J. v. Hoegen: Der Held von Tannenberg

Cover
Titel
Der Held von Tannenberg. Genese und Funktion des Hindenburg-Mythos (1914-1934)


Autor(en)
Hoegen, Jesko von
Reihe
Stuttgarter Historische Forschungen, Bd. 4
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
475 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Föllmer, School of History, University of Leeds

Seit den 1980er-Jahren ist die mythische Qualität der deutschen Politik zwischen spätem 19. Jahrhundert und Zweitem Weltkrieg zu einem wichtigen Gegenstand der historischen Forschung geworden. Verschiedene Autoren haben gezeigt, wie Ereignisse (August 1914) und tote oder lebende Politiker (Otto von Bismarck, Adolf Hitler) von den Zeitgenossen zu Mythen erhoben wurden, um eine nationale Gemeinschaft zu stiften und ihre Dynamik aufrechtzuerhalten. Die einschlägigen Studien weisen auf ein Zusammenspiel von geschickter Inszenierung durch interessierte Kreise und populären Deutungsbedürfnissen in einer Zeit politischer Antagonismen und gesellschaftlicher Umbrüche hin.1 Es liegt nahe, diesen Ansatz auch auf Paul von Hindenburg zu übertragen, dessen Popularität und spätere politische Karriere sich auch beim besten Willen nicht mit seinen Leistungen erklären lassen. Mit der im Kontext von Wolfram Pytas Beschäftigung mit Hindenburg2 entstandenen, an einige Vorarbeiten anderer Historiker3 anschließenden Dissertation Jesko von Hoegens liegt nun die längst fällige Monographie zur Mythisierung des „Helden von Tannenberg“ vor.

Ausgangspunkt der Darstellung ist der September 1914, als unter dem Kommando Ludendorffs und des reaktivierten Pensionärs Hindenburg der russische Vormarsch in Ostpreußen aufgehalten wurde. Zu einer einzigen „Schlacht von Tannenberg“ verdichtet, symbolisierten die Ereignisse die Erleichterung der Deutschen angesichts der gerade noch verhinderten bzw. zurückgeschlagenen „asiatischen“ Invasion. Die polarisierte, generell mythenbedürftige wilhelminische Gesellschaft konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf den die Kontinuität zur Reichsgründungszeit verkörpernden, den Generationskonflikt seit der Jahrhundertwende großväterlich überspringenden Hindenburg. Dem bejahrten General wurden zahlreiche Artikel, Gedichte und Lieder gewidmet. Man schrieb ihm überragende Krisenlösungskapazitäten zu, während die selten gewordenen Eigenschaften Pflichtbewusstsein, Nervenstärke und Gottvertrauen Sicherheit und Stetigkeit versprachen. Auch in den folgenden Jahren ermöglichte es der neue Mythos, den technisierten Massenkrieg positiv zu personalisieren. Kriegsberichterstatter und Porträtmaler trugen dazu ebenso bei wie Hindenburg selbst, der der Kultivierung seines Images viel Zeit und Geschick widmete.

Mit zunehmender Dauer des Krieges wurden Hindenburg über weltanschauliche Grenzen hinweg – mit der wichtigen Ausnahme der sozialdemokratischen Arbeiterschaft – politische statt bloß militärische Führungsqualitäten zugetraut. Wie Bismarck symbolisierte und versprach er die Einheit der Deutschen, und zwar auch noch dann, als sich der „Burgfrieden“ längst verflüchtigt hatte. Der Hindenburgmythos war keine Barriere gegen Arbeitskonflikte, zunehmende Verweigerung der Soldaten und schließlich die Revolution, überlebte sie jedoch ebenso wie die militärische Niederlage, die statt dessen Ludendorff angelastet oder mit dem „Dolchstoß“ erklärt wurde.

1925 gelang es der Rechten, Hindenburg zur Präsidentschaftskandidatur zu bewegen und sich seinen Mythos zu Nutze zu machen. Nach seiner Wahl wurde der „Held von Tannenberg“ überwiegend nicht als Repräsentant der Republik, sondern nach wie vor als Symbol von Deutschlands Einheit und Größe gesehen, was „die Entwicklung einer eigenständigen republikanischen Staatsmythologie“ blockierte (S. 432). Vor diesem Hintergrund ließ er sich in den frühen 1930er-Jahren nicht dauerhaft gegen den “böhmischen Gefreiten“ Hitler einsetzen, sondern förderte die Erwartung einer Synthese zwischen beiden symbolischen Polen, die den Nationalsozialisten zu Gute kam. 1933 inszenierten sie gekonnt den „Tag von Potsdam“ sowie verschiedene weitere gemeinsame Auftritte, vereinnahmten damit den Hindenburg-Mythos und nutzten ihn noch nach dem Tod des Reichspräsidenten zur Legitimation ihrer Politik. Aufgrund seiner Nähe zur Symbolik des Dritten Reiches ließ sich der Mythos des „Helden von Tannenberg“ nach 1945 nicht mehr reaktivieren.

