kollektiven Haftung. Dabei werden drei „Terrorphasen“ unterschieden: die „Außerordentliche Befriedungsaktion“ 1940 gegen die polnische „Intelligenz“ und gegen Menschen, die etwa Widerstand leisten könnten; die Systematisierung des Terrors ab 1942 mit dem Mord an den Juden und den „Strafexpeditionen“ gegen vermeintliche Zentren der Widerstandgruppen oder gegen „Asoziale“, verbunden mit dem Niederbrennen von Dörfern und Verhaftungswellen; schließlich die Großunternehmen 1944 gegen Partisanen und die gleichzeitige Deportation von Tausenden Arbeitskräften.

Bei den unter dem nivellierenden Begriff „Terror“ behandelten Großaktionen hätte man sich eine differenzierendere Analyse gewünscht. Im Distrikt Radom wurden im April 1942 bereits 965 Überfälle gemeldet, im Herbst 1943 im Distrikt Krakau über 2500. Zahlreiche Verhaftungswellen und Aktionen scheinen dabei durchaus „erfolgreich“ gewesen zu sein. Widerstandsgruppen wurden zerschlagen, ein mühsamer Neuanfang war erforderlich. Eine Überprüfung der deutschen Erfolgsmeldungen anhand anderer Quellen könnte Erkenntnisse zu der Frage liefern, welche Ziele und Motive maßgeblich waren, ob die Methoden im Spannungsfeld zwischen „Intention“ und „Situation“ oszillierten usw. Seidel stellt fest, dass die Wehrmacht nach dem Ende der Militärverwaltung im Oktober 1939 eine „untergeordnete Rolle“ spielte (S. 393). Ihre Dienststellen versuchten vor allem und vorübergehend erfolgreich, jüdische Arbeiter vor der Deportation zu bewahren und – vergeblich – eine bessere Versorgung der Bevölkerung durchzusetzen. Außerdem wurde Kritik an den brutalen Ghettoräumungen geübt. Weil die Handlungsmöglichkeiten in der „Judenfrage“ begrenzt waren, ist aus den offiziellen Dokumenten aber kaum abzuleiten, dass man gegen die Ermordung der „arbeitsunfähigen“ Juden „nichts einzuwenden“ gehabt hätte (S. 394). Hier ist die eingeschränkte Aussagekraft der Quellen einzubeziehen: Das in den Akten überlieferte „Interesse“ der Wehrmacht galt „jüdischen Facharbeitern und Handwerkern, die man für kriegswichtige Produktion brauchte“ (S. 394), weil nur dies in ihre Kompetenz fiel und sich allein hier Handlungsmöglichkeiten boten.

Durch die Stationierung eines Großteils der Wehrmacht für den Angriff auf die Sowjetunion, die Unterkünfte benötigte, wurde 1941 die Ghettoisierung der Juden im Generalgouvernement vorangetrieben. Zur Vorbereitung ihrer Ermordung wurde die Zusammenfassung dann 1942 systematisch ausgeweitet. Insgesamt wurden allein aus dem Distrikt Radom über 360.000 Menschen in die Vernichtungslager deportiert und ermordet. Nach den Ermittlungen der polnischen Bezirkskommission zu den nationalsozialistischen Verbrechen wurden im Distrikt bei „Partisanenaktionen“ und im Rahmen des alltäglichen Terrors weitere 112.997 Menschen ermordet. In Anknüpfung an eine häufig aufgeworfene Frage könne es – so Seidel – keinem Zweifel unterliegen, dass die Besatzungspolitik auch auf einen Völkermord an den Polen abzielte, ein „Programm“, das „lediglich der Kriegsverlauf und der Widerstand“ verhinderten (S. 214). Der Autor verbindet seine überzeugende Analyse zum Distrikt mit den Entwicklungen im gesamten Generalgouvernement, eine Übersichtskarte würde deshalb die Lektüre erleichtern.

Die drei Arbeiten zum Judenmord und zur Besatzungspolitik in Polen und Lettland bieten lang erwartete Ergänzungen, setzen Maßstäbe und geben Hinweise für zukünftige Forschung. Allein die Einbeziehung zahlreicher Archive und schwer erreichbarer Literatur nötigt Respekt ab. Insbesondere die Studie Mlynarczyks kommt einem „Gesamtbild“ des Besatzungsalltags nahe, wobei es sich immer nur um eine Annäherung handeln kann. Damit ist aber auch ein besorgniserregender Trend verbunden: Arbeiten zu dem in den europäischen Archiven gut dokumentierten Thema sind im Rahmen einer „normalen“ Dissertation kaum noch zu bewältigen, zumal den enorm gewachsenen Ansprüchen des Forschungsstandes entsprochen werden muss. Der Einzelne versinkt in einer Flut von Quellen und Literatur und muss das Thema entweder – für die erfolgreiche Profilierung auf dem „Markt“ – bis zur Bedeutungslosigkeit beschneiden oder aber jahrelange Arbeit in Kauf nehmen. Das ist ohne ein gehöriges Maß an Enthusiasmus kaum möglich, und auch dafür ist den Autoren zu danken.

Anmerkungen:
1 Musial, Bogdan, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939-1944, Wiesbaden 1999; Pohl, Dieter, Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939-1944, Frankfurt am Main 1993; ders., Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941-1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996; Sandkühler, Thomas, „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941, Bonn 1996; Alberti, Michael, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939-1945, Wiesbaden 2006.
2 Jüngst Löw, Andrea, Juden im Ghetto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006.
3 Jüngst auch Weinstein, Frederick, Aufzeichnungen aus dem Versteck. Erlebnisse eines polnischen Juden 1939-1946. Hrsg. und mit einem Kommentar versehen von Barbara Schieb und Martina Voigt. Aus dem Polnischen übersetzt von Jolanta Wozniak-Kreutzer, Berlin 2006.

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