Das alles ist nicht grundsätzlich neu, aber Jesko von Hoegen arbeitet es auf solider empirischer Grundlage, interpretatorisch überzeugend und in gut lesbarer Form heraus und präsentiert dabei verschiedentlich interessante Befunde und Überlegungen. In der Kontextualisierung des Hindenburg-Mythos‘ und der Rekonstruktion seiner politischen Wirkungen ist das Buch stellenweise vorzüglich. Zu kritisieren ist allerdings, dass ein wichtiger Zusammenhang nur gestreift, aber nicht behandelt wird. Seit Jürgen Falters Forschungen ist bekannt, dass die Wähler Hindenburgs bei der Präsidentschaftswahl von 1925 sieben Jahre später ganz überwiegend für Hitler optierten. Aufgrund dieser „nahezu totalen Umkehrung der Wählerkoalition"4 stellt sich die Frage, ob Hindenburgs persönliche Anziehungskraft wirklich so groß gewesen sein kann bzw. warum sie so schnell nachließ. Die vom Verfasser beschriebenen nationalsozialistischen Demontierungsversuche allein können das schwerlich erklären. Aus Studien zum Nationalismus in der Weimarer Republik – die sich ebenso wenig im Literaturverzeichnis finden wie Falters Arbeiten – ergibt sich das Bild einer breiten Welle der Mobilisierung mit variablen Referenzpunkten, deren Träger Mitte der 1920er-Jahre Hindenburg als Symbol der Einheit feierten, sich aber in den frühen 1930er-Jahren einer dynamischeren und radikaleren Führerfigur zuwandten.5 Dieselben Wähler mögen 1933, als ihnen angesichts des Gewaltpotenzials der SA mulmig geworden war, die Versöhnungsgesten zwischen Hitler und Hindenburg mit Erleichterung aufgenommen haben.

Dieser Einwand verweist auf mögliche Grenzen des Hindenburgmythos, doch soll er keineswegs die Leistung schmälern, die in seiner genauen Rekonstruktion und kompetenten Einordnung liegt. Jesko von Hoegen hat eine gelungene Monographie zu einem wichtigen Aspekt der politischen Kulturgeschichte Deutschlands zwischen Weltkrieg und Nationalsozialismus geschrieben.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Verhey, Jeffrey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000; Hardtwig, Wolfgang, Der Bismarck-Mythos. Gestalt und Funktionieren zwischen politischer Öffentlichkeit und Wissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2005, S. 61-90; Gerwarth, Robert, The Bismarck Myth. Weimar Germany and the Legacy of the Iron Chancellor, Oxford 2005; Kershaw, Ian, Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart 1987.
2 Pyta, Wolfram, Paul von Hindenburg als charismatischer Führer der deutschen Nation, in: Möller, Frank (Hrsg.), Charismatische Führer der deutschen Nation, München 2004, S. 109-147; umfassend ders., Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, Berlin 2007.
3 Vgl. Lehnert, Detlef, Die geschichtlichen Schattenbilder von Tannenberg. Vom Hindenburg-Mythos im Ersten Weltkrieg zum ersatzmonarchischen Identifikationssymbol in der Weimarer Republik, in: Imhof, Kurt; Schulz, Peter (Hrsg.), Medien und Krieg–Krieg in den Medien, Zürich 1995, S. 37-73; und bereits Dorpalen, Andreas, Hindenburg and the Weimar Republic, Princeton 1964, S. 9f., 75f., 284f., 465f., 482.
4 Falter, Jürgen W., Hitlers Wähler, München 1991, S. 123; vgl. auch ders., The Two Hindenburg Elections of 1925 and 1932: A Total Reversal of Voter Coalitions, in: Central European History 23 (1990), S. 225-241.
5 Vgl. u.a. Fritzsche, Peter, Wie aus Deutschen Nazis wurden, Zürich 1999; Matthiesen, Helge, Von der Massenbewegung zur Partei. Der Nationalismus in der deutschen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), S. 316-329.

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